Dienstag, 24. Mai 2016

Schulbesuch auf dem Land



Freitag 13 Uhr: Seit vier Stunden sitze ich in einem Kleinbus und rumple über eine schlecht asphaltierte Straße ans östliche Ende der Republik Burjatien. Draußen fliegt die sonnendurchflutete Steppe an mir vorbei, braungelbe, sandige Täler und in weiterer Entfernung waldbewachsene Berge. Mein Ziel ist die 6000-Einwohner-Ortschaft Sosnovo-Osjorskoje, wohin mich Sesegma Zhigzhitovna, Deutschlehrerin an Schule Nummer eins, eingeladen hat. Ich soll Unterricht für fünf Schüler der neunten und zehnten Klasse geben, die seit einem Jahr freiwillig Deutsch lernen, außerdem eine Weiterbildung für einige Deutschlehrer aus den umliegenden Dörfern durchführen und in der 6. Klasse Werbung für die deutsche Sprache machen, damit die Schüler das Fach ab September als zweite Fremdsprache wählen.
Vor einiger Zeit hatte mich Sesegma angerufen und mir den Reiseweg erklärt. Der Kleinbus führe jeden Tag um halb neun in Ulan-Ude ab, man zahle die Reise vor Ort beim Fahrer, Fahrkarten gäbe es keine. Manchmal führe er auch schon um viertel nach acht oder um acht Uhr. Wenn es genügend Fahrgäste gäbe, könne es sein, dass er auch schon um viertel vor Acht losfährt. Überhaupt solle ich am besten schon um halb acht an der Haltestelle stehen. Um auf Nummer sicher zu gehen, war ich heute schon um viertel nach sieben dort, ziemlich umsonst, Abfahrt war planmäßig um 8.30 Uhr.

Freitag Abend: Gemeinsam mit Sesegma Zhigzhitovna, einer ihrer Kolleginnen und der Schuldirektorin sitze ich beim festlichen Abendessen in einem einfachen Restaurant, es gibt Posy (fleischgefüllte Teigtaschen), mit geronnenem Blut gefüllte Pferdedärme, Hecht und andere burjatische Spezialitäten. Ich bin zufrieden, ein erfolgreicher Tag liegt hinter mir, Schule Nummer eins ist ein einfaches, sauberes Gebäude mit Plumpsklo im Hof, ich hatte ein interessiertes Schüler- und Lehrerpublikum. Sesegma ist eigentlich bereits pensioniert, aber noch sehr aktiv und versucht die deutsche Sprache als Fach wiederzubeleben. 2011 war sie zugunsten von Englisch abgeschafft worden, wenigstens als zweite Fremdsprache soll Deutsch jetzt wieder eingeführt werden. Ganz wichtig für Sesegma war, dass alle Schüler und Lehrer von mir Teilnahmeurkunden erhalten. Ob der Englischlehrer, der mich vom Busbahnhof abgeholt hatte, auch eine bekommen könne? Und ob für die in meiner Abwesenheit durchgeführte Deutscholympiade ich nicht auch ein schönes von mir gestempeltes Zertifikat für jeden hätte? Leider geht das nicht, erklärte ich geduldig, Urkunden von mir gibt es nur für Veranstaltungen, mit denen ich etwas zu tun habe, und auch nur für Leute, die auch tatsächlich anwesend waren. Die alte Dame nickt verständnisvoll: Nun ja, eigentlich haben Sie recht.
Die Direktorin steht auf und hält eine kleine Ansprache, dankt mir für mein Kommen und überreicht einen Blagodarstvennoje pismo, einen Dankesbrief. Ein Deutscher an der Schule ist schon ein Ereignis! Es wird angestoßen. Etwas später erhebt sich Sesegma und trägt ein burjatisches Gedicht vor, wieder wird angestoßen. Ich fühle mich dazu aufgefordert, auch etwas beizutragen. Vor meiner Abreise nach Russland hatte ich vorsorglich ein Dutzend deutsche Gedichte auswendig gelernt, schließlich bin ich Kulturmittler und sollte das klassische literarische Erbe kennen. Aber vor Nervosität ist mein Gedächtnis wie ausgelöscht, Erlkönig, Handschuh und Loreley, nichts habe ich parat. So erhebe ich mich denn, halte einen Toast auf die deutsch-burjatische Freundschaft und deklamiere mit gewichtiger Stimme das einzige Gedicht, das mir einfällt: Zwei Trichter wandeln durch die Nacht/ durch ihres Rumpfs verengten Schacht/ fällt stilles Mondlicht/ sanft und heiter/ und so weiter. Das war es schon? Die Direktorin, die kein Deutsch versteht, schaut mich unsicher an. Ja, das Wichtigste in aller Kürze gesagt, das ist typisch für Christian Morgenstern, meine ich im Brustton der Überzeugung. Die Direktorin ist zufrieden, das Mahl geht weiter.
Nach dem Essen wird man mich in ein Gästehaus fahren, ich brauche Ruhe und guten Schlaf, morgen Vormittag soll mein Seminar weitergehen. Der erste Versuch wird nicht klappen – betrunkene Lkw-Fahrer gieren nach Unterhaltung mit einem Ausländer. Auch in der zweiten Unterkunft veranstalten Piloten, die tagsüber Waldbrände gelöscht haben, eine ausgelassene Party. Im dritten Hotel werde ich dann der einzige Gast sein, Gott sei Dank.

Samstag 11 Uhr: Ich steige in den Minibus, der mich zurück nach Ulan-Ude bringt. Zuvor hatte ich noch Gelegenheit, am Ufer eines der Seen zu spazieren, an denen Sosnovo-Oserskoje liegt. Er ist vom Austrocknen bedroht, die Uferlinie hat sich schon um einige hundert Meter verlagert, im Winter sind alle Fische krepiert, weil er bis auf den Grund zufror. Während mich die löchrige Straße durchrüttelt, genieße ich den Anblick der Weite und ordne meine Gedanken. Wieder einmal war ich als Botschafter aus einer anderen Welt unterwegs, aus dem fernen Deutschland, eine schöne Aufgabe.

Die Schule Nummer eins in Sosnovo-Oserskoje

Mit den Schülern der 6. Klasse (oben) und mit einigen der 9. und 10. Klasse (unten)
Russen lieben sie über alles: Urkunden, Zertifikate, Dankesbriefe