Ich habe mir ein Thermometer und ein Tütchen
Nägel gekauft und das Thermometer außen an meinen verglasten Balkon genagelt.
Heute früh zeigte es minus achtzehn. Jetzt gerade, um die Mittagszeit, hat es
sich auf minus zwölf hochgearbeitet. Nicht schlecht für Mitte November!
Übermorgen früh besteige ich zusammen mit vier
Studenten den Zug nach Wladiwostok, wohin ich sie zu einer Deutsch-Olympiade
begleite. Wohnen werden wir dort im Wohnheim der Universität. Die Fahrtkosten
werden den Studenten von unserer Uni erstattet, die Unterkunft müssen sie
selbst zahlen. Wie viel wird es kosten? Man weiß es nicht richtig, und man hat
sich entschieden, auch nicht so genau nachzufragen – es wird sich vor Ort schon
alles zum Besten regeln.
Ich stolpere immer wieder über solche und
ähnliche kleine Momente, die mit meinem Verständnis von Informationsweitergabe
und Bescheidwissenmüssen nicht zu vereinbaren sind. Warum ist das hier so?
Warum hält ein Fernbus unterwegs an und fährt nach 20 Minuten weiter, ohne dass
der Fahrer ein Wort darüber verliert, wo man sich gerade befindet, dass das
jetzt eine Pause zum Essen und Trinken ist und es in soundsovielen Minuten
weitergeht? Warum quellen deutsche Unis über von Flyern, Broschüren und
sonstigem kostenlosen Informationsmaterial, während ich hier an meinem Institut
fast der einzige bin, der auf ein kleines Tischchen im Erdgeschoss mitunter ein
paar Prospekte über deutsche Unis und Studiengänge auslegt? Eine Antwort darauf
habe ich bei Geert Hofstede und Edward Hall gefunden. Die beiden
Wissenschaftler haben sich mit Unterschieden zwischen den Kulturen beschäftigt
und sogenannte „Kulturelle Dimensionen“ beschrieben, in denen sich die
Menschheit an verschiedenen Orten auf der Welt maßgeblich unterscheidet.
Eine dieser Dimensionen heißt „Hohe versus
geringe Kontextabhängigkeit“. Hohe Kontextabhängigkeit heißt: Dinge erschließen
sich aus dem Zusammenhang, es ist nicht üblich, sie direkt beim Namen zu
nennen, ihre Bekanntheit wird implizit vorausgesetzt. Das Verbalisieren von zu
vielen Details kann als negativ oder aufdringlich gelten. Hierzu gehört die
russische Kultur. Man weiß einfach,
wo man sich auf einer Reise unterwegs befindet, dass man demnächst auch
ankommt, und es ist ganz logisch, dass der Bus so lange hält, wie die Einnahme
eines Essens in der Imbiss-Stube dauert. Der deutsche Ausländer natürlich
wünscht sich einen sprachlichen Ausdruck: 20 Minuten Halt, nicht 25, und wir
sind noch 100 Kilometer vom Ziel entfernt, genauer: 112. Die westlichen
Kulturen dagegen sind Orte „geringer Kontextabhängigkeit“: auch ohne Menschen
zu kennen, Beziehungen zu haben und nonverbale Zeichen entschlüsseln zu können,
finde ich viele Informationen allgemein zugänglich irgendwo beschrieben.
Andere Dimensionen sind „Hohe
versus geringe Machtdistanz“, „Individualismus versus Kollektivismus“, „Hohe
versus niedrige Unsicherheitsvermeidung“, „monochrones versus polychrones
Zeitverständnis“ und „Raumempfinden“. Völlig undenkbar, dass Studenten hier
Dozenten offen kritisieren oder an ihrer Kompetenz zweifeln (hohe
Machtdistanz). Wenn ich von meinen Wochenendausflügen erzähle, schütteln
manchmal die Kollegen ungläubig den Kopf: und du warst dort allein? (Kollektivismus) Wenn ich
versuche, mit den Kollegen eine Veranstaltung zu planen, dann bleibt alles bis
zuletzt irgendwie schwammig (niedrige Unsicherheitsvermeidung). Es ist
selbstverständlich, dass in einer Theatervorstellung ein wichtiger Anruf
entgegengenommen wird (polychrones Zeitverständnis: Dinge erfolgen nicht
nacheinander, sondern parallel, mit möglichen Unterbrechungen und
Verschiebungen). Im Zweiergespräch trete ich manchmal unwillkürlich einen
halben Schritt zurück, woraufhin mein Gegenüber einen halben Schritt auf mich
zumacht: es gibt Unterschiede in der den Körper umgebenden persönlichen
Komfortzone, in die man nicht so ohne Weiteres einzudringen hat
(Raumempfinden). Viele meiner Beobachtungen diverser russischer
Merkwürdigkeiten lassen sich ganz gut als Ausdruck der einen oder anderen
„Kulturdimension“ beschreiben.
Die Thesen von Hofstede und Hall sollen heute Thema in der Stunde mit meinen Masterstudenten sein. Das letzte Mal hatten wir das deutsche und russische Schulsystem verglichen, anschaulich gemacht mit dem Zehntklassenzeugnis von meiner Schwester.
Die Thesen von Hofstede und Hall sollen heute Thema in der Stunde mit meinen Masterstudenten sein. Das letzte Mal hatten wir das deutsche und russische Schulsystem verglichen, anschaulich gemacht mit dem Zehntklassenzeugnis von meiner Schwester.
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Thema im Unterricht: ein deutsches Schulzeugnis verstehen |