Donnerstag, 12. November 2015

Bildung



Gestern war ich zum ersten Mal hier in einer Schule, nämlich in der Schule Nummer Eins, wo erweiterter Deutschunterricht angeboten wird. Dort unterrichtet Sabine, eine Deutsche, die zusammen mit ihrem Mann etwa zur gleichen Zeit wie ich nach Ulan-Ude gekommen ist. An der Schule Nummer Eins haben die Schüler die Möglichkeit, in der 11. Klasse – in Russland die letzte Jahrgangsstufe – eine anspruchsvolle Deutschprüfung abzulegen auf einem Niveau, das sie befähigt, an einer deutschen Uni zu studieren. Ich hospitierte in einer 6. und einer 11. Klasse. Die Elftklässler waren richtig aufgeweckt und unterhielten sich gerne mit mir. Alle möchten im nächsten Herbst studieren, und alle in einer größeren Stadt, nicht in Ulan-Ude. Das russische Bildungssystem sieht nach der Schule kaum eine Alternative zum Studium vor, es gibt kein richtig entwickeltes Berufsausbildungssystem wie in Deutschland. Das drückt natürlich massiv das Niveau an den Unis nach unten, weil auch Leute, die eigentlich praktisch begabt sind, zu für sie belastender Kopfarbeit genötigt werden. Das russische Abitur, das „Einheitliche Staatliche Examen“, gilt auch nur für eine begrenzte Zeit – man kann mit dem Studienbeginn gar nicht beliebig warten, sonst muss man die Prüfungen wiederholen.
An russischen Schulen tragen die Schüler Schuluniformen, somit entfällt das Gehänseltwerden wegen uncooler Kleidung – das hätte ich mir in meiner eigenen Schulzeit mal gewünscht… Vor dem Beginn der Stunde stehen die Schüler auf, begrüßen die Lehrerin und werden dann von ihr zum Hinsetzen aufgefordert. Die Stunden an der Schule Nummer Eins dauern nur 40 Minuten. Sabine unterrichtet mit viel Humor und Geduld, die besonders bei den Sechstklässlern vonnöten ist: auch nach 4 Jahren Deutschunterricht können sie noch fast gar nichts.
Die Disziplin an russischen Schulen ist vermutlich besser als an deutschen, es geht etwas strenger und förmlicher zu. Deshalb hatte ich mich am Beginn meiner pädagogischen Laufbahn für die Arbeit mit Erwachsenen und gegen den Schuldienst entschieden – mir graute davor, meine Kraft in das Herstellen von Ordnung in aufmüpfigen Klassen stecken zu müssen, ich wollte an Inhalten arbeiten. Mit zunehmender Unterrichtserfahrung sinkt die Zeit, die ich zur Vorbereitung auf eine Stunde brauche. Das Endergebnis dieser Entwicklung ist dann bei manchen Kollegen die sogenannte „überschwellige Pädagogik“: beim Betreten des Klassenraumes, „über der Schwelle“, wird sich das Thema des Unterrichts ausgedacht. Ich finde das nicht erstrebenswert. Etwas Vorbereitung lohnt sich immer, mir macht es dann mehr Spaß und den Studenten auch.
Vor dem Beginn meines Unterrichts in Raum 3310 habe ich neulich einen neugierigen Blick in die offenen Schränke geworfen. Dort fand ich staubige Bücher, Mappen und mit der Hand beschriebenen Zettel aus den 80er Jahren, aus Sowjetzeiten, Unterrichtsmaterial damaliger Dozenten, zu alt zum Wegwerfen, würdig eines Platzes in einem Museum! Interessant, welche Akribie und Detailverliebtheit, welches Bemühen um klassische Bildungswerte aus den Aufzeichnungen spricht, wie sparsam mit Papier umgegangen wurde, wie klein und dicht beschrieben die Zettel sind. Unter anderem fand ich ein schreibmaschinenbeschriebenes Heftchen „Methodische Ausarbeitung zur Hauslektüre von Anna Seghers ‚Das Siebte Kreuz‘“, ähnlich wie Remarques „Die drei Kameraden“ ein zu Ostzeiten sehr populäres Buch. Ich habe es vor Kurzem gelesen und fand es richtig gut: Sieben Antifaschisten fliehen aus einem KZ, sechs werden wieder eingefangen, einer schafft es nach Holland. Sehr spannend geschrieben, wohl einer der ganz wenigen Romane, die ein realistischen Bild von Nazideutschland vermitteln.
Klassische musikalische Bildung habe ich auch gestern im Opernhaus erlebt, wo Prokofjews Kantate „Alexander Newskij“ aufgeführt wurde. Der Saal war randvoll mit Schulklassen, eine ständige Flüsterkulisse lag während der Aufführung im Raum. Zum ersten Mal erlebte ich das Opernorchester nicht versenkt im Orchestergraben, sondern sichtbar auf der Bühne. Unter den Geigern erspähte ich Sergej Georgiewitsch, Ulan-Udes bester Geigenbauer, von dem ich bereits erzählt habe, und bei den Cellisten Tanja Sanchojewa, die auf einem Leihinstrument spielt und mir ihr eigenes verkaufen möchte. Mulmiger, dünner Klang, steif vor den Pulten sitzende Geiger, die offensichtlich jede überflüssige Bewegung vermeiden – doch ich schob meine europäischen Maßstäbe zur Seite, schloss die Augen und stellte mir das historische Ereignis zu Prokofjews spannender, lautmalerischer Musik vor. Im Jahre 1242 besiegte Alexander Newskij die nach Osten vorrückenden Ritter des Deutschen Ordens und verhinderte somit das Vorrücken des Katholizismus‘ in den slawischen Raum – ein zentrales Ereignis der russischen Geschichte.

In einer Zeitung hatte ich im Oktober einen Ausspruch von Putin gelesen, der bei einem Treffen mit Pädagogen meinte, man müsse die „wirklichen kulturellen Werte von der Subkultur unterscheiden“. Das würde wohl kein westlicher Politiker so sagen. Während Subkulturen in Deutschland eher Ausdruck von Freiheit und Vielfalt sind, hat dieses Wort in Russland oft einen negativen Beiklang. Zumindest offiziell ist man auf der Suche nach als klassisch, wahr und zeitlos angesehenen kulturellen Bildungswerten.
Im Deutschunterricht der sechsten Klasse
Museumsreif: Uni-Unterrichtsmaterial aus den 80er Jahren