Drei Uhr morgens – ausgeschlafen
und wach sitze ich am Tisch meines großen, noblen Einzelzimmers des kleinen
Hotels in der Kasaner Innenstadt. Weil Kasan am östlichen Rand der Moskauer
Zeitzone liegt, ist es draußen schon hell, mein Blick fällt auf ein kleines
vergoldetes Zwiebeltürmchen, erste Vögel beginnen zu zwitschern. Nach meiner inneren
Uhr ist es ohnehin fünf Stunden später, in Ulan-Ude wäre es jetzt acht, für
einen Morgenmenschen die allerbeste Zeit für geistige Arbeit.
Vor kurzem noch stiefelte ich
durch die staubige Steppe am Baikal, gekleidet in eine verschlissene graugrüne
Berghose und ein rustikales Leinenhemd, bemühte mich um windsicheres Abspannen
meines Zeltes und kuschelte mich bei Einbruch der Dämmerung in den
Daunenschlafsack, nach dem Zähneputzen im klaren Seewasser. Jetzt umgibt mich
das edle Flair einer luxuriösen Unterkunft zwischen Kasaner Kreml und Kasaner
Föderaler Universität. Selbstverständlich liegen in den Zimmern Näh-Set,
Schuhputzzeug und Pantoffen bereit, Tee und Kaffee stehen zur freien Bedienung
auf dem Tisch, und neben der Toilette im Bad ist ein zweites, kleineres
Klobecken… nein, in Wirklichkeit handelt es sich um ein Bidet zur bequemen Reinigung der unteren Körperhälfte, wie es in
Italien und Frankreich verbreitet ist. Bin ich überhaupt noch in Russland?
Kasan, die Hauptstadt der
Republik Tatarstan, nimmt seiner Schönheit, seines Reichtums und seiner
Bedeutung nach den dritten Platz in Russland ein, nach Moskau und St.
Petersburg ist es die dritte Hauptstadt.
In strahlendem Weiß erhebt sich die Festungsanlage des Kreml neben dem mit
vielen glänzenden Zwiebeltürmchen geschmückten historischen Zentrum, neben der
nagelneuen Uferpromenade an der majestätischen, breiten Kasanka protzt das palastartige Gebäude des tatarischen
Landwirtschaftsministeriums. Tatarstan ist eine reiche Region, die Tataren sind
der größte nicht-russische Volksstamm in Russland, beeindruckendes Zeichen
ihres islamischen Glaubens ist die Kul-Sharif-Moschee innerhalb der
Kremlmauern, die man als Tourist gerne betreten kann und soll, von einem
speziellen Balkon aus gibt es einen tollen Blick auf den Gebetsraum von oben
und auf die blaugrüne Kuppel von unten. Vom Westen wenig wahrgenommen, funktioniert
in Putins Reich das Nebeneinander verschiedener Völker und Religionen – von
Ausnahmen abgesehen – hervorragend. Als 1552 Ivan der Schreckliche Kasan
eroberte, war dies die erste nichtrussische Stadt, die er seinem Reich
einverleibte, womit die Grundlage für den heutigen Vielvölkerstaat gelegt war.
Gemeinsam mit mir sind etwa 40
weitere Deutsche angereist, die in verschiedenen Universitäten des Landes – von
Kaliningrad bis Ulan-Ude – Deutsch unterrichten und sich heute und morgen über
ihre Arbeit austauschen werden. Dann geht es wieder zurück an die Einsatzorte –
mit über sechs Flugstunden ab Moskau darf ich mich dabei des weitesten
Reiseweges rühmen.