Dienstag, 21. Juni 2016

Waldbrände und Thermalquellen



Brandgeruch liegt in der Luft. Der weiche Waldboden ist bedeckt von einer schwarzgrauen Schicht Ascheflocken. Kleinere Gehölze gibt es keine mehr. Die untere Hälfte der Kiefernstämme ist kahl und schwarz verkohlt, weiter oben sind die Nadeln gelb verfärbt. In Abständen von ein paar Schritten befinden sich seltsame Trichter im sandigen Grund, aus einigen von ihnen steigt weißer Rauch – hier schwelt entlang abgestorbener Wurzeln das Feuer noch weiter. Statt Vogelgezwischer herrscht Stille. Kilometerlange, frisch aufgeworfene Gräben durchziehen das Gelände, die eine Ausbreitung der Flammen verhindern sollten, nicht immer erfolgreich: oft ist es auf beiden Seiten von ihnen schwarz. So sieht sie aus, die Taiga kurz nach einem Unterholzbrand, ein gespenstisches Bild; einige der Farbfotos, die ich mache, sehen aus wie Schwarz-Weiß-Aufnahmen.

Am Wochenende besuchte ich drei heiße Quellen am Nordende des Bargusin-Tales, Allinskij Arschán, Kutschergé und Umché, bekannte, auf meiner Karte gesondert ausgewiesene Orte, wo schwefel- oder radonhaltiges Wasser aus der Erde tritt und die Leute zum Heilen verschiedener Krankheiten anreisen. Ausgangspunkt meiner Tour war das Dorf Allá. Álla, auf der ersten Silbe betont, ist ein häufiger russischer Vorname. Mit Betonung auf der zweiten Silbe kommt es aus der ewenkischen Sprache und bedeutet „Fisch“. Neben Burjaten wohnen hier noch einige Ewenken, ein kleines Volk, dessen Siedlungsgebiet sich über eine riesige Fläche in Sibirien erstreckt, wobei sie nirgendwo zahlreich auftreten, ursprünglich Jäger und Sammler, heute mit weitgehend an die Zivilisation angepasster Lebensweise. 

Das Panorama des Bargusin-Bergrückens liegt in weißem Waldbrand-Dunst verborgen, es ist sonnig und heiß. Am Ufer des Flusses Alla, der durch eine wildromantische, von spitzen Felszacken gesäumte breite Schlucht dahinrauscht, steht eine kleine Holzhütte, um die herum – anscheinend später hinzugekommen – noch eine Betonwand hochgezogen wurde. Durch eine kleine, fleckige Tür betritt man einen dunklen Raum. Durch das kleine Fenster einfallendes Licht erhellt ein etwa anderthalb mal anderthalb Meter großes, wassergefülltes, nicht tiefes Becken, in das eine kleine Holzleiter hinabführt. Es riecht eigenartig und intensiv nach Schwefel – hier ist der Arschan, das burjatische Wort für heiße Quelle, so heiß, das man sich langsam und gerade so hineintraut, länger als drei Minuten sollte man nicht verweilen.

Sieben Kilometer Rückweg ins Dorf über eine weite, locker mit Kiefern, Birken und Pappeln bestandene Ebene entlang einer für Geländewagen befahrbare Sandpiste. Lilien in grell-orangenem Farbton erfreuen den Blick. Ich fühle mich leicht und beschwingt und steuere eine Stupa an, eines jener von Weitem weiß strahlenden, würfelartigen buddhistischen Heiligtümer, die man in der burjatischen Landschaft öfters findet. Die Stupa ist offensichtlich noch im Bau, ein jüngerer Burjate ist mit Schleifarbeiten beschäftigt an Ornamenten , die aussehen wie aus Gips oder aus Stein gehauen – bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass es eine Art lackierte Glaswolle ist. Der Handwerker freut sich über eine Abwechslung und lädt mich zum Tee aus seiner Thermoskanne ein. Er hat an der gleichen Uni Sprachen studiert, an der ich arbeite. Eigentlich, meint er, ist der Buddhismus in Burjatien eine sehr volksnahe Angelegenheit. Man macht seine Runde durch den Dazan, verbeugt sich und gibt dem Lama etwas Geld für den einen oder anderen guten Rat. Meditation und Spiritualität, Suche nach dem inneren Frieden, Erreichen des Nirvanas? Der Burjate schüttelt den Kopf: Das denkt ihr euch im Westen so und das gibt es sicher auch irgendwo. Aber gewöhnlich ist es ganz pragmatisch und mit dem Schamanismus vermischt, die Leute wissen selber nicht viel über ihren Glauben. An bestimmten Orten muss man eben bestimmte Dinge tun, zum Beispiel anhalten und eine Münze opfern, oder wenigstens während der Fahrt ein Reiskorn aus dem Fenster werfen.

Am Straßenrand hinter dem Ortsausgangsschild von Allá: ein dicker Toyota-Jeep reagiert auf meinen ausgestreckten Arm und hält an, das Fenster wird heruntergekurbelt, ein dickliches Gesicht mustert mich geringschätzig. Nehmen Sie mich mit nach Uljunchan? – Wir fahren nach Umché. – Das passt auch, da komme ich gern mit. – Zögern, dann die Frage: Woher kommen Sie überhaupt? – Aus Deutschland. – Breites, entspanntes Grinsen. Los, steig ein!

