Mittwoch, 4. Mai 2016

Kurumkan



In der letzten Zeit hatte ich den Eindruck, an der Grenze meiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit zu sein, geschafft vom Arbeitsalltag, des ständigen Redens mit Studenten und Kollegen müde. Am letzten Wochenende schaltete ich mein Handy aus, setzte mich in einen Bus und fuhr 6 Stunden nach Norden, in die Siedlung Kurumkan, gelegen im Bargusin-Tal nordöstlich des Baikalsees.

Das Bargusin-Tal, 200 Kilometer lang und bis zu 30 Kilometer breit, ist ein besonderer Ort. Umgeben von drei Seiten von zweieinhalb Kilometer hohen Bergen, kann man es nur auf einer einzigen Straße vom Süden her erreichen. Der schroffe Bargusin-Rücken trennt es im Westen vom Baikalsee, beeindruckende felsige Zacken, die mich an den Kaukasus erinnerten. Der 5000-Einwohner-Ort Kurumkan, zweitgrößte Siedlung des Tals, liegt wunderschön zu Füßen dieser Berge. Auch hier natürlich: ein Siegesdenkmal und ein Lenin-Exemplar, silbergrau gestrichen. Im Hotel neben diesem nahm ich ein Zimmer und schlief den Stress der Arbeitswoche aus.
Auf meinen Spaziergängen durch die Siedlungen ergeben sich immer wieder Gelegenheiten zu Begegnungen, die ich nicht wahrnehme. Etwa, wenn ein junger Mann aus seinem Haus kommt und mich fragt, was ich denn da fotografiere, ich möglichst akzentfrei die knappest mögliche Antwort gebe und schnell weitergehe. Hinterher bereue ich es meistens: warum habe ich kein Gespräch riskiert? Weil mir die Person nicht vertrauenswürdig genug erschien? Ich mich nicht als Deutscher zu erkennen geben wollte? Unsinn, eine vertane Chance.
Eine der besten Möglichkeiten, Einheimische kennenzulernen, ist am Steuer. Wer einen Tramper mitnimmt, will sich auch meistens unterhalten. Manchmal stehe ich eine Stunde am Straßenrand, ehe mich jemand aufsammelt – nicht weiter verwunderlich, wenn überhaupt nur drei Autos in dieser Zeit vorbeifahren. In fünf kleinen Etappen trampte ich am zweiten Tag von Kurumkan aus nach Süden, meistens mit ruhigen Burjaten, eher einfache und ausgeglichen wirkende Leute, rechterhand die Berge, im linken Fenster die Steppe, hier und da Kuhstall-Reste, Ruinen ehemaliger Kolchos-Gebäude – die Landwirtschaft hat bessere Zeiten erlebt hier. Vor der majestätischen Gebirgskulisse lagen wie Perlen in der Landschaft buddhistische Dazane (Tempel) und Stupas (nicht begehbares kultisches Bauwerk), tausende in Bäume geknotete farbige Tücher flatterten im Wind und heilige Orte, an denen man Münzen und Lebensmittel opfert – hier mischt sich der Buddhismus wohl mit schamanistischen Elementen. In Janzhima geriet ich zufällig in ein einer Gottheit gewidmetes buntes Volksfest. Bogenschützen wetteiferten miteinander, junge Männer mit nackten, braungebrannten Oberkörpern maßen ihre Kräfte im Nationalen Ringkampf und versuchten sich gegenseitig in den Steppenstaub zu werfen, unter Beobachtung von Juroren in wunderschönen Nationaltrachten.

Am Morgen nach meiner Zeltübernachtung - nahe der Siedlung Uljuktschikan, neben romantischen Kiefern, gelbem Fingerkraut und herumhüpfenden Bachstelzen – zog eine Herde weißer und schwarzer Schafe wenige Meter an mir vorüber, von ihren begleitenden Hunden den Berg hinauf gejagt. Hinterher lief gemütlichen Schrittes der Herr der Herde, der sich natürlich dafür interessierte, wer sein Zelt in sein Weidegebiet aufgestellt hatte und sich mir stolz als Vater von zehn Kindern vorstellte, „davon vier internationale Sportmeister“. Körperliche Kraft und Geschicklichkeit scheinen eine große Rolle zu spielen hier, die Prioritäten im Leben sind anders als bei den zivilisationsverwöhnten Städtern. 

Die zweite Zeltnacht verbrachte ich am Baikal-Ufer nahe der Mündung des Flusses Bargusin, dessen Wasser längst offen majestätisch dahinströmen, während der See noch überwiegend eisbedeckt ist. Am nächsten Tag stand ich geschlagene zwei Stunden am Straßenrand, bis mich ein Lkw mit Richtung Ulan-Ude nahm. Der junge Mann am Steuer machte einen ziemlich fertigen Eindruck. Wir begrüßten uns per Handschlag, Sascha, Thomas, sehr angenehm, ich beantwortete die üblichen Fragen über meine Person. Zu meinem großen Entsetzen holte Sascha eine Dose Bier hervor und begann zu trinken, während er seinen Kamaz, einen leeren Holztransporter, über die holprige, nicht asphaltierte Piste durch die menschenleere Taiga steuerte.
„Ist das nicht gefährlich, Bier am Steuer?“ fragte ich vorsichtig nach einer Weile.
Sascha nickte bestätigend. „Ja, sehr gefährlich“, meinte er und nahm einen großen Schluck. „Weißt du, wie ich es satt habe, hier von früh bis spät Holz zu fahren? Auf diesen verdammten kaputten Straßen! Holz und Fischerei, Holz und Fischerei, was anderes gibt’s hier nicht. Und das Fischen wird auch ab Herbst verboten, um die Bestände zu schonen.“ Ich bemitleidete den jungen Mann in seiner Perspektivlosigkeit, war aber auch ein wenig um mein Leben besorgt und froh, als die Fahrt in Maximicha zu Ende war, wo ich in einen Linienbus umstieg, der mich in die Stadt brachte – gerade noch rechtzeitig zur nachmittäglichen Chorprobe.

Kurumkan Buddhistischer Tempel vor der Kulisse des Bargusin-Bergrückens

Die Landwirtschaft hat bessere Zeiten erlebt Ruine eines Getreidespeichers (?)
Eine Stupa (oben), Gebetsfahnen und Lebensmittelopfer an heiligen Orten im Wald (unten)
Nationaler Ringkampf und Bogenschützen beim Burjatischen Volksfest in Janzhima
Hier soll mein Zelt stehen! Entschluss (oben) und Ausführung (unten)
Die Sonne verschwindet hinter dem Bargusin-Rücken
Mit dem stolzen 10fachen Vater

Gibt es einen schöneren Zeltplatz? An der Baikal-Küste vor dem Hintergrund der Heiligen Nase