Eine Eingangshalle, hoch wie der
Berliner Hauptbahnhof, verglast und mit hochmoderner Beleuchtung. Rechts und
links mehrere Etagen, in denen sich mit großen Aufstellern und Bildschirmen Rosneft und Gasprombank als Sponsoren präsentieren. Ein Labyrinth an Gängen und
Fahrstühlen, riesige Konferenzräume. Gepolsterte Sitzecken zum Relaxen,
chillige Cafes mit entspannter Lounge-Musik, farblich aufeinander abgestimmtes,
durchgestyltes Mobiliar. Statt „Institut für Wirtschaft“ heißt es „School of
business“. Kaum zu glauben, dass wir uns in Russland befinden, in der wohl
modernsten Hochschule des Landes: der Fernöstlichen
Föderalen Universität.
Im Jahre 2012 fand auf der
Russkij-Insel südlich von Wladiwostok der asiatisch-pazifische
Wirtschaftsgipfel statt. Zu diesem Zweck wurde die weitgehend unbewohnte Insel
mit einer milliardenteuren Brücke – die weltgrößte Schrägseil-Brücke – mit dem
Festland verbunden und an der Küste ein gigantischer Gebäudekomplex aus dem
Boden gestampft, der nach Ende des Gipfeltreffens als Hochschulcampus an die
Universität übergeben wurde. Lehrgebäude, Hotelburgen und Wohnheime, Busse, die
von einem Ende zum anderen fahren, ein Park, eine schicke Uferpromenade – und
das soll Russland sein, mein vertrautes, halb verfallenes, gemütlich-marodes,
verstaubtes, geschichtsträchtiges, altehrwürdiges Russland? Mit großem
Widerwillen bezog ich mein Hotelzimmer und hatte überhaupt keine Lust, in
dieser von einem hohen Sicherheitszaun umgebenen Architekturmischung mit einer
Atmosphäre von Krankenhaus, Pflegeheim und Bahnhof die nächsten vier Tage zu
verbringen.
Die Fernöstliche Föderale
Universität ist aus der Zusammenlegung von vier großen Wladiwostoker
Universitäten entstanden. In Russland gibt es viel zu viele Hochschulen,
weshalb der Trend seit Jahren zu Zusammenlegungen und Schließungen geht. Föderal bedeutet: die Uni ist zur
Elite-Hochschule auserkoren und soll im internationalen Wettbewerb mithalten.
Wissenschaft und Lehre auf westlichem Niveau ist angesagt, Effektivität und
Modernität, Schluss mit dem Staub aus Sowjetzeiten. Zwischen den einzelnen
Teilen der Deutsch-Olympiade, zu der ich mit meinen vier Studenten hier
angereist war, irrte ich orientierungslos in den endlosen Gängen der
labyrinthisch miteinander verbundenen Gebäude umher, kam mir vor wie in einem
Flughafen und sehnte mich nach dem kleinen, gemütlichen Institutsgebäude in
Ulan-Ude.
Wladiwostok liegt in
landschaftlich wunderschöner Umgebung am zum Pazifik gehörenden Japanischen
Meer. Die hügelige Umgebung, Steilküste, Felsen, Klippen und Inseln geben ein
tolles Bild und belohnen die in Moskau eingestiegenen Transsibirien-Reisenden
für die Strapazen von sieben Tagen Zugfahrt. In den Tagen meines Besuches wehte
ein schneidender, kalter, feuchter Wind, der am letzten Abend zu einem
regelrechten Sturm ausartete. Das letzte Mal habe ich diese Art von
Naturgewalten im Jahre 2012 auf 4000 Metern Höhe am Südhang des Elbrus erlebt.
