Bei eisiger Kälte und Wind war ich am Samstag zusammen mit
den Studentinnen meines Master-Kurses (also meiner ältesten Gruppe) auf dem
„Kahlen Berg“ am Stadtrand von Ulan-Ude. Dort zeigten sie mir das buddhistische
Rimpotschi-Zentrum: ein großer Dazan (Tempel) und zwei Museen, die von außen
aussehen wie riesige Stupas. Seseg, Ajagma, Tschimita und die zwei Erzhenas
sind Burjatinnen und konnten mir einiges erklären, Marina als orthodoxe
Christin war das erste Mal dort. Von der Anhöhe eröffnete sich uns ein
fantastischer Blick über die Stadt und die schneebedeckten Berge der Umgebung.
Es stellte sich heraus, dass die meisten der burjatischen Studentinnen noch nie
eine orthodoxe Kirche von innen gesehen haben. Warum erzähle ich ihnen im
Unterricht über Deutschland, wenn sie die Kulturen vor ihrer Haustür nicht
kennen? Vielleicht sollten wir das nächste Mal ein christliches Kloster
besuchen.
Vor fünf Jahren war ich schon einmal länger in Russland,
damals an der Fernöstlichen Staatlichen
Humanwissenschaftlichen Universität in Chabarowsk. Dort gab es keinen
Baikalsee, dafür den majestätischen Amur, und keine Steppenlandschaft, nur unendliche
Taiga-Wälder. Ulan-Ude, siebeneinhalbtausend Kilometer von Deutschland
entfernt, ist etwa in der Mitte der Ost-West-Ausdehnung Sibiriens, wo mich ein
kontinentaler, trockener Winter erwartet. Chabarowsk, noch dreitausend
Kilometer weiter östlich, gilt als Ferner Osten, wo ich einen feuchten,
windigen Winter erlebt habe. Hier in Burjatien sehen die Hälfte der Menschen
ganz und gar nicht russisch-europäisch, sondern sehr asiatisch aus, der
Buddhismus ist mit Dazanen und Stupas präsent, Holzstelen auf heiligen
Hügeln zeugen von schamanischen Traditionen. Im Fernen Osten am Amur spielen
die nicht-russischen Minderheiten wie Nenzen und Nanajer eine sehr
untergeordnete Rolle.
Mitunter denke ich schmunzelnd an meine Chabarowsker Zeit
zurück und stelle ein paar weitere Vergleiche an: damals hatte ich in einem
Wohnheim gewohnt. Jetzt habe ich eine Wohnung und muss keine Wachtjorscha wachklingeln, da ich nach
23 Uhr vor einem verschlossenen Eingang stehe – dafür gibt es allerdings auch
niemanden, der in meiner Abwesenheit Post im Empfang nehmen würde oder sich auf
einen Plausch mit mir freut, wenn ich von der Arbeit heimkomme. Der
Deutsch-Lehrstuhl an der Chabarowsker Uni war besser organisiert und die
Studenten hatten ein höheres Sprachniveau. Das Leitungswasser in Ulan-Ude ist
nicht ungenießbar wie damals, als ich mir jede Woche einen Wasserkanister in
die Wohnung liefern lassen musste. Kurz nach meiner Ankunft in Chabarowsk stand
das erste Fernsehteam vor der Bürotür, das die deutschen Exoten – meine
Kollegin und mich – unbedingt sprechen und filmen wollte. Von einer solchen
Medienaufmerksamkeit bin ich bisher verschont geblieben.
Warum bereitet mir das Leben in weiter Entfernung von meiner
Heimat so ein großes Vergnügen? Es hat vielleicht damit zu tun, dass ich in
besonderer Weise in meiner Einzigartigkeit
bestätigt werde. Wenn ich in Deutschland einer kulturellen oder sozialen
Tätigkeit nachgehe, dann weiß ich, dass hinter der nächsten Ecke wahrscheinlich
drei Leute bereitstehen, die an meiner Stelle das Gleiche machen könnten, und
zwar noch besser. Solche Sorgen plagen mich hier nicht. Ich bin hier der
einzige, der einen deutschen Studentenchor leiten kann, niemand in ganz
Burjatien kann so schön Bach-Suiten auswendig auf dem Cello spielen, und wer
sonst außer mir wäre in der Lage, eine „Tabu“-Spielerunde zu moderieren? In
Deutschland bin ich einer von 80 Millionen, im flächenmäßig fast genauso großen
Burjatien einer von, sagen wir, fünf – ein nicht unerheblicher Unterschied für
das Lebensgefühl.
In dieser Woche war ich bei einer Besprechung anwesend, in
der meine russischen Kollegen die Zukunft der deutschen Sprache an unserem
Institut erörterten. Diese gestaltet sich schwierig. Deutsch als Hauptfach zu
studieren ist nicht populär, Englisch ist jetzt modern, Chinesisch im Kommen.
Ziel für das neue Studienjahr im Herbst 2016 ist es, zwei neue Erstsemestler-Gruppen zu jeweils 8
Studenten zusammenzubekommen. Um das zu erreichen, ist Propagandaarbeit an den
Schulen notwendig, Gespräche mit Lehrern und Eltern, die die Studienwahl der
Jugendlichen beeinflussen. – Für das nächste, ab Januar beginnende Semester
schlug ich vor, zwei Gruppen des dritten Studienjahres zusammenzulegen: es ist
mühsam, in einem Kurs von 6 Leuten zu unterrichten, von denen immer nur drei
anwesend sind, still und brav dasitzend - und jedesmal drei andere. Eine
Gruppengröße von 10 wäre ideal, dann ist eine ganz andere Energie im Raum und
es sind weitaus mehr verschiedene Übungsformen möglich.
Wie auch in Chabarowsk, so ist über Westeuropa der Tango argentino hier in Ulan-Ude
angekommen. Am Freitag besuchte ich eine Milonga,
wie die Tanzabende in der Szene heißen. Eigentlich spiele ich viel besser
Tango, als ich ihn tanze, meinte ich etwas entschuldigend zwischendurch. Na
dann, komm hierher mit deinem Cello, wurde ich eingeladen. Findet mir erstmal
eine Geigerin, dann kann es losgehen, war meine Antwort. Das wird hier nicht
einfach, sagte Pianist Arthur, der an einer Ballettschule, dem Choreografischen
College unterrichtet, aber er werde sich umhören.
Eine tolle Reise durch die zugeschneite
sibirisch-fernöstliche Unendlichkeit erwartet mich am nächsten Wochenende: Gemeinsam
mit vier Deutsch-Studenten werde ich die dreitausend Kilometer zwischen
Ulan-Ude und Chabarowsk mit dem Zug zurücklegen, dort allerdings nicht
aussteigen, sondern noch einen halben Tag weiter fahren, bis Wladiwostok. In
dieser Stadt, dem Endpunkt der transsibirischen Eisenbahn, findet eine
Deutsch-Olympiade statt. Ich begleite die teilnehmenden Studis meiner Uni auf
dem Weg und bin Mitglied der Wettbewerbs-Jury.
Ausflug mit meinen Master-Studentinnen auf den Kahlen Berg |