Es ist erstaunlich, zu
beobachten, in welchem Tempo sich Russland in manchen Bereichen modernisiert.
Von Kasan nach Moskau bin ich zum ersten Mal mit einem doppelstöckigen Zug
gefahren, nagelneue Waggons mit zwei Etagen an geschlossenen Abteilen zu je vier Betten. Den klassischen Heißwasserkessel am Wagenanfang gab es nicht
mehr, kipjatok (kochendes Wasser)
bekommt man stattdessen aus einem Wasserspender im Zugbegleiter-Abteil.
Bei jedem Besuch in Moskau
studiere ich fasziniert den Streckenplan der Metro. Unglaublich, in welchem
Tempo sich das U-Bahn-Geflecht erweitert und verdichtet, in jedem halben Jahr
tauchen neue Stationen auf, ein sich vorwärts tastendes und verengendes
Spinnennetz in verschiedenen Farben. Zusammengehalten wird es von der braunen Ringbahn,
genannt kolzevaja linia, die
angeblich dort verläuft, wo Stalin seine Kaffeetasse auf dem Plan abstellte,
die dann dort einen braunen Rand hinterließ. Erstmals ist auf dem aktuellen
Liniennetz ein zweiter, äußerer Ring eingezeichnet – gepunktet vorerst, denn er
befindet sich noch im Bau. Es wird keine echte Metro sein, sondern eine
oberirdisch verlaufende Bahn, die die bisherige Ringbahn entlasten soll –
höchste Zeit, im Berufsverkehr ist das Gedränge dort unglaublich und
unerträglich.
Über die Moskauer Metro kann man
viel erzählen, sie ist eine Sehenswürdigkeit und Attraktion an sich. Der
ausländische Tourist bestaunt die ewig langen in die Tiefe führenden
Rolltreppen mit den Rolltreppen-Aufsichtspersonen, die in kleinen Glashäuschen
an ihren Enden sitzen und auf ordentliches Benehmen achten: rechts stehen,
links gehen. Er betrachtet die palastartig geschmückten Stationen, ist
beeindruckt vom 90-Sekunden-Takt, in welchem die Ringbahn heranrast, und wird über
die Funktion der Rinne aufgeklärt, die sich zwischen den Gleisen befindet und die
einem das Überleben ermöglicht, wenn man auf vom Bahnsteig geschubst wurde und
der Zug heranrast, bevor man dazu kommt, herauszuklettern. Eine Männerstimme
sagt die Stationen an, wenn man Richtung Zentrum fährt, eine Frauenstimme
spricht stadtauswärts. Während der Fahrt ist es so laut, dass Gespräche keinen
Spaß machen. Die Bahnsteige und Gänge der Stationen sind auf den Durchlauf
enormer Menschenmassen ausgelegt, kein Kiosk versperrt den Weg, aus Angst vor
Terroranschlägen gibt es nicht einmal Papierkörbe. Seit ihrer Eröffnung 1932
fuhr die Moskauer Metro jeden Tag – außer am 16.10.1941, als die Faschisten
kurz vor Moskau standen und sie zur Flutung vorbereitet wurde. Wem die
offenbare Wirklichkeit nicht spannend genug ist, der beschäftigt sich mit den
Gerüchten über die Metro-2, eine Art geheimes Parallelnetz, das den Kreml mit
den Flughäfen und den wichtigsten strategischen Punkten der Stadt verbinden
soll. 333 Kilometer und 200 Stationen umfasst das Netz zurzeit, zum Vergleich
Berlin: 146 Kilometer, 173 Bahnhöfe.
Es gibt nichts, was es in Moskau
nicht gibt. Wer das typische Russland sucht, Zwiebeltürme und Gemüse von der
eigenen Datsche verkaufende alte Mütterchen, der findet es, wer das junge, verwestlichte
Russland sucht, der findet es auch. Unerwartet fand ich mich dieses Mal in
einem vegetarischen Café sitzend und Brettspiele spielend wieder. Der
Brettspiel-Trend aus Deutschland ist auch in Russland angekommen, in
Fachgeschäften wie Mosigra gibt es
ein breites RAVENSBURGER-Sortiment speziell für den russischen Markt. Und wer
den dunklen Seiten der russischen Geschichte nachspüren will, der kann in
Moskau auch das.
