Freitag 13 Uhr: Seit vier Stunden sitze ich in einem Kleinbus und
rumple über eine schlecht asphaltierte Straße ans östliche Ende der Republik
Burjatien. Draußen fliegt die sonnendurchflutete Steppe an mir vorbei,
braungelbe, sandige Täler und in weiterer Entfernung waldbewachsene Berge. Mein
Ziel ist die 6000-Einwohner-Ortschaft Sosnovo-Osjorskoje, wohin mich Sesegma
Zhigzhitovna, Deutschlehrerin an Schule Nummer eins, eingeladen hat. Ich soll
Unterricht für fünf Schüler der neunten und zehnten Klasse geben, die seit
einem Jahr freiwillig Deutsch lernen, außerdem eine Weiterbildung für einige
Deutschlehrer aus den umliegenden Dörfern durchführen und in der 6. Klasse
Werbung für die deutsche Sprache machen, damit die Schüler das Fach ab September
als zweite Fremdsprache wählen.
Vor einiger Zeit hatte mich Sesegma
angerufen und mir den Reiseweg erklärt. Der Kleinbus führe jeden Tag um halb neun
in Ulan-Ude ab, man zahle die Reise vor Ort beim Fahrer, Fahrkarten gäbe es
keine. Manchmal führe er auch schon um viertel nach acht oder um acht Uhr. Wenn
es genügend Fahrgäste gäbe, könne es sein, dass er auch schon um viertel vor
Acht losfährt. Überhaupt solle ich am besten schon um halb acht an der
Haltestelle stehen. Um auf Nummer sicher zu gehen, war ich heute schon um
viertel nach sieben dort, ziemlich umsonst, Abfahrt war planmäßig um 8.30 Uhr.
Freitag Abend: Gemeinsam mit Sesegma Zhigzhitovna, einer ihrer
Kolleginnen und der Schuldirektorin sitze ich beim festlichen Abendessen in
einem einfachen Restaurant, es gibt Posy (fleischgefüllte Teigtaschen), mit
geronnenem Blut gefüllte Pferdedärme, Hecht und andere burjatische
Spezialitäten. Ich bin zufrieden, ein erfolgreicher Tag liegt hinter mir,
Schule Nummer eins ist ein einfaches, sauberes Gebäude mit Plumpsklo im Hof, ich
hatte ein interessiertes Schüler- und Lehrerpublikum. Sesegma ist eigentlich
bereits pensioniert, aber noch sehr aktiv und versucht die deutsche Sprache als
Fach wiederzubeleben. 2011 war sie zugunsten von Englisch abgeschafft worden,
wenigstens als zweite Fremdsprache soll Deutsch jetzt wieder eingeführt werden.
Ganz wichtig für Sesegma war, dass alle Schüler und Lehrer von mir
Teilnahmeurkunden erhalten. Ob der Englischlehrer, der mich vom Busbahnhof
abgeholt hatte, auch eine bekommen könne? Und ob für die in meiner Abwesenheit
durchgeführte Deutscholympiade ich nicht auch ein schönes von mir gestempeltes
Zertifikat für jeden hätte? Leider geht das nicht, erklärte ich geduldig,
Urkunden von mir gibt es nur für Veranstaltungen, mit denen ich etwas zu tun
habe, und auch nur für Leute, die auch tatsächlich anwesend waren. Die alte
Dame nickt verständnisvoll: Nun ja, eigentlich haben Sie recht.
Die Direktorin steht auf und hält
eine kleine Ansprache, dankt mir für mein Kommen und überreicht einen Blagodarstvennoje pismo, einen Dankesbrief.
Ein Deutscher an der Schule ist schon ein Ereignis! Es wird angestoßen. Etwas
später erhebt sich Sesegma und trägt ein burjatisches Gedicht vor, wieder wird
angestoßen. Ich fühle mich dazu aufgefordert, auch etwas beizutragen. Vor
meiner Abreise nach Russland hatte ich vorsorglich ein Dutzend deutsche
Gedichte auswendig gelernt, schließlich bin ich Kulturmittler und sollte das
klassische literarische Erbe kennen. Aber vor Nervosität ist mein Gedächtnis
wie ausgelöscht, Erlkönig, Handschuh und Loreley, nichts habe ich parat. So
erhebe ich mich denn, halte einen Toast auf die deutsch-burjatische
Freundschaft und deklamiere mit gewichtiger Stimme das einzige Gedicht, das mir
einfällt: Zwei Trichter wandeln durch die
Nacht/ durch ihres Rumpfs verengten Schacht/ fällt stilles Mondlicht/ sanft und
heiter/ und so weiter. Das war es schon? Die Direktorin, die kein Deutsch
versteht, schaut mich unsicher an. Ja, das Wichtigste in aller Kürze gesagt,
das ist typisch für Christian Morgenstern, meine ich im Brustton der
Überzeugung. Die Direktorin ist zufrieden, das Mahl geht weiter.
Nach dem Essen wird man mich in
ein Gästehaus fahren, ich brauche Ruhe und guten Schlaf, morgen Vormittag soll
mein Seminar weitergehen. Der erste Versuch wird nicht klappen – betrunkene Lkw-Fahrer
gieren nach Unterhaltung mit einem Ausländer. Auch in der zweiten Unterkunft
veranstalten Piloten, die tagsüber Waldbrände gelöscht haben, eine ausgelassene
Party. Im dritten Hotel werde ich dann der einzige Gast sein, Gott sei Dank.
Samstag 11 Uhr: Ich steige in den Minibus, der mich zurück nach
Ulan-Ude bringt. Zuvor hatte ich noch Gelegenheit, am Ufer eines der Seen zu
spazieren, an denen Sosnovo-Oserskoje liegt. Er ist vom Austrocknen bedroht,
die Uferlinie hat sich schon um einige hundert Meter verlagert, im Winter sind
alle Fische krepiert, weil er bis auf den Grund zufror. Während mich die
löchrige Straße durchrüttelt, genieße ich den Anblick der Weite und ordne meine
Gedanken. Wieder einmal war ich als Botschafter aus einer anderen Welt
unterwegs, aus dem fernen Deutschland, eine schöne Aufgabe.
Die Schule Nummer eins in Sosnovo-Oserskoje |
Mit den Schülern der 6. Klasse (oben) und mit einigen der 9. und 10. Klasse (unten) |
Russen lieben sie über alles: Urkunden, Zertifikate, Dankesbriefe |