Freitag, 27. November 2015

Wladiwostok



Eine Eingangshalle, hoch wie der Berliner Hauptbahnhof, verglast und mit hochmoderner Beleuchtung. Rechts und links mehrere Etagen, in denen sich mit großen Aufstellern und Bildschirmen Rosneft und Gasprombank als Sponsoren präsentieren. Ein Labyrinth an Gängen und Fahrstühlen, riesige Konferenzräume. Gepolsterte Sitzecken zum Relaxen, chillige Cafes mit entspannter Lounge-Musik, farblich aufeinander abgestimmtes, durchgestyltes Mobiliar. Statt „Institut für Wirtschaft“ heißt es „School of business“. Kaum zu glauben, dass wir uns in Russland befinden, in der wohl modernsten Hochschule des Landes: der Fernöstlichen Föderalen Universität.
Im Jahre 2012 fand auf der Russkij-Insel südlich von Wladiwostok der asiatisch-pazifische Wirtschaftsgipfel statt. Zu diesem Zweck wurde die weitgehend unbewohnte Insel mit einer milliardenteuren Brücke – die weltgrößte Schrägseil-Brücke – mit dem Festland verbunden und an der Küste ein gigantischer Gebäudekomplex aus dem Boden gestampft, der nach Ende des Gipfeltreffens als Hochschulcampus an die Universität übergeben wurde. Lehrgebäude, Hotelburgen und Wohnheime, Busse, die von einem Ende zum anderen fahren, ein Park, eine schicke Uferpromenade – und das soll Russland sein, mein vertrautes, halb verfallenes, gemütlich-marodes, verstaubtes, geschichtsträchtiges, altehrwürdiges Russland? Mit großem Widerwillen bezog ich mein Hotelzimmer und hatte überhaupt keine Lust, in dieser von einem hohen Sicherheitszaun umgebenen Architekturmischung mit einer Atmosphäre von Krankenhaus, Pflegeheim und Bahnhof die nächsten vier Tage zu verbringen.
Die Fernöstliche Föderale Universität ist aus der Zusammenlegung von vier großen Wladiwostoker Universitäten entstanden. In Russland gibt es viel zu viele Hochschulen, weshalb der Trend seit Jahren zu Zusammenlegungen und Schließungen geht. Föderal bedeutet: die Uni ist zur Elite-Hochschule auserkoren und soll im internationalen Wettbewerb mithalten. Wissenschaft und Lehre auf westlichem Niveau ist angesagt, Effektivität und Modernität, Schluss mit dem Staub aus Sowjetzeiten. Zwischen den einzelnen Teilen der Deutsch-Olympiade, zu der ich mit meinen vier Studenten hier angereist war, irrte ich orientierungslos in den endlosen Gängen der labyrinthisch miteinander verbundenen Gebäude umher, kam mir vor wie in einem Flughafen und sehnte mich nach dem kleinen, gemütlichen Institutsgebäude in Ulan-Ude.
Wladiwostok liegt in landschaftlich wunderschöner Umgebung am zum Pazifik gehörenden Japanischen Meer. Die hügelige Umgebung, Steilküste, Felsen, Klippen und Inseln geben ein tolles Bild und belohnen die in Moskau eingestiegenen Transsibirien-Reisenden für die Strapazen von sieben Tagen Zugfahrt. In den Tagen meines Besuches wehte ein schneidender, kalter, feuchter Wind, der am letzten Abend zu einem regelrechten Sturm ausartete. Das letzte Mal habe ich diese Art von Naturgewalten im Jahre 2012 auf 4000 Metern Höhe am Südhang des Elbrus erlebt. In meine Daunenjacke eingehüllt, wankte ich, vom Wind hin- und hergedrückt über den Campus und wurde Zeuge, wie einem Studenten eine Dokumentenmappe aus der Hand geweht wurde – zack, nach einer Sekunde waren die Papiere 50 Meter weiter verstreut, keine Chance, sie aufzusammeln. Völlig normales Wetter hier für diese Jahreszeit, erzählte man mir. Beeindruckend, wie die hohen Wellen an die Küste klatschen, es klingt anders als am Baikalsee, man hört förmlich das zähere Salzwasser.
In der Innenstadt besuchte ich die in schickem roten Backstein glänzende evangelisch-lutherische Paulskirche. Hier arbeitet der pensionierte Hamburger Pastor Manfred Brockmann, den ich vor vier Jahren bei meinem ersten Besuch in Wladiwostock kennengelernt hatte. Inzwischen ist er 78, waltet nach wie vor uneingeschränkt seines Amtes und ist auf der bislang ergebnislosen Suche nach einem Nachfolger. Brockmann war in den 90er Jahren hierhergekommen, hat die bis dahin heimatlose protestantische Gemeinde zusammengesucht und erreicht, dass ihr die Kirche, in der zu Sowjetzeiten ein Kriegsmuseum (!) war, zurückgegeben wurde. Der Mann ist ein echtes Original, Eisbader, zeltet im Winter in den Bergen, komponiert Streichquartettmusik und schreibt seit seiner Jugend täglich Tagebuch. Anderthalb Meter Tagebücher stehen in seinem Schrank. „Da kann jemand nach meinem Tod eine Doktorarbeit drüber schreiben“, meinte er zu mir.
Vor der Abreise hatte ich mich einigermaßen an die modernen Uni-Gebäude gewöhnt. Mit der neuen Hülle beginnt auch ein frischer Geist bei den Lehrkräften hier einzuziehen, meinte die Deutsch-Lehrstuhlleiterin zu mir. Einige Lehrkräfte, längst im Rentenalter, die in Russland normalerweise bis einen Tag vor dem Ableben arbeiten, wollten den Umzug nicht mitmachen und hätten gekündigt, es wurde endlich mal Platz für junge Kollegen. Bevor der Zug fuhr, besuchten die Studenten und ich noch die Wladiwostoker Gemäldegalerie. Schweigend und mit ausdruckslosem Gesicht reichte ich der Dame an der Kasse 200 Rubel und vermied es so, den doppelt so hohen Ausländerpreis zu bezahlen.
Inzwischen sitzen wir schon wieder im Plazkartny wagon zurück nach Ulan-Ude. Meine Studenten haben in der Olympiade keinen Preis bekommen – macht nichts, dabeisein ist alles. Der Zug ist voll mit Démbeli. Démbel kommt von Demobilisazia und bezeichnet einen Soldaten, der seinen Wehrdienst abgeleistet hat und sich auf der Heimreise befindet. Vor einer Weile haben wir die fast drei Kilometer lange Brücke über den Amur überquert, die auf dem 5000-Rubel-Schein abgebildet ist, und fahren gerade durch das Jüdische Autonome Gebiet, das „Israel Stalins“. Vor dem Fenster tobt der Schneesturm. Von der Idee, alle sowjetischen Juden hier anzusiedeln, in unwirtlicher Gegend am Amur nahe der chinesischen Grenze, ist nur der Name geblieben, der Plan ist grandios gescheitert, wie so vieles in diesem Land – aber nicht alles. Die Fernöstliche Föderale Universität mit 30000 Studierenden ist ein beeindruckendes Beispiel für ein funktionierendes Großprojekt. Bis 2020 soll das Campusgelände verdoppelt werden.
Russlands modernste Uni in Wladiwostok
Die Solotoj-Brücke, klein im Hintergrund die Russkij-Brücke: hochmoderne Schrägseil-Brücken, um den Uni-Campus auf der Russkij-Insel mit dem Festland zu verbinden
Hotel- und Wohnheimburgen auf dem Unicampus
"Meine" Studenten nach Abschluss der Deutsch-Olympiade