Montag, 23. November 2015

Ulan-Ude - Wladiwostok



Freitag, kurz nach vier Uhr morgens: Mit Erzhena, Dolgorma, Lena und Jan, vier Studenten meiner Uni, besteige ich in Ulan-Ude den Zug nach Wladiwostok. Unser Ziel ist die jährlich stattfindende „Transbaikalische Fernöstliche Deutscholympiade“. Für Erzhena und Dolgorma ist es die erste Zugfahrt in ihrem Leben. Ich zeige ihnen den Heißwasserkessel und den Fahrplan und komme mir dabei sehr russisch vor. Wir sind im Plazkartnyj wagon unterwegs, einem offenen Großraumwagen, die Klasse, die am wenigsten kostet und am meisten Leben bietet.
Gegen Mittag, nach acht Stunden Fahrt, erreichen wir Tschita, die nächste Großstadt östlich von Ulan-Ude. Einige Dutzend grünuniformierte Männer mit kurzgeschorenen Haaren besteigen den Zug, Wehrdienstleistende, die an einen anderen Standort verlegt werden.
Ich habe einen seitlichen oberen Liegeplatz. Auf der Pritsche unter mir liegt ein älterer, hagerer Burjate. Es wird schon Nachmittag, aber er denkt gar nicht daran, aufzustehen, sondern liest und telefoniert stundenlang in seiner mir unverständlichen Muttersprache gemütlich in Horizontalstellung. Die Liege kann in ein Tischchen mit zwei Sitzplätzen rechts und links davon verwandelt werden, wovon einer meiner wäre. Auf meine Bitte hin erhebt sich mein Nachbar dann endlich, ich kann mich setzen. Wir kommen ins Gespräch, er erzählt stolz von seinem Arbeitsplatz, zu dem er unterwegs ist: das Kosmodrom Wostotschnyj (Östliches Kosmodrom), ein neues russisches Baikonur, ein Weltraumbahnhof im Fernen Osten, wo ab 2023 bemannte Raumschiffe starten sollen. Und er ist beim Bau dabei! Der Mann sieht aber nicht wie ein Ingenieur, sondern eher nach Taiga und Steppe aus, zeigt mir Jagdbilder von sich mit abgetrennten Wildschweinköpfen und nimmt zwischendurch ungefragt einen Schluck Tee aus meiner Tasse. Ich hatte gerade großen Durst, ist seine Reaktion auf mein Stirnrunzeln. Gelegentlich greift er in seine Reisetasche, setzt eine Fünf-Liter-Plastikflasche mit einer teefarbenen Flüssigkeit an den Mund und trinkt in großen Zügen.
Der Zug zuckelt langsam dahin, vom heiteren Himmel scheint die klare Wintersonne, außen sind es trockene minus 15, im Zug komfortable 24 Grad. Die Landschaft ist von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. An den Rändern der Fenster im Zug bildet sich eine Eisschicht. Meine Nachbarin auf der anderen Seite des Ganges ist eine Mongolin, die ihren in Chabarowsk studierenden Sohn besucht. Der burjatische Kosmodrombauer und sie unterhalten sich burjatisch-mongolisch, die beiden Sprachen sind einander sehr ähnlich. Alle paar Stunden hält der Zug länger, das sind wertvolle Momente, 15 Minuten zum Vertreten der Beine auf dem Bahnsteig, ich sprinte über die Gleise und kaufe frischen Kefir.
Am späten Nachmittag wird die Luft im Wagen dick. Es riecht nach Essen und Schweiß. „Wer hat die Toiletten verstopft“, ruft die Zugbegleiterin mit heiserer Stimme durch den Gang, „hundertmal sage ich, kein Papier hineinwerfen! Wer war es?“ Natürlich meldet sich niemand. „Ich schließe jetzt die Toiletten zu, sehen Sie zu, wie Sie klarkommen!“ Ich verdrücke mich mit den Studenten in den fast leeren Restaurantwagen und lade sie auf einen Tee und Kekse. Wir bereiten uns mit Sprachspielen auf die Deutscholympiade vor – dank der Anregungen von Freund Florian, Deutsch-als-Fremdsprache-Spieleexperte, habe ich ein halbes Dutzend davon im Gepäck.
