Gestern war ich zum ersten Mal
hier in einer Schule, nämlich in der Schule Nummer Eins, wo erweiterter
Deutschunterricht angeboten wird. Dort unterrichtet Sabine, eine Deutsche, die
zusammen mit ihrem Mann etwa zur gleichen Zeit wie ich nach Ulan-Ude gekommen
ist. An der Schule Nummer Eins haben die Schüler die Möglichkeit, in der 11.
Klasse – in Russland die letzte Jahrgangsstufe – eine anspruchsvolle
Deutschprüfung abzulegen auf einem Niveau, das sie befähigt, an einer deutschen
Uni zu studieren. Ich hospitierte in einer 6. und einer 11. Klasse. Die
Elftklässler waren richtig aufgeweckt und unterhielten sich gerne mit mir. Alle
möchten im nächsten Herbst studieren, und alle in einer größeren Stadt, nicht
in Ulan-Ude. Das russische Bildungssystem sieht nach der Schule kaum eine
Alternative zum Studium vor, es gibt kein richtig entwickeltes
Berufsausbildungssystem wie in Deutschland. Das drückt natürlich massiv das
Niveau an den Unis nach unten, weil auch Leute, die eigentlich praktisch begabt
sind, zu für sie belastender Kopfarbeit genötigt werden. Das russische Abitur,
das „Einheitliche Staatliche Examen“, gilt auch nur für eine begrenzte Zeit –
man kann mit dem Studienbeginn gar nicht beliebig warten, sonst muss man die
Prüfungen wiederholen.
An russischen Schulen tragen die
Schüler Schuluniformen, somit entfällt das Gehänseltwerden wegen uncooler
Kleidung – das hätte ich mir in meiner eigenen Schulzeit mal gewünscht… Vor dem
Beginn der Stunde stehen die Schüler auf, begrüßen die Lehrerin und werden dann
von ihr zum Hinsetzen aufgefordert. Die Stunden an der Schule Nummer Eins
dauern nur 40 Minuten. Sabine unterrichtet mit viel Humor und Geduld, die
besonders bei den Sechstklässlern vonnöten ist: auch nach 4 Jahren
Deutschunterricht können sie noch fast gar nichts.
Die Disziplin an russischen Schulen
ist vermutlich besser als an deutschen, es geht etwas strenger und förmlicher
zu. Deshalb hatte ich mich am Beginn meiner pädagogischen Laufbahn für die
Arbeit mit Erwachsenen und gegen den Schuldienst entschieden – mir graute
davor, meine Kraft in das Herstellen von Ordnung in aufmüpfigen Klassen stecken
zu müssen, ich wollte an Inhalten arbeiten. Mit zunehmender Unterrichtserfahrung
sinkt die Zeit, die ich zur Vorbereitung auf eine Stunde brauche. Das
Endergebnis dieser Entwicklung ist dann bei manchen Kollegen die sogenannte „überschwellige
Pädagogik“: beim Betreten des Klassenraumes, „über der Schwelle“, wird sich das
Thema des Unterrichts ausgedacht. Ich finde das nicht erstrebenswert. Etwas
Vorbereitung lohnt sich immer, mir macht es dann mehr Spaß und den Studenten
auch.
Vor dem Beginn meines Unterrichts
in Raum 3310 habe ich neulich einen neugierigen Blick in die offenen Schränke
geworfen. Dort fand ich staubige Bücher, Mappen und mit der Hand beschriebenen
Zettel aus den 80er Jahren, aus Sowjetzeiten, Unterrichtsmaterial damaliger
Dozenten, zu alt zum Wegwerfen, würdig eines Platzes in einem Museum! Interessant,
welche Akribie und Detailverliebtheit, welches Bemühen um klassische
Bildungswerte aus den Aufzeichnungen spricht, wie sparsam mit Papier umgegangen
wurde, wie klein und dicht beschrieben die Zettel sind. Unter anderem fand ich
ein schreibmaschinenbeschriebenes Heftchen „Methodische Ausarbeitung zur
Hauslektüre von Anna Seghers ‚Das Siebte Kreuz‘“, ähnlich wie Remarques „Die
drei Kameraden“ ein zu Ostzeiten sehr populäres Buch. Ich habe es vor Kurzem
gelesen und fand es richtig gut: Sieben Antifaschisten fliehen aus einem KZ,
sechs werden wieder eingefangen, einer schafft es nach Holland. Sehr spannend
geschrieben, wohl einer der ganz wenigen Romane, die ein realistischen Bild von
Nazideutschland vermitteln.
Klassische musikalische Bildung
habe ich auch gestern im Opernhaus erlebt, wo Prokofjews Kantate „Alexander
Newskij“ aufgeführt wurde. Der Saal war randvoll mit Schulklassen, eine
ständige Flüsterkulisse lag während der Aufführung im Raum. Zum ersten Mal
erlebte ich das Opernorchester nicht versenkt im Orchestergraben, sondern
sichtbar auf der Bühne. Unter den Geigern erspähte ich Sergej Georgiewitsch,
Ulan-Udes bester Geigenbauer, von dem ich bereits erzählt habe, und bei den
Cellisten Tanja Sanchojewa, die auf einem Leihinstrument spielt und mir ihr
eigenes verkaufen möchte. Mulmiger, dünner Klang, steif vor den Pulten sitzende
Geiger, die offensichtlich jede überflüssige Bewegung vermeiden – doch ich
schob meine europäischen Maßstäbe zur Seite, schloss die Augen und stellte mir
das historische Ereignis zu Prokofjews spannender, lautmalerischer Musik vor. Im
Jahre 1242 besiegte Alexander Newskij die nach Osten vorrückenden Ritter des
Deutschen Ordens und verhinderte somit das Vorrücken des Katholizismus‘ in den
slawischen Raum – ein zentrales Ereignis der russischen Geschichte.
In einer Zeitung hatte ich im
Oktober einen Ausspruch von Putin gelesen, der bei einem Treffen mit Pädagogen
meinte, man müsse die „wirklichen kulturellen Werte von der Subkultur
unterscheiden“. Das würde wohl kein westlicher Politiker so sagen. Während Subkulturen
in Deutschland eher Ausdruck von Freiheit und Vielfalt sind, hat dieses Wort in
Russland oft einen negativen Beiklang. Zumindest offiziell ist man auf der
Suche nach als klassisch, wahr und zeitlos angesehenen kulturellen
Bildungswerten.
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Im Deutschunterricht der sechsten Klasse |
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Museumsreif: Uni-Unterrichtsmaterial aus den 80er Jahren |