Ich finde mich neben vier älteren, beleibten Männern mit speckig glänzenden Wangen wieder, wichtige Politiker, Vertreter verschiedener Regionen Burjatiens, die anlässlich eines Sportereignisses nach Kurumkan angereist sind und sich nun einen Abendausflug gönnen. Meine Herkunft finden alle interessant. Ich war 1984 für anderthalb Monate in Leipzig, erzählt der Fahrer, der einzige im Auto ohne Alkoholfahne, dort haben wir den Stadtteil Grünau aufgebaut, im Rahmen des sozialistischen Jugendaustausches. Meine Oma wohnt dort!, bemerke ich erfreut. Deutschland, was für ein tolles Land, schwärmt er weiter, eine unglaubliche Informationsdichte: in 5 km abbiegen, in 2 km, in 500 m, in 100 m, jetzt. Man kann unmöglich einen Ort nicht finden! Naja, wenn es nur eine Straße gibt wie hier, dann reicht auch ein Schild: Kurumkan 400 Kilometer, scherze ich. Was ist das eigentlich für ein komisches Gesetz, „Betreten des Waldes verboten“, frage ich, die Gelegenheit nutzend, mit Politikern im Gespräch zu sein. Wald ist doch hier praktisch überall. Wo beginnt er denn genau? Ganze Dörfer liegen doch im Wald? Röhrendes Lachen als Antwort. Keine Ahnung, das ist Russland, irgendjemand denkt sich sowas aus, um an den Strafen zu verdienen! Plötzliches Bremsen, wir sind an einem Burchán, einem heiligen Ort mit Fähnchen in den Bäumen und Holzbänkchen. Ehe ich mich umschauen kann, steht die Wodkaflasche auf dem Tisch und jeder hat ein gefülltes Gläschen in der Hand. Zuerst werden ein paar Tropfen mit den Fingern in die Luft geschnippt als Opfergabe für die Geister, dann das übliche rituelle Herunterkippen. Wahrscheinlich besteht euer Opfer in der eigenen Leber, denke ich und schütte mein Glas unauffällig in den Staub.

Die Besonderheit von Umché – ganz am nördlichen Talende im Wald gelegen – besteht darin, dass die Heilquelle einen kleinen warmen See bildet, in dem man richtig baden kann. An einigen Stellen ist der schlammige Grund so heiß, dass es unmöglich ist zu stehen. Nach Zeltübernachtung im Wald nehme ich ein morgendliches Heilbad und will gerade aufbrechen, als mich ein junger Mann zum Frühstück in eine der Ferienhütten einlädt. Während ich die angebotenen Schnellkochnudeln kaue und mein Blick über eine halbvolle Wodkaflasche und herumstehende Abendbrot-Reste vom Vortag schweift, bereue ich, die Einladung angenommen zu haben. Mein Gastgeber gehört zu jener Sorte irgendwie primitiver, versoffener junger russischen Männer, deren Kontakt ich überhaupt nicht suche. Umso erstaunlicher dann jedes Mal wieder, zu sehen, in Begleitung welch schöner, angenehm auftretender Frauen diese Typen unterwegs sind. Die russische Gesellschaft ruht auf den Schultern des weiblichen Geschlechts, sagt man nicht umsonst – mit der Männerwelt ist irgendetwas nicht ganz in Ordnung.

An verschiedenen Stellen tritt das heiße, heilende Wasser in Kutschergé aus der Erde, eine Reihe von Holzhütten ist darüber errichtet, in denen man Bäder nehmen kann, sortiert nach Temperatur – lauwarme, warme und heiße. Ich laufe den Hang hinauf und genieße den Ausblick über das Nordende des Bargusin-Tales. In der Ferne steigt weißer Rauch über dem Wald auf. Plötzlich beginnt es zu regnen, ein sich immer mehr verdichtendes Nieseln – endlich, darauf haben Mensch und Natur seit Wochen, wenn nicht Monaten gewartet.

Die letzte Etappe meines Ausfluges, zurück nach Ulan-Ude, wieder per Anhalter. Ein Geländewagen hält an. Geld haben Sie dabei? Ja, meine ich, 400 Rubel könne ich zahlen für die Strecke - noch länger im Nieselregen zu stehen und auf eine kostenlose Gelegenheit zu warten war gerade nicht nach meinem Geschmack. Und Dokumente? Zeigen Sie mal Ihren Pass. Ich bin etwas verwirrt. Deutscher Tourist, gebe ich zur Antwort, arbeite jetzt in Ulan-Ude… Das kann jeder sagen, schnarrt die Stimme hinter dem Lenkrad, als ehemaliger Polizeibeamter prüfe ich genau, alles muss seine Ordnung haben. Wer weiß, was Sie für ein Vagabund sind. Also, Ihr Pass…? Ein Blick auf meinen EU-Reisepass von außen genügt dann schon, der Ton des pensionierten Milizionärs mildert sich, und drei Stunden später bin ich zuhause.

Die Taiga nach dem Unterholzbrand (Farbfoto!). Aus einigen Löchern steigt noch Rauch (oben), Gräben sollten eine Ausbreitung der Flammen verhindern (unten)
Die Thermalquelle bei Allá. Vor dem Besuch wird den Geistern etwas geopfert: Münzen oder Zigaretten
Tal des Flusses Allá. Die Berge des Bargusin-Rückens verschwimmen im Brand-Nebel
Die sich im Bau befindliche Stupa (oben). "Betreten des Waldes verboten" (unten), im Hintergrund der Dazan Janzhimá