Mittwoch, 18. Mai 2016

Moskau: Metro und GULAG-Museum



Es ist erstaunlich, zu beobachten, in welchem Tempo sich Russland in manchen Bereichen modernisiert. Von Kasan nach Moskau bin ich zum ersten Mal mit einem doppelstöckigen Zug gefahren, nagelneue Waggons mit zwei Etagen an geschlossenen Abteilen zu je vier Betten. Den klassischen Heißwasserkessel am Wagenanfang gab es nicht mehr, kipjatok (kochendes Wasser) bekommt man stattdessen aus einem Wasserspender im Zugbegleiter-Abteil.
Bei jedem Besuch in Moskau studiere ich fasziniert den Streckenplan der Metro. Unglaublich, in welchem Tempo sich das U-Bahn-Geflecht erweitert und verdichtet, in jedem halben Jahr tauchen neue Stationen auf, ein sich vorwärts tastendes und verengendes Spinnennetz in verschiedenen Farben. Zusammengehalten wird es von der braunen Ringbahn, genannt kolzevaja linia, die angeblich dort verläuft, wo Stalin seine Kaffeetasse auf dem Plan abstellte, die dann dort einen braunen Rand hinterließ. Erstmals ist auf dem aktuellen Liniennetz ein zweiter, äußerer Ring eingezeichnet – gepunktet vorerst, denn er befindet sich noch im Bau. Es wird keine echte Metro sein, sondern eine oberirdisch verlaufende Bahn, die die bisherige Ringbahn entlasten soll – höchste Zeit, im Berufsverkehr ist das Gedränge dort unglaublich und unerträglich.
Über die Moskauer Metro kann man viel erzählen, sie ist eine Sehenswürdigkeit und Attraktion an sich. Der ausländische Tourist bestaunt die ewig langen in die Tiefe führenden Rolltreppen mit den Rolltreppen-Aufsichtspersonen, die in kleinen Glashäuschen an ihren Enden sitzen und auf ordentliches Benehmen achten: rechts stehen, links gehen. Er betrachtet die palastartig geschmückten Stationen, ist beeindruckt vom 90-Sekunden-Takt, in welchem die Ringbahn heranrast, und wird über die Funktion der Rinne aufgeklärt, die sich zwischen den Gleisen befindet und die einem das Überleben ermöglicht, wenn man auf vom Bahnsteig geschubst wurde und der Zug heranrast, bevor man dazu kommt, herauszuklettern. Eine Männerstimme sagt die Stationen an, wenn man Richtung Zentrum fährt, eine Frauenstimme spricht stadtauswärts. Während der Fahrt ist es so laut, dass Gespräche keinen Spaß machen. Die Bahnsteige und Gänge der Stationen sind auf den Durchlauf enormer Menschenmassen ausgelegt, kein Kiosk versperrt den Weg, aus Angst vor Terroranschlägen gibt es nicht einmal Papierkörbe. Seit ihrer Eröffnung 1932 fuhr die Moskauer Metro jeden Tag – außer am 16.10.1941, als die Faschisten kurz vor Moskau standen und sie zur Flutung vorbereitet wurde. Wem die offenbare Wirklichkeit nicht spannend genug ist, der beschäftigt sich mit den Gerüchten über die Metro-2, eine Art geheimes Parallelnetz, das den Kreml mit den Flughäfen und den wichtigsten strategischen Punkten der Stadt verbinden soll. 333 Kilometer und 200 Stationen umfasst das Netz zurzeit, zum Vergleich Berlin: 146 Kilometer, 173 Bahnhöfe.
Es gibt nichts, was es in Moskau nicht gibt. Wer das typische Russland sucht, Zwiebeltürme und Gemüse von der eigenen Datsche verkaufende alte Mütterchen, der findet es, wer das junge, verwestlichte Russland sucht, der findet es auch. Unerwartet fand ich mich dieses Mal in einem vegetarischen Café sitzend und Brettspiele spielend wieder. Der Brettspiel-Trend aus Deutschland ist auch in Russland angekommen, in Fachgeschäften wie Mosigra gibt es ein breites RAVENSBURGER-Sortiment speziell für den russischen Markt. Und wer den dunklen Seiten der russischen Geschichte nachspüren will, der kann in Moskau auch das.
