Donnerstag, 19. November 2015

Etwas Kulturwissenschaft: Hofstede und Hall

Ich habe mir ein Thermometer und ein Tütchen Nägel gekauft und das Thermometer außen an meinen verglasten Balkon genagelt. Heute früh zeigte es minus achtzehn. Jetzt gerade, um die Mittagszeit, hat es sich auf minus zwölf hochgearbeitet. Nicht schlecht für Mitte November!
Übermorgen früh besteige ich zusammen mit vier Studenten den Zug nach Wladiwostok, wohin ich sie zu einer Deutsch-Olympiade begleite. Wohnen werden wir dort im Wohnheim der Universität. Die Fahrtkosten werden den Studenten von unserer Uni erstattet, die Unterkunft müssen sie selbst zahlen. Wie viel wird es kosten? Man weiß es nicht richtig, und man hat sich entschieden, auch nicht so genau nachzufragen – es wird sich vor Ort schon alles zum Besten regeln.
Ich stolpere immer wieder über solche und ähnliche kleine Momente, die mit meinem Verständnis von Informationsweitergabe und Bescheidwissenmüssen nicht zu vereinbaren sind. Warum ist das hier so? Warum hält ein Fernbus unterwegs an und fährt nach 20 Minuten weiter, ohne dass der Fahrer ein Wort darüber verliert, wo man sich gerade befindet, dass das jetzt eine Pause zum Essen und Trinken ist und es in soundsovielen Minuten weitergeht? Warum quellen deutsche Unis über von Flyern, Broschüren und sonstigem kostenlosen Informationsmaterial, während ich hier an meinem Institut fast der einzige bin, der auf ein kleines Tischchen im Erdgeschoss mitunter ein paar Prospekte über deutsche Unis und Studiengänge auslegt? Eine Antwort darauf habe ich bei Geert Hofstede und Edward Hall gefunden. Die beiden Wissenschaftler haben sich mit Unterschieden zwischen den Kulturen beschäftigt und sogenannte „Kulturelle Dimensionen“ beschrieben, in denen sich die Menschheit an verschiedenen Orten auf der Welt maßgeblich unterscheidet.
Eine dieser Dimensionen heißt „Hohe versus geringe Kontextabhängigkeit“. Hohe Kontextabhängigkeit heißt: Dinge erschließen sich aus dem Zusammenhang, es ist nicht üblich, sie direkt beim Namen zu nennen, ihre Bekanntheit wird implizit vorausgesetzt. Das Verbalisieren von zu vielen Details kann als negativ oder aufdringlich gelten. Hierzu gehört die russische Kultur. Man weiß einfach, wo man sich auf einer Reise unterwegs befindet, dass man demnächst auch ankommt, und es ist ganz logisch, dass der Bus so lange hält, wie die Einnahme eines Essens in der Imbiss-Stube dauert. Der deutsche Ausländer natürlich wünscht sich einen sprachlichen Ausdruck: 20 Minuten Halt, nicht 25, und wir sind noch 100 Kilometer vom Ziel entfernt, genauer: 112. Die westlichen Kulturen dagegen sind Orte „geringer Kontextabhängigkeit“: auch ohne Menschen zu kennen, Beziehungen zu haben und nonverbale Zeichen entschlüsseln zu können, finde ich viele Informationen allgemein zugänglich irgendwo beschrieben.
Andere Dimensionen sind „Hohe versus geringe Machtdistanz“, „Individualismus versus Kollektivismus“, „Hohe versus niedrige Unsicherheitsvermeidung“, „monochrones versus polychrones Zeitverständnis“ und „Raumempfinden“. Völlig undenkbar, dass Studenten hier Dozenten offen kritisieren oder an ihrer Kompetenz zweifeln (hohe Machtdistanz). Wenn ich von meinen Wochenendausflügen erzähle, schütteln manchmal die Kollegen ungläubig den Kopf: und du warst dort allein? (Kollektivismus) Wenn ich versuche, mit den Kollegen eine Veranstaltung zu planen, dann bleibt alles bis zuletzt irgendwie schwammig (niedrige Unsicherheitsvermeidung). Es ist selbstverständlich, dass in einer Theatervorstellung ein wichtiger Anruf entgegengenommen wird (polychrones Zeitverständnis: Dinge erfolgen nicht nacheinander, sondern parallel, mit möglichen Unterbrechungen und Verschiebungen). Im Zweiergespräch trete ich manchmal unwillkürlich einen halben Schritt zurück, woraufhin mein Gegenüber einen halben Schritt auf mich zumacht: es gibt Unterschiede in der den Körper umgebenden persönlichen Komfortzone, in die man nicht so ohne Weiteres einzudringen hat (Raumempfinden). Viele meiner Beobachtungen diverser russischer Merkwürdigkeiten lassen sich ganz gut als Ausdruck der einen oder anderen „Kulturdimension“ beschreiben.
Die Thesen von Hofstede und Hall sollen heute Thema in der Stunde mit meinen Masterstudenten sein. Das letzte Mal hatten wir das deutsche und russische Schulsystem verglichen, anschaulich gemacht mit dem Zehntklassenzeugnis von meiner Schwester.

Thema im Unterricht: ein deutsches Schulzeugnis verstehen