Mittwoch, 11. Dezember 2019

Winteridylle





Wie schade, dass ich in Sibirien bin. Aufgrund der russischen Gegensanktionen, dem Einfuhrverbot von Lebensmitteln aus Europa, finden viele leckere Käsesorten den Weg nicht hierher. Das teure Stück „norwegischer Käse“ aus dem Edel-Supermarkt Sputnik mit der verheißungsvollen Bezeichnung Brunost – echt norwegisch für Braunkäse – kommt aus Moskau und hat den Beigeschmack von Trockenmilchpulver.
Um den sibirischen Winter besser zu schmecken als in der Stadt, wo ich im Wesentlichen zwischen Wohnung und Arbeitsplatz hin- und herpendle, besuche ich meine Bekannten Sergej und Mascha in ihrem Haus in der Ortschaft Bargusin. Die Straße entlang des Baikal-Ostufers ist bis Ust-Bargusin inzwischen durchgehend asphaltiert, die ewige Baustelle bei Maximicha verschwunden. Die filigrane Struktur der Nadelbäume ist durch eine dünne, glänzende Schneeschicht auf den Ästen und Zweiglein geradezu märchenhaft hervorgehoben, der Asphalt stellenweise glatteisbedeckt; in manchen Kurven wurde gestreut. Selten begegnet mir ein anderes Auto auf der vierstündigen Fahrt, am Freitagnachmittag arbeiten wohl alle noch. Der Baikal ist noch nicht gefroren, aufkommender Sturm wirft seine Wellen ans Ufer, wo sich die ersten Schnee- und Eisauftürmungen bilden, aus denen im Januar die groteskesten und wunderlichsten Gestaltungen hervorgehen werden.
Am Morgen um sechs Uhr – zwei Paar langer Unterhosen sind angelegt, das Gesicht mit Fettcreme eingeschmiert, inzwischen hat auch der Hahn gekräht – trete ich ins Freie, um zu schauen, ob noch alle Sterne an ihrem Platz sind. Kassiopeia, Großer und Kleiner Bär, der Drache und der Löwe, in stechender Schärfe frei von störendem Großstadtlicht prangen sie über mir, scheinen genau dort, wo sie hingehören; links vom Löwen gibt es einen blinden Fleck, dessen Punkte sich für mich nicht zu Sternbildern zusammensetzen. Die Sternkarte ist zuhause geblieben. Zeit zum Nachdenken bleibt keine, da die vorstehenden Teile meines Gesichts vor Kälte zu schmerzen beginnen. Ein Blick auf meine zwei am Vorabend sorgfältig für den wissenschaftlichen Vergleich im Garten deponierten Thermometer: der Zeiger des Bimetallthermometers zeigt minus  achtundzwanzig, die rote Säule des anderen ist unterhalb der Vierzig verschwunden. Ich vermute, es lügt. Aber das ist egal. Mein Nasenspitzenthermometer sagt: geh rein, oder es gibt Erfrierungen.
Während wir Posy und mit eingedicktem Blut gefüllten Rinderdarm zu uns nehmen – ohne kalorienreiche Fleischnahrung sei dir Kälte überhaupt nicht zu überleben, versichert mir Mascha –, erfahre ich die neuesten Geschichten aus der Nachbarschaft. Ein Mann, der neulich nach Ulan-Ude gefahren ist, hat eine Tramperin einsteigen lassen, die sich einfach auf der Rückbank niederließ und nicht auf die Frage nach dem Ziel ihrer Reise antwortete. Ein bleiches, fast weißes Gesicht hat sie gehabt und auf alle Nachfragen hin beharrlich geschwiegen. Nun, dann ist der Mann eben trotzdem losgefahren, und nach wenigen Minuten Fahrt war die Passagierin einfach von der Rückbank verschwunden. Wahrscheinlich hat es sich um den Geist einer in der Taiga erschlagenen Frau gehandelt, der jetzt unruhig hin- und her wandelt.
Mascha erzählt mir diese Geschichte mit dem gleichen Ernst, mit dem ich über meine Erlebnisse am letzten Wochenende plaudern würde. Warum tut sie das? Als ich vier Jahre alt war, habe ich auch Gespenster im Schlafzimmer gesehen. Inzwischen bin ich kein Kind mehr. Mascha ist zwanzig Jahre älter als ich. Ein Charakteristikum der typischen russischen Seele besteht darin, nicht ganz erwachsen zu werden. Im Aberglauben äußert sich das, in der Freude am Kitsch und im unbeherrschten Auf und Ab der Emotionen. Demnächst möchte sie auch in die Stadt fahren, um eine Schamanin aufzusuchen, vertraut mir Mascha an, als Sergej für einen Moment nicht im Raum ist: die Verwandten ihres Mannes würden sie auf das Übelste beschimpfen, sicher hilft ein Ritual, in welchem den Geistern Wodka geopfert wird.
Der vierundsechzigjährige, hagere Sergej ist durch und durch Praktiker. Im Anbau neben dem Haus, dort, wo auch die Hühner leben, wirft er große Holzscheite ins Feuer; er dreht eine Schraube ins Armaturenbrett meines Ladas, so dass nun nichts mehr klappert, zeigt die neuesten Erzeugnisse seiner Schmiedekunst, dann fahren wir mit meinem Wagen auf sein Landgut – nicht auf der Straße, sondern auf dem gefrorenen Fluss. Am Anfang gibt es noch eine Spur, dann geht es durch den dicken, wattigen Neuschnee. Das Auto fängt förmlich an zu schwimmen, jeden Moment werden wir feststecken; ich lasse Sergej ans Steuer, der uns mit jaulendem Motor durch die heiklen Stellen manövriert.
Auf dem Landgut, der Fazenda, wie es heißt, als ob wir in Brasilien wären, besteige ich mit einer Leiter einen der drei Meter hohen, saród genannten Heuberge, stiefele in der lockeren Schneedecke herum und fotografiere von oben, wie Sergej und sein Arbeiter Sascha die Kühe füttern und tränken. Außer dem Rascheln des Heus, dem dezenten Summen eines Transformators und dem Schaben meiner eigenen Ohren an der Kapuze der Daunenjacke ist es still. Das Bargusintal ist in Schnee gehüllt. Auf dem mäandernden Flussband zeichnet sich in der Entfernung die Spur eines Buran-Schneemobils ab.
„Sehr tiefenentspanntes Umfeld offenbar, aber wenig Adventsstimmung“, schreibt meine Mutter aus dem fernen Deutschland über ein Foto, das mich mit Frau und Kind in der Steppe zeigt. „Hier leuchtet, glitzert und glimmert es elektrisch allerorten und es herrscht der übliche vorweihnachtliche Trubel.“
Wie schön, dass ich in Sibirien bin.




Sergej und Mascha in ihrer Winteridylle
Tschüss, Baikalsee. Ich sehe dich wohl erst im Februar wieder