Sonntag, 8. November 2015

Maksimicha



Beim Kennenlernen der Schönheiten meiner neuen Heimat dringe ich immer weiter in den Norden der Republik Burjatien vor. An meinem Geburtstagswochenende habe ich einen Ausflug in das kleine Dorf Maksimicha gemacht, 250 Kilometer nördlich von Ulan-Ude, an einer malerischen Bucht gelegen. Es herrschte strahlend weißer Winter, die Landschaft war von einer dünnen Schicht Neuschnee bedeckt, die Sonne schien vom klaren blauen Himmel und erwärmte die Luft am Mittag bis knapp unter null Grad. Winterlicher und schöner kann es kaum sein – aber das gilt hier noch nicht als Winter, es ist nur eine Art Vorgeschmack. Es ist gerade mal Anfang November, und wenn man bedenkt, dass ich mich hier am Südrand von Sibirien befinde und die gesamte nordasiatische Landmasse noch viel weniger Sonne abbekommt…
Heute früh bin ich in einem warmen Zimmer des Hotels „Lukomorje“ aufgewacht, ein langgestreckter, grün-blauer Holzbau direkt am Seeufer. Es war noch stockfinster, das Außenthermometer zeigte minus fünfzehn. Vor der Tür begrüßte mich das sanfte Plätschern der Wellen des Baikals, und über meinem Kopf ein fantastischer, stechend klarer Sternenhimmel mit schmaler Mondsichel.
Nach einiger Zeit wurde es hell, und mein Blick fiel aus dem Fenster auf die schroffe, kahle Bergwand der Halbinsel „Heilige Nase“ am anderen Ufer, in ca. 40 Kilometern Entfernung. Die schneebedeckten Kuppen leuchteten rötlich in der aufgehenden Sonne. Ich war der einzige Gast im Hotel. Den Preis hatte ich auf 500 Rubel heruntergehandelt. Eigentlich kostet es das Doppelte, aber als ich versprach, meinen eigenen Schlafsack zu benutzen und das Zimmer so zu verlassen, als wäre ich nie dagewesen, war die Inhaberin Oksana einverstanden.
In Maksimicha herrschte Stille. Das Dorf wirkt nicht heruntergekommen wie so manche andere, und doch schien es wie ausgestorben, nur aus einigen wenigen Schornsteinen kam Rauch, und ein paar Hunde balgten sich auf der Straße. 1500 Grundstücke gibt es, aber nur 300 Menschen wohnen dauerhaft hier – die meisten Häuser sind nur im Sommer bewohnt oder werden an Touristen vermietet. Nach meiner Ankunft gestern ging ich am schmalen Geröll-Ufer spazieren und bewunderte die zuweilen lustigen, zuweilen grotesken Eis- und Schnee-Gebilde, die an den Rändern des ganz langsam zufrierenden Baikalsees entstehen. Wahrscheinlich dann im Februar ist es soweit – die Eisdecke, dick und zuverlässig, trägt Wanderer und Autos. Nach einigen Stunden des Herumlaufens war ich müde und nahm im einzigen geöffneten Imbiss als einziger Besucher einen Borschtsch zu mir.
Oksana überraschte mich heute früh im Hotel mit der Aufforderung, noch zu frühstücken. Ausgehandelt war der Preis ohne Verpflegung, aber sie könne doch ihren Gast nicht hungrig wegschicken. So verließ ich die Unterkunft mit einigen Plinsen und leckerem Milchreis im Bauch.
Hingefahren bin ich gestern mit einem Kleinbus, Abfahrt um 7 Uhr in Dunkelheit und eisiger Kälte, bevor ich mich auf den Weg zum Busbahnhof machte, hatte ich mein Gesicht mit fettiger Kindercreme eingeschmiert. Die Fahrt dauerte vier Stunden, mit einem Zwischenstopp in Tjurká, wo alle Passagiere ausstiegen und warm frühstückten. Eine Weile nach Abfahrt drehte der Fahrer die Musik auf ohrenbetäubende Lautstärke. Ich wendete mich etwas irritiert zu meinen Mitfahrern um – in den gleichgültig-stumpfen, ausdruckslosen Gesichtern, die Russen wie üblich in der Öffentlichkeit an den Tag legen, war keinerlei Regung wahrnehmbar. Gefällt ihnen die Beschallung? Stört es sie? Nehmen sie es überhaupt wahr? An ähnliche Fälle gewöhnt, hatte ich zum Glück Ohropax griffbereit. Zurück bin ich wieder getrampt, stellte mich in der Mittagssonne an die Straße und wartete nicht länger als eine Viertelstunde, als eine Burjatin in mittleren Jahren mit kleinem Kind auf dem Rücksitz anhielt – ihr fünftes, wie ich erfuhr. An zwei Stellen warf die Frau während der Fahrt an heiligen Orten Reiskörner aus dem Fenster. Ob es mir hier gefalle? Ich nickte: ein ruhiges Land, tolle Natur. Und ein schöne Gegend, um mein 36. Lebensjahr zu feiern. 
Auch wenn es nicht so aussieht - das ist die zentrale Verkehrsader am Ostufer des Baikalsees, der Bargusin-Trakt