Brandgeruch liegt in der Luft.
Der weiche Waldboden ist bedeckt von einer schwarzgrauen Schicht Ascheflocken.
Kleinere Gehölze gibt es keine mehr. Die untere Hälfte der Kiefernstämme ist
kahl und schwarz verkohlt, weiter oben sind die Nadeln gelb verfärbt. In
Abständen von ein paar Schritten befinden sich seltsame Trichter im sandigen
Grund, aus einigen von ihnen steigt weißer Rauch – hier schwelt entlang
abgestorbener Wurzeln das Feuer noch weiter. Statt Vogelgezwischer herrscht
Stille. Kilometerlange, frisch aufgeworfene Gräben durchziehen das Gelände, die
eine Ausbreitung der Flammen verhindern sollten, nicht immer erfolgreich: oft
ist es auf beiden Seiten von ihnen schwarz. So sieht sie aus, die Taiga kurz
nach einem Unterholzbrand, ein gespenstisches Bild; einige der Farbfotos, die
ich mache, sehen aus wie Schwarz-Weiß-Aufnahmen.
Am Wochenende besuchte ich drei
heiße Quellen am Nordende des Bargusin-Tales, Allinskij Arschán, Kutschergé
und Umché, bekannte, auf meiner Karte
gesondert ausgewiesene Orte, wo schwefel- oder radonhaltiges Wasser aus der
Erde tritt und die Leute zum Heilen verschiedener Krankheiten anreisen.
Ausgangspunkt meiner Tour war das Dorf Allá. Álla, auf der ersten Silbe betont,
ist ein häufiger russischer Vorname. Mit Betonung auf der zweiten Silbe kommt
es aus der ewenkischen Sprache und bedeutet „Fisch“. Neben Burjaten wohnen hier
noch einige Ewenken, ein kleines Volk, dessen Siedlungsgebiet sich über eine
riesige Fläche in Sibirien erstreckt, wobei sie nirgendwo zahlreich auftreten,
ursprünglich Jäger und Sammler, heute mit weitgehend an die Zivilisation angepasster
Lebensweise.
Das Panorama des
Bargusin-Bergrückens liegt in weißem Waldbrand-Dunst verborgen, es ist sonnig
und heiß. Am Ufer des Flusses Alla, der durch eine wildromantische, von spitzen
Felszacken gesäumte breite Schlucht dahinrauscht, steht eine kleine Holzhütte,
um die herum – anscheinend später hinzugekommen – noch eine Betonwand
hochgezogen wurde. Durch eine kleine, fleckige Tür betritt man einen dunklen
Raum. Durch das kleine Fenster einfallendes Licht erhellt ein etwa anderthalb
mal anderthalb Meter großes, wassergefülltes, nicht tiefes Becken, in das eine
kleine Holzleiter hinabführt. Es riecht eigenartig und intensiv nach Schwefel –
hier ist der Arschan, das burjatische
Wort für heiße Quelle, so heiß, das man sich langsam und gerade so hineintraut,
länger als drei Minuten sollte man nicht verweilen.
Sieben Kilometer Rückweg ins Dorf
über eine weite, locker mit Kiefern, Birken und Pappeln bestandene Ebene
entlang einer für Geländewagen befahrbare Sandpiste. Lilien in grell-orangenem
Farbton erfreuen den Blick. Ich fühle mich leicht und beschwingt und steuere
eine Stupa an, eines jener von Weitem weiß strahlenden, würfelartigen buddhistischen
Heiligtümer, die man in der burjatischen Landschaft öfters findet. Die Stupa
ist offensichtlich noch im Bau, ein jüngerer Burjate ist mit Schleifarbeiten beschäftigt
an Ornamenten , die aussehen wie aus Gips oder aus Stein gehauen – bei näherem
Hinsehen stellt sich heraus, dass es eine Art lackierte Glaswolle ist. Der
Handwerker freut sich über eine Abwechslung und lädt mich zum Tee aus seiner
Thermoskanne ein. Er hat an der gleichen Uni Sprachen studiert, an der ich
arbeite. Eigentlich, meint er, ist der Buddhismus in Burjatien eine sehr
volksnahe Angelegenheit. Man macht seine Runde durch den Dazan, verbeugt sich
und gibt dem Lama etwas Geld für den einen oder anderen guten Rat. Meditation und
Spiritualität, Suche nach dem inneren Frieden, Erreichen des Nirvanas? Der
Burjate schüttelt den Kopf: Das denkt ihr euch im Westen so und das gibt es
sicher auch irgendwo. Aber gewöhnlich ist es ganz pragmatisch und mit dem
Schamanismus vermischt, die Leute wissen selber nicht viel über ihren Glauben.
An bestimmten Orten muss man eben bestimmte Dinge tun, zum Beispiel anhalten
und eine Münze opfern, oder wenigstens während der Fahrt ein Reiskorn aus dem
Fenster werfen.
Am Straßenrand hinter dem
Ortsausgangsschild von Allá: ein dicker Toyota-Jeep reagiert auf meinen
ausgestreckten Arm und hält an, das Fenster wird heruntergekurbelt, ein
dickliches Gesicht mustert mich geringschätzig. Nehmen Sie mich mit nach
Uljunchan? – Wir fahren nach Umché. – Das passt auch, da komme ich gern mit. –
Zögern, dann die Frage: Woher kommen Sie überhaupt? – Aus Deutschland. –
Breites, entspanntes Grinsen. Los, steig ein!