Zu Besuch im Museum der Geschichte des GULAG, seit Oktober an einem neuen Standort in der Nähe der Metrostation Dostojewskaja: Eine modernes, anschauliche Ausstellung, touristenfreundlich auch auf Englisch, mit Gegenständen aus den Lagern, Videoberichten von Zeitzeugen, detaillierten Lageplänen aller GULAGs, die über die ganze UdSSR verteilt waren, auch in Ulan-Ude gab es eines. Etwas verwirrt habe ich das Museum verlassen, weil ich das Erlebte nicht zusammenbringen kann mit der in Deutschland verbreiteten Ansicht, in Russland würde man sich nicht richtig um die Aufarbeitung der dunklen Seite der eigenen Vergangenheit kümmern. Das GULAG-Museum wird von der Stadt Moskau unterstützt, ein großes Denkmal für die Opfer politischer Repressionen ist geplant, Solzhenitsyns „Archipel Gulag“ ist in den Lehrplan der Schulen aufgenommen worden, warum meckert der Westen immer noch herum, was kann man sich mehr wünschen?
Was man sich mehr wünschen kann, erfuhr ich bei einem Besuch im Sacharov-Zentrum. Swoboda, steht groß an der Außenwand, Freiheit, im Garten vor dem Haus ist ein Stück der Berliner Mauer aufgestellt. Im Sacharow-Museum hatte ich den Eindruck, in eine Art Zentrum der russischen Oppositionsbewegung geraten zu sein, Broschüren mit Titeln wie „So organisiere ich eine Demonstration“, „So verhalte ich mich im Internet, um nicht vom Großen Bruder beobachtet zu werden“, „Die Zerstörung der Zivilgesellschaft“ lagen aus. Als einziger Besucher kam ich in den Genuss einer zweistündigen Führung durch die Dauerausstellung, die die finsteren Seiten der Sowjetunion von ihrer Gründung bis zu ihrem Zerfall beleuchtete. „Mit der Thematisierung des GULAG wird von den übrigen Repressionen abgelenkt“, erfuhr ich. „Die Lager gab es bis in die 50er Jahre, und es wird so getan, als sei ab da alles gut gewesen. Über die späteren Repressionen schweigt man.“ Wird die Arbeit des Zentrums von der Politik behindert? „Wir sind eher unerwünscht, stehen auf der Liste der ‚ausländischen Agenten‘.“ Der Namensgeber der Einrichtung, Andrei Sacharov, war ein russischer Atomphysiker – der „Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe“ – und Bürgerrechtler, der sich zum Regimegegner entwickelt hatte und als Staatsfeind angesehen wurde, nachdem er 1975 den Friedensnobelpreis bekommen hatte, den er nicht annehmen durfte. Nachdem er sich zu kritisch zum Afghanistan-Krieg geäußert hatte, wurde er nach Gorki zwangsversetzt und erst 1986 von Gorbatschov rehabilitiert.
Moskau ist anstrengend. Inzwischen bin ich längst wieder in Ulan-Ude, und das ist auch gut so. Auf dem Weg vom Flughafen ins Zentrum – der übliche Stau. Es ist staubig und schwül, aus der Zeitung erfahre ich, dass in Burjatien die Waldbrand-Saison 2016 eröffnet wurde, soundsoviele Brandherde in der trockenen Taiga. Erstaunlich, wie vielerorts in Russland doch alles beim Alten bleibt.

Neuer Metro-Plan mit angedeuteter zweiter Ringbahn (oben), Motive aus "Verbrechen und Strafe" in der Station Dostojevskaja (unten)
Das GULAG-Museum am neuen Standort (oben), ein Stück Berliner Mauer vor dem Sacharow-Zentrum (unten)