Dienstag, 10. Mai 2016

Menschliches Moskau


Am 9. Mai tragen viele Russen eine orange-schwarz gestreifte Schleife – das Symbol zum Tag des Sieges über den Faschismus, der in diesem Jahr zum 71. Mal gefeiert wurde. Ich habe den Tag auf der Durchreise in der russischen Hauptstadt verbracht und dort meine Bekannte Mascha getroffen, burjatische Geigerin und meine langjährige Straßenmusik-Partnerin. Während ich mich abends in den Zug nach Kazan setzte, war Mascha dabei, ihre Sachen für eine Reise in die USA zu packen.

Moskau – ein Meer von seelen- und gesichtslosen Plattenbauten, grau und einförmig, dazwischen 10-spurige Straßen und riesige Gewerbezentren, trauriges Endstadium einer Entwicklung hin zu großstädtischer Anonymität und Vermassung. Doch Europas größte Stadt hat auch andere Seiten, menschliche, grüne, es gibt Ecken, die Geschichte atmen und zum Verweilen einladen. Auf dem Weg zu Mascha und ihrem Freund, dem Fagottisten Stjopa, konnte ich mich kaum sattsehen am frischen satten Grün der breiten Boulevare, die unweit der Metrostation Textilschtschiki das Wohnviertel durchkreuzen: Ahorn, weiß blühende Kastanien, Flieder und Kirschbäume, gelber Löwenzahn auf der Wiese – kein Vergleich zu Ulan-Ude, wo immer noch ein graubrauner Farbton vorherrscht und die Vegetation selbst Anfang Mai nicht richtig aus dem Winterschlaf erwacht ist. Stjopa wohnt in einer nach dem Krieg von deutschen Gefangenen erbauten Stalinka, einem viergeschossigen ockerfarbenen Gebäude mit neun Treppenaufgängen, das sich wie ein riesiges U um einen großen grünen Innenhof mit Spielplatz erstreckt. Es gibt riesige Toreinfahrten, die Treppenhäuser sind großzügig angelegt, die Wände massiv und dick, ganz anders als meine wohl 20 Jahre später entstandene Chruschtschovka in Ulan-Ude. Das Haus riecht nach Vergangenheit, die Zimmer haben einen völlig irrationalen Zuschnitt mit fetten alten Heizkörpern, im Detail ist alles schief und unregelmäßig, die Wände gehen nicht ganz senkrecht nach oben, einige der Steckdosen sind unbenutzbar, da nicht in Euro-Norm. Zu Sowjetzeiten war Stjopas Wohnung eine Kommunalka, eine Art Wohngemeinschaft mit allerdings nicht einer Person, sondern einer Familie pro Zimmer. Mir gefällt es in so einer Umgebung, vielleicht, weil es mich entfernt an das über 100 Jahre alte Haus in der Potsdamer Zeppelinstraße erinnert, in dem ich fast 10 Jahre lang gewohnt habe.

Wie üblich lieferte ich Mascha etwa ein Viertel des Inhaltes meines Reisekoffers ab – Dinge, die mir ihre Mutter für sie mitgegeben hatte – und nahm Abschied, für eine längere Zeit: Sie wird ein halbes Jahr lang auf einem US-amerikanischen Kreuzfahrtschiff im Duo gemeinsam mit einer Bratscherin die Passagiere musikalisch unterhalten. 

Bilder aus einer Moskauer Stalinka, einem Gebäude aus der späten Stalin-Zeit