Ich finde mich neben vier
älteren, beleibten Männern mit speckig glänzenden Wangen wieder, wichtige
Politiker, Vertreter verschiedener Regionen Burjatiens, die anlässlich eines
Sportereignisses nach Kurumkan angereist sind und sich nun einen Abendausflug
gönnen. Meine Herkunft finden alle interessant. Ich war 1984 für anderthalb
Monate in Leipzig, erzählt der Fahrer, der einzige im Auto ohne Alkoholfahne,
dort haben wir den Stadtteil Grünau aufgebaut, im Rahmen des sozialistischen
Jugendaustausches. Meine Oma wohnt dort!, bemerke ich erfreut. Deutschland, was
für ein tolles Land, schwärmt er weiter, eine unglaubliche Informationsdichte:
in 5 km abbiegen, in 2 km, in 500 m, in 100 m, jetzt. Man kann unmöglich einen
Ort nicht finden! Naja, wenn es nur eine Straße gibt wie hier, dann reicht auch
ein Schild: Kurumkan 400 Kilometer, scherze ich. Was ist das eigentlich für ein
komisches Gesetz, „Betreten des Waldes verboten“, frage ich, die Gelegenheit
nutzend, mit Politikern im Gespräch zu sein. Wald ist doch hier praktisch
überall. Wo beginnt er denn genau? Ganze Dörfer liegen doch im Wald? Röhrendes
Lachen als Antwort. Keine Ahnung, das ist Russland, irgendjemand denkt sich
sowas aus, um an den Strafen zu verdienen! Plötzliches Bremsen, wir sind an
einem Burchán, einem heiligen Ort mit
Fähnchen in den Bäumen und Holzbänkchen. Ehe ich mich umschauen kann, steht die
Wodkaflasche auf dem Tisch und jeder hat ein gefülltes Gläschen in der Hand.
Zuerst werden ein paar Tropfen mit den Fingern in die Luft geschnippt als
Opfergabe für die Geister, dann das übliche rituelle Herunterkippen.
Wahrscheinlich besteht euer Opfer in der eigenen Leber, denke ich und schütte
mein Glas unauffällig in den Staub.
Die Besonderheit von Umché – ganz am nördlichen Talende im
Wald gelegen – besteht darin, dass die Heilquelle einen kleinen warmen See
bildet, in dem man richtig baden kann. An einigen Stellen ist der schlammige
Grund so heiß, dass es unmöglich ist zu stehen. Nach Zeltübernachtung im Wald
nehme ich ein morgendliches Heilbad und will gerade aufbrechen, als mich ein
junger Mann zum Frühstück in eine der Ferienhütten einlädt. Während ich die
angebotenen Schnellkochnudeln kaue und mein Blick über eine halbvolle
Wodkaflasche und herumstehende Abendbrot-Reste vom Vortag schweift, bereue ich,
die Einladung angenommen zu haben. Mein Gastgeber gehört zu jener Sorte
irgendwie primitiver, versoffener junger russischen Männer, deren Kontakt ich
überhaupt nicht suche. Umso erstaunlicher dann jedes Mal wieder, zu sehen, in
Begleitung welch schöner, angenehm auftretender Frauen diese Typen unterwegs
sind. Die russische Gesellschaft ruht auf den Schultern des weiblichen
Geschlechts, sagt man nicht umsonst – mit der Männerwelt ist irgendetwas nicht
ganz in Ordnung.
An verschiedenen Stellen tritt
das heiße, heilende Wasser in Kutschergé
aus der Erde, eine Reihe von Holzhütten ist darüber errichtet, in denen man
Bäder nehmen kann, sortiert nach Temperatur – lauwarme, warme und heiße. Ich
laufe den Hang hinauf und genieße den Ausblick über das Nordende des
Bargusin-Tales. In der Ferne steigt weißer Rauch über dem Wald auf. Plötzlich
beginnt es zu regnen, ein sich immer mehr verdichtendes Nieseln – endlich,
darauf haben Mensch und Natur seit Wochen, wenn nicht Monaten gewartet.
Die letzte Etappe meines
Ausfluges, zurück nach Ulan-Ude, wieder per Anhalter. Ein Geländewagen hält an.
Geld haben Sie dabei? Ja, meine ich, 400 Rubel könne ich zahlen für die Strecke
- noch länger im Nieselregen zu stehen und auf eine kostenlose Gelegenheit zu
warten war gerade nicht nach meinem Geschmack. Und Dokumente? Zeigen Sie mal
Ihren Pass. Ich bin etwas verwirrt. Deutscher Tourist, gebe ich zur Antwort,
arbeite jetzt in Ulan-Ude… Das kann jeder sagen, schnarrt die Stimme hinter dem
Lenkrad, als ehemaliger Polizeibeamter prüfe ich genau, alles muss seine
Ordnung haben. Wer weiß, was Sie für ein Vagabund sind. Also, Ihr Pass…? Ein
Blick auf meinen EU-Reisepass von außen genügt dann schon, der Ton des
pensionierten Milizionärs mildert sich, und drei Stunden später bin ich
zuhause.
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Die Taiga nach dem Unterholzbrand (Farbfoto!). Aus einigen Löchern steigt noch Rauch (oben), Gräben sollten eine Ausbreitung der Flammen verhindern (unten) |
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Die Thermalquelle bei Allá. Vor dem Besuch wird den Geistern etwas geopfert: Münzen oder Zigaretten |
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Tal des Flusses Allá. Die Berge des Bargusin-Rückens verschwimmen im Brand-Nebel |
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Die sich im Bau befindliche Stupa (oben). "Betreten des Waldes verboten" (unten), im Hintergrund der Dazan Janzhimá |