Montag, 16. November 2015

Ulan-Ude und Chabarowsk

Bei eisiger Kälte und Wind war ich am Samstag zusammen mit den Studentinnen meines Master-Kurses (also meiner ältesten Gruppe) auf dem „Kahlen Berg“ am Stadtrand von Ulan-Ude. Dort zeigten sie mir das buddhistische Rimpotschi-Zentrum: ein großer Dazan (Tempel) und zwei Museen, die von außen aussehen wie riesige Stupas. Seseg, Ajagma, Tschimita und die zwei Erzhenas sind Burjatinnen und konnten mir einiges erklären, Marina als orthodoxe Christin war das erste Mal dort. Von der Anhöhe eröffnete sich uns ein fantastischer Blick über die Stadt und die schneebedeckten Berge der Umgebung. Es stellte sich heraus, dass die meisten der burjatischen Studentinnen noch nie eine orthodoxe Kirche von innen gesehen haben. Warum erzähle ich ihnen im Unterricht über Deutschland, wenn sie die Kulturen vor ihrer Haustür nicht kennen? Vielleicht sollten wir das nächste Mal ein christliches Kloster besuchen.
Vor fünf Jahren war ich schon einmal länger in Russland, damals an der Fernöstlichen Staatlichen Humanwissenschaftlichen Universität in Chabarowsk. Dort gab es keinen Baikalsee, dafür den majestätischen Amur, und keine Steppenlandschaft, nur unendliche Taiga-Wälder. Ulan-Ude, siebeneinhalbtausend Kilometer von Deutschland entfernt, ist etwa in der Mitte der Ost-West-Ausdehnung Sibiriens, wo mich ein kontinentaler, trockener Winter erwartet. Chabarowsk, noch dreitausend Kilometer weiter östlich, gilt als Ferner Osten, wo ich einen feuchten, windigen Winter erlebt habe. Hier in Burjatien sehen die Hälfte der Menschen ganz und gar nicht russisch-europäisch, sondern sehr asiatisch aus, der Buddhismus ist mit Dazanen und Stupas präsent, Holzstelen auf heiligen Hügeln zeugen von schamanischen Traditionen. Im Fernen Osten am Amur spielen die nicht-russischen Minderheiten wie Nenzen und Nanajer eine sehr untergeordnete Rolle.
Mitunter denke ich schmunzelnd an meine Chabarowsker Zeit zurück und stelle ein paar weitere Vergleiche an: damals hatte ich in einem Wohnheim gewohnt. Jetzt habe ich eine Wohnung und muss keine Wachtjorscha wachklingeln, da ich nach 23 Uhr vor einem verschlossenen Eingang stehe – dafür gibt es allerdings auch niemanden, der in meiner Abwesenheit Post im Empfang nehmen würde oder sich auf einen Plausch mit mir freut, wenn ich von der Arbeit heimkomme. Der Deutsch-Lehrstuhl an der Chabarowsker Uni war besser organisiert und die Studenten hatten ein höheres Sprachniveau. Das Leitungswasser in Ulan-Ude ist nicht ungenießbar wie damals, als ich mir jede Woche einen Wasserkanister in die Wohnung liefern lassen musste. Kurz nach meiner Ankunft in Chabarowsk stand das erste Fernsehteam vor der Bürotür, das die deutschen Exoten – meine Kollegin und mich – unbedingt sprechen und filmen wollte. Von einer solchen Medienaufmerksamkeit bin ich bisher verschont geblieben.
Warum bereitet mir das Leben in weiter Entfernung von meiner Heimat so ein großes Vergnügen? Es hat vielleicht damit zu tun, dass ich in besonderer Weise in meiner Einzigartigkeit bestätigt werde. Wenn ich in Deutschland einer kulturellen oder sozialen Tätigkeit nachgehe, dann weiß ich, dass hinter der nächsten Ecke wahrscheinlich drei Leute bereitstehen, die an meiner Stelle das Gleiche machen könnten, und zwar noch besser. Solche Sorgen plagen mich hier nicht. Ich bin hier der einzige, der einen deutschen Studentenchor leiten kann, niemand in ganz Burjatien kann so schön Bach-Suiten auswendig auf dem Cello spielen, und wer sonst außer mir wäre in der Lage, eine „Tabu“-Spielerunde zu moderieren? In Deutschland bin ich einer von 80 Millionen, im flächenmäßig fast genauso großen Burjatien einer von, sagen wir, fünf – ein nicht unerheblicher Unterschied für das Lebensgefühl.
In dieser Woche war ich bei einer Besprechung anwesend, in der meine russischen Kollegen die Zukunft der deutschen Sprache an unserem Institut erörterten. Diese gestaltet sich schwierig. Deutsch als Hauptfach zu studieren ist nicht populär, Englisch ist jetzt modern, Chinesisch im Kommen. Ziel für das neue Studienjahr im Herbst 2016 ist es, zwei neue Erstsemestler-Gruppen zu jeweils 8 Studenten zusammenzubekommen. Um das zu erreichen, ist Propagandaarbeit an den Schulen notwendig, Gespräche mit Lehrern und Eltern, die die Studienwahl der Jugendlichen beeinflussen. – Für das nächste, ab Januar beginnende Semester schlug ich vor, zwei Gruppen des dritten Studienjahres zusammenzulegen: es ist mühsam, in einem Kurs von 6 Leuten zu unterrichten, von denen immer nur drei anwesend sind, still und brav dasitzend - und jedesmal drei andere. Eine Gruppengröße von 10 wäre ideal, dann ist eine ganz andere Energie im Raum und es sind weitaus mehr verschiedene Übungsformen möglich.
Wie auch in Chabarowsk, so ist über Westeuropa der Tango argentino hier in Ulan-Ude angekommen. Am Freitag besuchte ich eine Milonga, wie die Tanzabende in der Szene heißen. Eigentlich spiele ich viel besser Tango, als ich ihn tanze, meinte ich etwas entschuldigend zwischendurch. Na dann, komm hierher mit deinem Cello, wurde ich eingeladen. Findet mir erstmal eine Geigerin, dann kann es losgehen, war meine Antwort. Das wird hier nicht einfach, sagte Pianist Arthur, der an einer Ballettschule, dem Choreografischen College unterrichtet, aber er werde sich umhören.
Eine tolle Reise durch die zugeschneite sibirisch-fernöstliche Unendlichkeit erwartet mich am nächsten Wochenende: Gemeinsam mit vier Deutsch-Studenten werde ich die dreitausend Kilometer zwischen Ulan-Ude und Chabarowsk mit dem Zug zurücklegen, dort allerdings nicht aussteigen, sondern noch einen halben Tag weiter fahren, bis Wladiwostok. In dieser Stadt, dem Endpunkt der transsibirischen Eisenbahn, findet eine Deutsch-Olympiade statt. Ich begleite die teilnehmenden Studis meiner Uni auf dem Weg und bin Mitglied der Wettbewerbs-Jury. 

Ausflug mit meinen Master-Studentinnen auf den Kahlen Berg