Am nächsten Tag fahren wir nördlich der chinesischen Grenze entlang, durchqueren die von Zwangsarbeitern gebaute Siedlung Svobodnyj („Die Freie“) und verlassen Sibirien in Richtung Ferner Osten, dem östlichsten Landstreifen Russlands am Pazifik. Mein kosmodrombauender Nachbar ist inzwischen sehr geschwätzig geworden. Kurz bevor er aussteigt, frage ich ihn, was er da eigentlich in seiner riesigen Flasche hat. Guten Selbstgebrannten von einem Freund, nicht 40, sondern 42-prozentiger, ob ich probieren wolle? Ich war etwas verblüfft. Und warum schwimmen da Teebeutel drin? Ach, das ist nur zur Tarnung, damit es nicht so nach Alkohol aussieht, die Teebeutel verändern die Farbe, den Geschmack praktisch nicht.
Etwa einmal pro Stunde hält der Zug für zwei Minuten. Zwei Minuten reichen aus, um einen Menschen, wenn es sein muss, aus dem Zug zu werfen. Ich bin gerade am Einschlummern, da wecken mich hektische Schreie vom hinteren Wagenende auf. „Los, raus hier!“ – „Ich gehe nirgendwohin.“ – „Raus jetzt, sage ich!“ Zwei Polizisten reißen einen Mann von seinem Platz und zerren ihn durch die Tür auf den Bahnsteig. „Wo ist seine Tasche?“ – „Verdammte Scheiße, lasst mich in Ruhe!“ – „Beeilt euch, ihr haltet den Zug auf!“ Die Polizisten drücken den um sich schlagenden Mann draußen auf den Boden, der Zug setzt sich in Bewegung. Es stellt sich heraus, dass er getrunken und seine Nachbarin, eine Frau mit kleinem Kind, belästigt hat. Die Frau hat die Zugbegleiterin und diese die Bahnpolizei geholt. Alkohol im Zug ist verboten, wer trinkt und es sieht keiner, wie mein Nachbar, wird in Ruhe gelassen, wer sich danebenbenimmt, fliegt raus. Noch fünf Minuten ist der Mann Gesprächsthema, dann geht die Fahrt weiter, als hätte es ihn nie gegeben.
Am Sonntag Morgen erreichen wir Chabarowsk. Zwei Koreaner lassen sich auf dem Bahnsteig mit mir fotografieren. Vielleicht halten sie mich mit meiner schwarzen, pelzbekragten Daunenjacke für einen Russen. Es sind Ingenieure aus Nordkorea, nach sieben Jahren Arbeit in Russland kehren sie in die Heimat zurück. Und, wie ist es in ihrem Land so, lebt es sich gut, frage ich und erhalte zur Antwort ein undurchdringliches asiatisches Lächeln. Ich traue mich nicht, weiter nachzufragen.
Hinter Chabarowsk knickt die Strecke steil nach Süden ab. Der Schnee verschwindet, wir fahren durch eine grasgelbe und erdbraune Landschaft. Die Studenten lernen fleißig Deutsch und fragen mich, wie sagt man dieses und was heißt jenes. Ich vertreibe mir die Zeit mit der Lektüre von Herta Müllers „Atemschaukel“. Ein junger Deutsch-Rumäne im sowjetischen Arbeitslager, was würde passieren, wenn ich das Buch im Literaturkurs bespreche? Zwischendurch schlürfe ich Grüntee und vergleiche Bitterschokolade. Babajewskij, trocken und fad. Rossijskij, schmeckt nach Spiritus. Ljuks, zartschmelzend und lecker, eindeutig die beste. Unterdessen nähert sich der Zug Wladiwostok. Wir sind hier im Primorskij Krai, dem russische Zipfel zwischen China und dem Pazifik. Aus dem linken Fenster fällt der Blick auf die Berge des Sichote-Alin-Gebirges, dahinter ist die eurasische Landmasse dann zu Ende und es beginnt das Japanische Meer. Kurz nach 20 Uhr, nach 62 Stunden Fahrt, kommen wir an in Wladiwostok, Endpunkt der Transsibirischen Eisenbahn, und begeben uns zum Wohnheim der Fernöstlichen Föderalen Universität.
Mit Jan, Lena und Dolgorma im Zugrestaurant
Eis und Schnee im Durchgang zwischen zwei Wagen
Deutsch lernen für die Olympiade
Ein kurzer Zwischenhalt am Abend