Donnerstag, 28. April 2016

Schein und Sein



Deutschland steht für Qualität. Vor ein paar Tagen habe ich im Sputnik, dem edelsten und teuersten Lebensmittelgeschäft im Zentrum der Stadt, eine Packung Toffifee für eine Kollegin zum Geburtstag gekauft. Auf der Vorderseite ist eine deutsche Fahne abgebildet: Hergestellt in Deutschland. Auch original Rittersport-Schokolade gibt es, proisvjedenó v Germanii.
Mitunter werden Waren so benannt und verpackt, dass sie deutsch aussehen, obwohl sie mit Deutschland nichts zu tun haben. Ein paar Schritte weiter im Kühlregal stieß ich auf Tilsiter, „Der traditionelle Käse“, „Wiederverschließbar“ steht auf einer Ecke der Verpackung, und ein rundes Siegel verkündet „Das originelle Rezept“. Spätestens hier wurde ich stutzig – wahrscheinlich soll es „Original-Rezept“ heißen, und ein Blick auf den winzigen Aufkleber auf der Rückseite bestätigte meine Vermutung: Hergestellt in Moskau. Aufgrund des Lebensmittelembargos darf es nämlich gar keine westeuropäischen Käse hier geben – ein Umstand, unter dem ich etwas leide, mir fehlen aromatische Schnittkäse, Appenzeller und Old Amsterdamer, die russischen Käse schmecken fast alle gleich und haben eine abenteuerliche Zutatenliste: Kondensmilch-Aroma, Farbstoff, Konservierungsmittel. – Aus landeskundlichem Interesse kaufte ich den Tisiter trotzdem, zusammen mit einem Blauschimmelkäse der Marke „Schönfeld“, eindeutig ein deutscher Name, oder? Hergestellt in Argentinien, verpackt in Moskau.
In russischen Schreibwarengeschäften finden sich in Hülle und Fülle Produkte der Marke „Erich Krause“. Wenn man genauer hinschaut, hat die „Erich Krause Deutschland GmbH“ tatsächlich eine deutsche Adresse. Damit endet allerdings auch das Deutschtum: es ist eine russische Firma, die in China produzieren lässt.

Gestern war ich eingeladen, an der Technischen Universität zu einer Studentischen Wissenschaftlich-Praktischen Konferenz zu kommen und mir dort als Jurymitglied die Präsentationen von Studierenden über deutschlandbezogene Themen („Das Umweltschutzverständnis in Deutschland“, „Das deutsche Steuersystem“) anzuhören und sie zu bewerten. Für mich war es eine schreckliche Veranstaltung, weil ich den Eindruck hatte, dass weder die vortragenden Studenten, noch die zuhörenden Studenten, noch die Organisatorin eigentlich an den Themen interessiert waren. In Windeseile wurden im Internet gefundene Texte heruntergenudelt, das Publikum saß in geduldiger Langeweile seine Zeit ab, und die Organisatorin verließ erst einmal den Raum, nachdem sie die Veranstaltung eröffnet hatte. Niemand hat irgendwelche Fragen, keinerlei geistige Auseinandersetzung fand mit den Inhalten statt. Und ich saß als Jurymitglied da und sollte irgend etwas bewerten, weil danach, wie sollte es anders sein, Preise und Urkunden zu vergeben waren. Eine völlig gespenstische, unwirkliche Situation, und gleichzeitig so typisch russisch – natürlich sahen alle schick aus, die Studentinnen traten selbstbewusst mit Absatzschuhen und Minirock hinter das Rednerpult, und es gab ein gedrucktes Heft „soundsovielte studentische wissenschaftlich-praktische Konferenz“ mit allen Themen und Namen der Vortragenden, und wahrscheinlich sind auch noch irgendwo die echten deutschen Jurymitglieder erwähnt. Eigentlich existierte diese Veranstaltung nur, weil ihre jährliche Durchführung in irgendeinem Plan vorgeschrieben ist. Von oben wird irgendeine Form festgelegt, die von Seiten der ausführenden Menschen für das Häkchen im Bericht durchgeführt, aber mit null Inhalt ausgefüllt wird – das ist eine Seite Russlands, von der ich manchmal die Nase voll habe.
Jährlich werden Scharen von jungen Leuten durch das russische Uni-System geschleift, die eigentlich in einer praktischen Berufsausbildung besser aufgehoben wären. Es gibt aber in Russland kein richtiges Berufsausbildungssystem wie in Deutschland. Es gehört sich mehr oder weniger einfach für jeden, einen Hochschulabschluss zu haben, auch wenn man anschließend im Supermarkt an der Kasse arbeitet. Entsprechend hat „Universität“ und „Student“ hier auch nicht unbedingt etwas mit „geistiger Tätigkeit“ zu tun, wie man es vermuten könnte, wenn man die Begriffe aus dem deutschen Kulturraum kennt.
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Ulan-Ude hat kein eigenes sinfonisches Orchester, und das klanglose, kratzige kleine Opernorchester mag ich auch schon nicht mehr hören. Mitunter jedoch gastieren hochkarätige Musiker im Gebäude der Philharmonie, oft aus Moskau oder St. Petersburg. Dem weniger an anspruchsvolle Klassik gewöhnten Ulan-Ude’er Publikum muten sie dabei ganz schön viel zu. Der junge Cellist Alexander Ramm konzertierte mit der technisch und musikalisch komplizierten Prokofjew-Cellosonate, das berühmte Glinka-Streichquartett war zu Gast mit einem herben, schwer verdaulichen Brahms-Quartett, und der Bratscher Wladimir Tkatschenko spielte Hindemith, Expressionismus aus dem 20. Jahrhundert. Zufällig traf ich Micha, einen Kollegen vom Englisch-Lehrstuhl, mit seiner Familie, als sie in der Pause gerade aus dem Saal flüchteten. „Das soll Musik sein? Schrecklich! Solche Geräusche kann ich mir auch ausdenken!“ Ich – gut gelaunt von einem erfüllenden Hörerlebnis, Micha – völlig fassungslos. Wahrscheinlich besser, dass ihr geht, meinte ich zu ihm, nach der Pause wird es nicht anders. Auf dem Programm stand die Bratschensonate von Schostakowitsch, das letzte Werk meines Lieblingskomponisten, kurz vor seinem Tode 1975 entstanden, eine meditative, abstrakte, fast schon garstige Musik, nichts für Ohren, die Erbauung in schönen Melodien suchen.

Echte (oben) und scheinbare (unten) Qualität aus Deutschland