Freitag, kurz nach vier Uhr
morgens: Mit Erzhena, Dolgorma, Lena und Jan, vier Studenten meiner Uni,
besteige ich in Ulan-Ude den Zug nach Wladiwostok. Unser Ziel ist die jährlich
stattfindende „Transbaikalische Fernöstliche Deutscholympiade“. Für Erzhena und
Dolgorma ist es die erste Zugfahrt in ihrem Leben. Ich zeige ihnen den
Heißwasserkessel und den Fahrplan und komme mir dabei sehr russisch vor. Wir
sind im Plazkartnyj wagon unterwegs, einem offenen Großraumwagen, die Klasse,
die am wenigsten kostet und am meisten Leben bietet.
Gegen Mittag, nach acht Stunden
Fahrt, erreichen wir Tschita, die nächste Großstadt östlich von Ulan-Ude.
Einige Dutzend grünuniformierte Männer mit kurzgeschorenen Haaren besteigen den
Zug, Wehrdienstleistende, die an einen anderen Standort verlegt werden.
Ich habe einen seitlichen oberen
Liegeplatz. Auf der Pritsche unter mir liegt ein älterer, hagerer Burjate. Es
wird schon Nachmittag, aber er denkt gar nicht daran, aufzustehen, sondern
liest und telefoniert stundenlang in seiner mir unverständlichen Muttersprache gemütlich
in Horizontalstellung. Die Liege kann in ein Tischchen mit zwei Sitzplätzen
rechts und links davon verwandelt werden, wovon einer meiner wäre. Auf meine
Bitte hin erhebt sich mein Nachbar dann endlich, ich kann mich setzen. Wir
kommen ins Gespräch, er erzählt stolz von seinem Arbeitsplatz, zu dem er
unterwegs ist: das Kosmodrom Wostotschnyj
(Östliches Kosmodrom), ein neues russisches Baikonur, ein Weltraumbahnhof im
Fernen Osten, wo ab 2023 bemannte Raumschiffe starten sollen. Und er ist beim
Bau dabei! Der Mann sieht aber nicht wie ein Ingenieur, sondern eher nach Taiga
und Steppe aus, zeigt mir Jagdbilder von sich mit abgetrennten
Wildschweinköpfen und nimmt zwischendurch ungefragt einen Schluck Tee aus
meiner Tasse. Ich hatte gerade großen Durst, ist seine Reaktion auf mein Stirnrunzeln.
Gelegentlich greift er in seine Reisetasche, setzt eine
Fünf-Liter-Plastikflasche mit einer teefarbenen Flüssigkeit an den Mund und
trinkt in großen Zügen.
Der Zug zuckelt langsam dahin,
vom heiteren Himmel scheint die klare Wintersonne, außen sind es trockene minus
15, im Zug komfortable 24 Grad. Die Landschaft ist von einer dünnen
Schneeschicht bedeckt. An den Rändern der Fenster im Zug bildet sich eine
Eisschicht. Meine Nachbarin auf der anderen Seite des Ganges ist eine Mongolin,
die ihren in Chabarowsk studierenden Sohn besucht. Der burjatische
Kosmodrombauer und sie unterhalten sich burjatisch-mongolisch, die beiden
Sprachen sind einander sehr ähnlich. Alle paar Stunden hält der Zug länger, das
sind wertvolle Momente, 15 Minuten zum Vertreten der Beine auf dem Bahnsteig,
ich sprinte über die Gleise und kaufe frischen Kefir.
Am späten Nachmittag wird die
Luft im Wagen dick. Es riecht nach Essen und Schweiß. „Wer hat die Toiletten
verstopft“, ruft die Zugbegleiterin mit heiserer Stimme durch den Gang,
„hundertmal sage ich, kein Papier hineinwerfen! Wer war es?“ Natürlich meldet
sich niemand. „Ich schließe jetzt die Toiletten zu, sehen Sie zu, wie Sie
klarkommen!“ Ich verdrücke mich mit den Studenten in den fast leeren Restaurantwagen
und lade sie auf einen Tee und Kekse. Wir bereiten uns mit Sprachspielen auf
die Deutscholympiade vor – dank der Anregungen von Freund Florian,
Deutsch-als-Fremdsprache-Spieleexperte, habe ich ein halbes Dutzend davon im
Gepäck.