In meine Daunenjacke eingehüllt, wankte ich, vom Wind hin- und hergedrückt über
den Campus und wurde Zeuge, wie einem Studenten eine Dokumentenmappe aus der
Hand geweht wurde – zack, nach einer Sekunde waren die Papiere 50 Meter weiter
verstreut, keine Chance, sie aufzusammeln. Völlig normales Wetter hier für
diese Jahreszeit, erzählte man mir. Beeindruckend, wie die hohen Wellen an die
Küste klatschen, es klingt anders als am Baikalsee, man hört förmlich das
zähere Salzwasser.
In der Innenstadt besuchte ich
die in schickem roten Backstein glänzende evangelisch-lutherische Paulskirche.
Hier arbeitet der pensionierte Hamburger Pastor Manfred Brockmann, den ich vor
vier Jahren bei meinem ersten Besuch in Wladiwostock kennengelernt hatte.
Inzwischen ist er 78, waltet nach wie vor uneingeschränkt seines Amtes und ist
auf der bislang ergebnislosen Suche nach einem Nachfolger. Brockmann war in den
90er Jahren hierhergekommen, hat die bis dahin heimatlose protestantische
Gemeinde zusammengesucht und erreicht, dass ihr die Kirche, in der zu
Sowjetzeiten ein Kriegsmuseum (!) war, zurückgegeben wurde. Der Mann ist ein
echtes Original, Eisbader, zeltet im Winter in den Bergen, komponiert
Streichquartettmusik und schreibt seit seiner Jugend täglich Tagebuch.
Anderthalb Meter Tagebücher stehen in seinem Schrank. „Da kann jemand nach
meinem Tod eine Doktorarbeit drüber schreiben“, meinte er zu mir.
Vor der Abreise hatte ich mich
einigermaßen an die modernen Uni-Gebäude gewöhnt. Mit der neuen Hülle beginnt
auch ein frischer Geist bei den Lehrkräften hier einzuziehen, meinte die
Deutsch-Lehrstuhlleiterin zu mir. Einige Lehrkräfte, längst im Rentenalter, die
in Russland normalerweise bis einen Tag vor dem Ableben arbeiten, wollten den
Umzug nicht mitmachen und hätten gekündigt, es wurde endlich mal Platz für
junge Kollegen. Bevor der Zug fuhr, besuchten die Studenten und ich noch die
Wladiwostoker Gemäldegalerie. Schweigend und mit ausdruckslosem Gesicht reichte
ich der Dame an der Kasse 200 Rubel und vermied es so, den doppelt so hohen
Ausländerpreis zu bezahlen.
Inzwischen sitzen wir schon
wieder im Plazkartny wagon zurück
nach Ulan-Ude. Meine Studenten haben in der Olympiade keinen Preis bekommen –
macht nichts, dabeisein ist alles. Der Zug ist voll mit Démbeli. Démbel kommt von
Demobilisazia und bezeichnet einen
Soldaten, der seinen Wehrdienst abgeleistet hat und sich auf der Heimreise
befindet. Vor einer Weile haben wir die fast drei Kilometer lange Brücke über
den Amur überquert, die auf dem 5000-Rubel-Schein abgebildet ist, und fahren
gerade durch das Jüdische Autonome Gebiet, das „Israel Stalins“. Vor dem
Fenster tobt der Schneesturm. Von der Idee, alle sowjetischen Juden hier
anzusiedeln, in unwirtlicher Gegend am Amur nahe der chinesischen Grenze, ist nur
der Name geblieben, der Plan ist grandios gescheitert, wie so vieles in diesem
Land – aber nicht alles. Die Fernöstliche
Föderale Universität mit 30000 Studierenden ist ein beeindruckendes Beispiel
für ein funktionierendes Großprojekt. Bis 2020 soll das Campusgelände
verdoppelt werden.
Russlands modernste Uni in Wladiwostok |
Die Solotoj-Brücke, klein im Hintergrund die Russkij-Brücke: hochmoderne Schrägseil-Brücken, um den Uni-Campus auf der Russkij-Insel mit dem Festland zu verbinden |
Hotel- und Wohnheimburgen auf dem Unicampus |
"Meine" Studenten nach Abschluss der Deutsch-Olympiade |