Donnerstag, 12. Mai 2016

Kasan

Drei Uhr morgens – ausgeschlafen und wach sitze ich am Tisch meines großen, noblen Einzelzimmers des kleinen Hotels in der Kasaner Innenstadt. Weil Kasan am östlichen Rand der Moskauer Zeitzone liegt, ist es draußen schon hell, mein Blick fällt auf ein kleines vergoldetes Zwiebeltürmchen, erste Vögel beginnen zu zwitschern. Nach meiner inneren Uhr ist es ohnehin fünf Stunden später, in Ulan-Ude wäre es jetzt acht, für einen Morgenmenschen die allerbeste Zeit für geistige Arbeit.

Vor kurzem noch stiefelte ich durch die staubige Steppe am Baikal, gekleidet in eine verschlissene graugrüne Berghose und ein rustikales Leinenhemd, bemühte mich um windsicheres Abspannen meines Zeltes und kuschelte mich bei Einbruch der Dämmerung in den Daunenschlafsack, nach dem Zähneputzen im klaren Seewasser. Jetzt umgibt mich das edle Flair einer luxuriösen Unterkunft zwischen Kasaner Kreml und Kasaner Föderaler Universität. Selbstverständlich liegen in den Zimmern Näh-Set, Schuhputzzeug und Pantoffen bereit, Tee und Kaffee stehen zur freien Bedienung auf dem Tisch, und neben der Toilette im Bad ist ein zweites, kleineres Klobecken… nein, in Wirklichkeit handelt es sich um ein Bidet zur bequemen Reinigung der unteren Körperhälfte, wie es in Italien und Frankreich verbreitet ist. Bin ich überhaupt noch in Russland?

Kasan, die Hauptstadt der Republik Tatarstan, nimmt seiner Schönheit, seines Reichtums und seiner Bedeutung nach den dritten Platz in Russland ein, nach Moskau und St. Petersburg ist es die dritte Hauptstadt. In strahlendem Weiß erhebt sich die Festungsanlage des Kreml neben dem mit vielen glänzenden Zwiebeltürmchen geschmückten historischen Zentrum, neben der nagelneuen Uferpromenade an der majestätischen, breiten Kasanka protzt das palastartige Gebäude des tatarischen Landwirtschaftsministeriums. Tatarstan ist eine reiche Region, die Tataren sind der größte nicht-russische Volksstamm in Russland, beeindruckendes Zeichen ihres islamischen Glaubens ist die Kul-Sharif-Moschee innerhalb der Kremlmauern, die man als Tourist gerne betreten kann und soll, von einem speziellen Balkon aus gibt es einen tollen Blick auf den Gebetsraum von oben und auf die blaugrüne Kuppel von unten. Vom Westen wenig wahrgenommen, funktioniert in Putins Reich das Nebeneinander verschiedener Völker und Religionen – von Ausnahmen abgesehen – hervorragend. Als 1552 Ivan der Schreckliche Kasan eroberte, war dies die erste nichtrussische Stadt, die er seinem Reich einverleibte, womit die Grundlage für den heutigen Vielvölkerstaat gelegt war.

Gemeinsam mit mir sind etwa 40 weitere Deutsche angereist, die in verschiedenen Universitäten des Landes – von Kaliningrad bis Ulan-Ude – Deutsch unterrichten und sich heute und morgen über ihre Arbeit austauschen werden. Dann geht es wieder zurück an die Einsatzorte – mit über sechs Flugstunden ab Moskau darf ich mich dabei des weitesten Reiseweges rühmen.