Vor einiger Zeit habe ich Niso
kennengelernt: eine sportliche junge Frau mit langem kastanienbraunem Haar, das
Gesicht mit asiatisch breiten Wangen und leicht schrägstehenden Augen, die die
Nicht-Russin verraten. Niso ist in der ehemaligen Sowjetrepublik Tadschikistan
geboren, ein kleines islamisches Land nördlich von Afghanistan. Als sie 14 war,
ist die Familie nach Burjatien umgezogen, der Umzug war auch eine Flucht vor
dem tadschikischen Bürgerkrieg, in dem das Land nach dem Zerfall der
Sowjetunion versank. Niso arbeitet im Lager eines Autoersatzteile-Verkäufers
und studiert Pädagogik saótschno,
also im Fernstudium, um später einmal als Erzieherin in einen Kindergarten zu
gehen. Nach einem gemeinsamen abendlichen Tangokurs begleitete sich mich nach
Hause. Vielleicht möchtest Du noch kurz auf einen Tee mit heraufkommen? Aus
kurz wurde dann ziemlich lange, bis zum Frühstück des darauffolgenden Tages.
Niso hat ihren sehr regelmäßigen
Neun-Stunden-Arbeitstag – meiner ist etwa ebenso lang, nur ziemlich
unregelmäßig. Zweimal wöchentlich, meist dienstags und donnerstags, kommt sie
am Abend auf Besuch, manchmal sehen wir uns noch am Wochenende, was aber nicht
immer klappt. „Eine ganze Woche sehe ich Dich jetzt nicht“, verkündet sie dann
am Freitagmorgen. „Eine komische Woche hast Du, von Freitag bis Dienstag“,
antworte ich und wir lachen. Wir lesen uns gegenseitig Dostojewski und Leskov
vor und hören zum Einschlafen Schubert und Prokofjew auf youtube.
„Du hast mir meine Sprache
wiedergegeben“, meint Niso eines schönen Tages. Ich bin gerührt und frage, was
sie wohl meint? Ach, das Wörterbuch! Zum Geburtstag habe ich ihr ein
russisch-tadschikisches Wörterbuch geschenkt. Das, was sie in ihrer Jugend
besaß, wurde eines Winters auf dem Dorf verheizt, und in den Buchläden
Ulan-Udes gibt es keine Wörterbücher von einer solch exotischen Sprache. Also
habe ich eins aus dem Internet ausgedruckt und im Copyshop schön binden lassen.
Tadschikisch ist fast identisch mit dem im Iran gesprochenen Farsi, wird aber nicht mit arabischen,
sondern mit kyrillischen Buchstaben geschrieben. Für Niso ist es neben Russisch
die zweite Muttersprache und die Sprache, die sie mit ihrem tadschikischen
Vater spricht. Natürlich braucht sie eigentlich kein Wörterbuch, aber manchmal
wird ihr klar, dass sie von einem Ding nicht in beiden Sprachen die Bezeichnung
kennt.
Mir gefällt, dass wir keine großen
Zukunftspläne machen. Vielleicht werde ich in eine andere russische Stadt
versetzt oder gehe nach Deutschland zurück, und es ist klar, dass sie nicht
mitkommen würde. Niso ist nicht der Typ Frau, der sich darum reißt, mit einem
Mann in den Westen zu entschwinden, sie fühlt sich ihren auf dem Dorf Bitschura
lebenden Eltern und ihren sechs Geschwistern verbunden. Aus Bitschura bringt
sie mir frischen Buchweizenhonig und aromatisches Schafsfleisch mit, ich
beköstige sie mit scheinbar deutschem (und trotzdem leckerem) Blauschimmelkäse
aus dem Sputnik und zeige ihr, wie
man schwarzen Tee so aufbrüht, dass er wirklich lecker ist. Ich lerne von ihr,
mir Smetana (saure Sahne) in die
Haare zu schmieren gegen Schuppen und wie man mannaja kasha (Grießbrei) so zubereitet, dass es nicht klumpt . Und
sie sieht und hört zum ersten Mal ein Cello aus der Nähe und macht Fotos meiner
Probe mit mir und Ardan an der Geige: Ende Mai wollen Ardan und ich uns einmal
auf den Arbat setzen und Straßenmusik machen – das wäre meine erste
Straßenmusik-Aktion in Russland.
Das Leben ist wenig vorhersehbar,
vor allem in Russland. Morgen kann alles schon wieder vorbei sein. Was Niso und
mich noch verbindet, ist unsere gegenseitige Altersschätzung. Wie alt bist du?
Ich vermute, sechsundzwanzig. Niso lacht: vierunddreißig! Und wie alt bin ich?
Na, achtundzwanzig! Ich lache und korrigiere: sechsunddreißig! Wir haben uns
jeweils um acht Jahre jünger geglaubt.