Zu Besuch im Museum der Geschichte des GULAG, seit Oktober an einem neuen
Standort in der Nähe der Metrostation Dostojewskaja:
Eine modernes, anschauliche Ausstellung, touristenfreundlich auch auf Englisch,
mit Gegenständen aus den Lagern, Videoberichten von Zeitzeugen, detaillierten
Lageplänen aller GULAGs, die über die ganze UdSSR verteilt waren, auch in
Ulan-Ude gab es eines. Etwas verwirrt habe ich das Museum verlassen, weil ich
das Erlebte nicht zusammenbringen kann mit der in Deutschland verbreiteten
Ansicht, in Russland würde man sich nicht richtig um die Aufarbeitung der
dunklen Seite der eigenen Vergangenheit kümmern. Das GULAG-Museum wird von der
Stadt Moskau unterstützt, ein großes Denkmal für die Opfer politischer
Repressionen ist geplant, Solzhenitsyns „Archipel Gulag“ ist in den Lehrplan
der Schulen aufgenommen worden, warum meckert der Westen immer noch herum, was
kann man sich mehr wünschen?
Was man sich mehr wünschen kann,
erfuhr ich bei einem Besuch im Sacharov-Zentrum. Swoboda, steht groß an der Außenwand, Freiheit, im Garten vor dem
Haus ist ein Stück der Berliner Mauer aufgestellt. Im Sacharow-Museum hatte ich
den Eindruck, in eine Art Zentrum der russischen Oppositionsbewegung geraten zu
sein, Broschüren mit Titeln wie „So organisiere ich eine Demonstration“, „So
verhalte ich mich im Internet, um nicht vom Großen Bruder beobachtet zu
werden“, „Die Zerstörung der Zivilgesellschaft“ lagen aus. Als einziger
Besucher kam ich in den Genuss einer zweistündigen Führung durch die
Dauerausstellung, die die finsteren Seiten der Sowjetunion von ihrer Gründung
bis zu ihrem Zerfall beleuchtete. „Mit der Thematisierung des GULAG wird von den
übrigen Repressionen abgelenkt“, erfuhr ich. „Die Lager gab es bis in die 50er
Jahre, und es wird so getan, als sei ab da alles gut gewesen. Über die späteren
Repressionen schweigt man.“ Wird die Arbeit des Zentrums von der Politik
behindert? „Wir sind eher unerwünscht, stehen auf der Liste der ‚ausländischen
Agenten‘.“ Der Namensgeber der Einrichtung, Andrei Sacharov, war ein russischer
Atomphysiker – der „Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe“ – und Bürgerrechtler,
der sich zum Regimegegner entwickelt hatte und als Staatsfeind angesehen wurde,
nachdem er 1975 den Friedensnobelpreis bekommen hatte, den er nicht annehmen
durfte. Nachdem er sich zu kritisch zum Afghanistan-Krieg geäußert hatte, wurde
er nach Gorki zwangsversetzt und erst 1986 von Gorbatschov rehabilitiert.
Moskau ist anstrengend. Inzwischen
bin ich längst wieder in Ulan-Ude, und das ist auch gut so. Auf dem Weg vom
Flughafen ins Zentrum – der übliche Stau. Es ist staubig und schwül, aus der
Zeitung erfahre ich, dass in Burjatien die Waldbrand-Saison 2016 eröffnet wurde,
soundsoviele Brandherde in der trockenen Taiga. Erstaunlich, wie vielerorts in Russland
doch alles beim Alten bleibt.
Neuer Metro-Plan mit angedeuteter zweiter Ringbahn (oben), Motive aus "Verbrechen und Strafe" in der Station Dostojevskaja (unten) |
Das GULAG-Museum am neuen Standort (oben), ein Stück Berliner Mauer vor dem Sacharow-Zentrum (unten) |