In der letzten Zeit hatte ich den
Eindruck, an der Grenze meiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit zu
sein, geschafft vom Arbeitsalltag, des ständigen Redens mit Studenten und Kollegen müde. Am letzten Wochenende schaltete ich mein Handy aus, setzte mich in einen
Bus und fuhr 6 Stunden nach Norden, in die Siedlung Kurumkan, gelegen im
Bargusin-Tal nordöstlich des Baikalsees.
Das Bargusin-Tal, 200 Kilometer
lang und bis zu 30 Kilometer breit, ist ein besonderer Ort. Umgeben von drei
Seiten von zweieinhalb Kilometer hohen Bergen, kann man es nur auf einer
einzigen Straße vom Süden her erreichen. Der schroffe Bargusin-Rücken trennt es
im Westen vom Baikalsee, beeindruckende felsige Zacken, die mich an den
Kaukasus erinnerten. Der 5000-Einwohner-Ort Kurumkan, zweitgrößte Siedlung des
Tals, liegt wunderschön zu Füßen dieser Berge. Auch hier natürlich: ein
Siegesdenkmal und ein Lenin-Exemplar, silbergrau gestrichen. Im Hotel neben
diesem nahm ich ein Zimmer und schlief den Stress der Arbeitswoche aus.
Auf meinen Spaziergängen durch
die Siedlungen ergeben sich immer wieder Gelegenheiten zu Begegnungen, die ich
nicht wahrnehme. Etwa, wenn ein junger Mann aus seinem Haus kommt und mich
fragt, was ich denn da fotografiere, ich möglichst akzentfrei die knappest
mögliche Antwort gebe und schnell weitergehe. Hinterher bereue ich es meistens:
warum habe ich kein Gespräch riskiert? Weil mir die Person nicht
vertrauenswürdig genug erschien? Ich mich nicht als Deutscher zu erkennen geben
wollte? Unsinn, eine vertane Chance.
Eine der besten Möglichkeiten,
Einheimische kennenzulernen, ist am Steuer. Wer einen Tramper mitnimmt, will
sich auch meistens unterhalten. Manchmal stehe ich eine Stunde am Straßenrand,
ehe mich jemand aufsammelt – nicht weiter verwunderlich, wenn überhaupt nur
drei Autos in dieser Zeit vorbeifahren. In fünf kleinen Etappen trampte ich am
zweiten Tag von Kurumkan aus nach Süden, meistens mit ruhigen Burjaten, eher
einfache und ausgeglichen wirkende Leute, rechterhand die Berge, im linken
Fenster die Steppe, hier und da Kuhstall-Reste, Ruinen ehemaliger
Kolchos-Gebäude – die Landwirtschaft hat bessere Zeiten erlebt hier. Vor der majestätischen
Gebirgskulisse lagen wie Perlen in der Landschaft buddhistische Dazane (Tempel) und Stupas (nicht begehbares kultisches Bauwerk), tausende in Bäume
geknotete farbige Tücher flatterten im Wind und heilige Orte, an denen man
Münzen und Lebensmittel opfert – hier mischt sich der Buddhismus wohl mit
schamanistischen Elementen. In Janzhima geriet ich zufällig in ein einer
Gottheit gewidmetes buntes Volksfest. Bogenschützen wetteiferten miteinander,
junge Männer mit nackten, braungebrannten Oberkörpern maßen ihre Kräfte im
Nationalen Ringkampf und versuchten sich gegenseitig in den Steppenstaub zu
werfen, unter Beobachtung von Juroren in wunderschönen Nationaltrachten.
Am Morgen nach meiner
Zeltübernachtung - nahe der Siedlung Uljuktschikan, neben romantischen Kiefern,
gelbem Fingerkraut und herumhüpfenden Bachstelzen – zog eine Herde weißer und
schwarzer Schafe wenige Meter an mir vorüber, von ihren begleitenden Hunden den
Berg hinauf gejagt. Hinterher lief gemütlichen Schrittes der Herr der Herde,
der sich natürlich dafür interessierte, wer sein Zelt in sein Weidegebiet
aufgestellt hatte und sich mir stolz als Vater von zehn Kindern vorstellte,
„davon vier internationale Sportmeister“. Körperliche Kraft und
Geschicklichkeit scheinen eine große Rolle zu spielen hier, die Prioritäten im
Leben sind anders als bei den zivilisationsverwöhnten Städtern.
Die zweite Zeltnacht verbrachte
ich am Baikal-Ufer nahe der Mündung des Flusses Bargusin, dessen Wasser längst offen
majestätisch dahinströmen, während der See noch überwiegend eisbedeckt ist. Am
nächsten Tag stand ich geschlagene zwei Stunden am Straßenrand, bis mich ein
Lkw mit Richtung Ulan-Ude nahm. Der junge Mann am Steuer machte einen ziemlich
fertigen Eindruck. Wir begrüßten uns per Handschlag, Sascha, Thomas, sehr
angenehm, ich beantwortete die üblichen Fragen über meine Person. Zu meinem
großen Entsetzen holte Sascha eine Dose Bier hervor und begann zu trinken,
während er seinen Kamaz, einen leeren
Holztransporter, über die holprige, nicht asphaltierte Piste durch die
menschenleere Taiga steuerte.
„Ist das nicht gefährlich, Bier
am Steuer?“ fragte ich vorsichtig nach einer Weile.
Sascha nickte bestätigend. „Ja,
sehr gefährlich“, meinte er und nahm einen großen Schluck. „Weißt du, wie ich
es satt habe, hier von früh bis spät Holz zu fahren? Auf diesen verdammten
kaputten Straßen! Holz und Fischerei, Holz und Fischerei, was anderes gibt’s hier
nicht. Und das Fischen wird auch ab Herbst verboten, um die Bestände zu
schonen.“ Ich bemitleidete den jungen Mann in seiner Perspektivlosigkeit, war
aber auch ein wenig um mein Leben besorgt und froh, als die Fahrt in Maximicha
zu Ende war, wo ich in einen Linienbus umstieg, der mich in die Stadt brachte –
gerade noch rechtzeitig zur nachmittäglichen Chorprobe.
Kurumkan Buddhistischer Tempel vor der Kulisse des Bargusin-Bergrückens |
Die Landwirtschaft hat bessere Zeiten erlebt Ruine eines Getreidespeichers (?) |
Eine Stupa (oben), Gebetsfahnen und Lebensmittelopfer an heiligen Orten im Wald (unten) |
Nationaler Ringkampf und Bogenschützen beim Burjatischen Volksfest in Janzhima |
Hier soll mein Zelt stehen! Entschluss (oben) und Ausführung (unten) |
Die Sonne verschwindet hinter dem Bargusin-Rücken |
![]() |
Mit dem stolzen 10fachen Vater |
Gibt es einen schöneren Zeltplatz? An der Baikal-Küste vor dem Hintergrund der Heiligen Nase |