Am nächsten Tag fahren wir
nördlich der chinesischen Grenze entlang, durchqueren die von Zwangsarbeitern
gebaute Siedlung Svobodnyj („Die Freie“) und verlassen Sibirien in Richtung
Ferner Osten, dem östlichsten Landstreifen Russlands am Pazifik. Mein
kosmodrombauender Nachbar ist inzwischen sehr geschwätzig geworden. Kurz bevor
er aussteigt, frage ich ihn, was er da eigentlich in seiner riesigen Flasche
hat. Guten Selbstgebrannten von einem Freund, nicht 40, sondern 42-prozentiger,
ob ich probieren wolle? Ich war etwas verblüfft. Und warum schwimmen da
Teebeutel drin? Ach, das ist nur zur Tarnung, damit es nicht so nach Alkohol
aussieht, die Teebeutel verändern die Farbe, den Geschmack praktisch nicht.
Etwa einmal pro Stunde hält der
Zug für zwei Minuten. Zwei Minuten reichen aus, um einen Menschen, wenn es sein
muss, aus dem Zug zu werfen. Ich bin gerade am Einschlummern, da wecken mich
hektische Schreie vom hinteren Wagenende auf. „Los, raus hier!“ – „Ich gehe
nirgendwohin.“ – „Raus jetzt, sage ich!“ Zwei Polizisten reißen einen Mann von
seinem Platz und zerren ihn durch die Tür auf den Bahnsteig. „Wo ist seine
Tasche?“ – „Verdammte Scheiße, lasst mich in Ruhe!“ – „Beeilt euch, ihr haltet
den Zug auf!“ Die Polizisten drücken den um sich schlagenden Mann draußen auf
den Boden, der Zug setzt sich in Bewegung. Es stellt sich heraus, dass er
getrunken und seine Nachbarin, eine Frau mit kleinem Kind, belästigt hat. Die
Frau hat die Zugbegleiterin und diese die Bahnpolizei geholt. Alkohol im Zug
ist verboten, wer trinkt und es sieht keiner, wie mein Nachbar, wird in Ruhe
gelassen, wer sich danebenbenimmt, fliegt raus. Noch fünf Minuten ist der Mann
Gesprächsthema, dann geht die Fahrt weiter, als hätte es ihn nie gegeben.
Am Sonntag Morgen erreichen wir
Chabarowsk. Zwei Koreaner lassen sich auf dem Bahnsteig mit mir fotografieren.
Vielleicht halten sie mich mit meiner schwarzen, pelzbekragten Daunenjacke für
einen Russen. Es sind Ingenieure aus Nordkorea, nach sieben Jahren Arbeit in
Russland kehren sie in die Heimat zurück. Und, wie ist es in ihrem Land so,
lebt es sich gut, frage ich und erhalte zur Antwort ein undurchdringliches
asiatisches Lächeln. Ich traue mich nicht, weiter nachzufragen.
Hinter Chabarowsk knickt die
Strecke steil nach Süden ab. Der Schnee verschwindet, wir fahren durch eine
grasgelbe und erdbraune Landschaft. Die Studenten lernen fleißig Deutsch und
fragen mich, wie sagt man dieses und was heißt jenes. Ich vertreibe mir die
Zeit mit der Lektüre von Herta Müllers „Atemschaukel“. Ein junger
Deutsch-Rumäne im sowjetischen Arbeitslager, was würde passieren, wenn ich das
Buch im Literaturkurs bespreche? Zwischendurch schlürfe ich Grüntee und
vergleiche Bitterschokolade. Babajewskij, trocken und fad. Rossijskij, schmeckt
nach Spiritus. Ljuks, zartschmelzend und lecker, eindeutig die beste. Unterdessen
nähert sich der Zug Wladiwostok. Wir sind hier im Primorskij Krai, dem
russische Zipfel zwischen China und dem Pazifik. Aus dem linken Fenster fällt
der Blick auf die Berge des Sichote-Alin-Gebirges, dahinter ist die eurasische
Landmasse dann zu Ende und es beginnt das Japanische Meer. Kurz nach 20 Uhr, nach 62 Stunden Fahrt, kommen wir an
in Wladiwostok, Endpunkt der Transsibirischen Eisenbahn, und begeben uns zum
Wohnheim der Fernöstlichen Föderalen Universität.
Mit Jan, Lena und Dolgorma im Zugrestaurant |
Eis und Schnee im Durchgang zwischen zwei Wagen |
Deutsch lernen für die Olympiade |
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Ein kurzer Zwischenhalt am Abend |