Samstag, 30. November 2019

Grenzidylle



Am sonnigen letzten Novembertag fahren zwei silbergraue russische Autos die Grenzstraße entlang. Dem breiten, niedrigen Wolga scheint es schwerzufallen, unter hundert Stundenkilometern zu bleiben, immer wieder flitzt er davon und muss dann auf den schwerfälligeren Lada Niva warten. Eine hauchdünne, puderzuckergleiche Schneeschicht liegt am Straßenrand und zwischen den gelben Büscheln alten Steppengrases. Wenige hundert Meter parallel zur Linken verläuft die russisch-mongolisch Grenze, ein doppelter Stacheldrahtzaun mit einem gepflügten Erdstreifen dazwischen. An einer Stelle stehen zwei Soldaten, bestimmt gibt es überall Kameras und Bewegungsmelder.
Niso und ich fahren meinem Schwiegervater hinterher, der den Weg nach Kjachta kennt, einer kleinen Stadt im Süden Burjatiens, die, von ihrer großen Geschichte als bedeutendes Handelszentrum an der sogenannten Teestraße abgesehen, heute vor allem für ihren Grenzübergang in die Mongolei bekannt ist. Wir sind auf Besuch bei Rustam angemeldet, dem ältesten von Nisos Brüdern. Doch leider geschieht genau das, was nicht passieren sollte: wir geraten in eine Kontrolle der Grenzsoldaten. Als Ausländer benötigt man für den Aufenthalt im grenznahen Gebiet eine Sondergenehmigung, die zwei Monate im Voraus zu beantragen ist. Wie schade, dass ich davon nichts weiß und keine habe. Eigentlich sollte es auf dieser Nebenstrecke keine Kontrollen geben. War wohl ein Irrtum.
Der Wolga darf anstandslos die Schranke passieren, als nächstes kurble ich das Fenster hinunter und reiche dem Uniformierten, der seinen Namen murmelt und um die Dokumente bittet, meinen Pass und die Fahrzeugpapiere.
Gedanklich haben wir uns natürlich auch auf diesen Fall vorbereitet. Ich würde ein Protokoll ausfüllen, eine Strafe zahlen und dann zurückfahren müssen, meine Frau und Maja würden zum Schwiegervater ins Auto umsteigen und ohne mich nach Kjachta weiterfahren.
„Das können Sie behalten, wir sind keine Verkehrspolizei“, höre ich den Uniformierten sagen, der mir die Fahrzeugpapiere unbesehen zurückgibt. Ich bin so aufgeregt, dass ich ihn nicht einmal ansehe und nur das Rascheln wahrnehme, als er in meinem Pass herumblättert.
Im nächsten Moment geschieht etwas ganz und gar Unglaubliches.
Der Soldat klappt den Pass zu, reicht ihn durchs Fenster und winkt mich durch die Schranke.
Vor Freude vergesse ich die Schwerfälligkeit des Lada und schließe innerhalb von Sekunden zum Wolga auf.
„Los, ein Foto“, sage ich zu Niso, weise auf den Stacheldraht und bremse.
„Bist du verrückt, hier ist doch Grenze“, schimpft meine Frau.
„Gerade deshalb“, sage ich, bleibe im ersten Gang und fotografiere während der Fahrt durch die Frontscheibe.
Ein deutscher Bekannter, der ebenso schon seit Jahren in Russland lebt, meinte einmal zu mir, in diesem Lande herrsche doch in allen Lebensbereichen eine derartige Unordnung, dass es ein Irrtum sei, davon auszugehen, Polizei, Armee oder Geheimdienst würden eine Ausnahme bilden. Der Grenzsoldat konnte vielleicht nicht richtig lesen und hat meine im Pass liegende Migrationskarte für den Propusk, für die Sondergenehmigung,  gehalten. Oder man braucht für Kjachta keine. Oder er war neu im Dienst und kannte die für Ausländer geltenden Bestimmungen noch nicht genau.
Wir erreichen das zweigeschossige, langgezogene Reihenhaus, wo Rustam mit seiner neuen Frau und dem vier Monate alten Kind eine geräumige, warme und saubere Wohnung mietet. Von außen wirkt der Holzbau heruntergekommen und abbruchreif, auf den dunklen Brettern ist außen ein Metallgitter angebracht, von dem alter Putz herunterbröckelt. Wenige Schritte weiter steht ein ganzer Straßenzug des gleichen Gebäudetyps leer, schwarzgrau und zerfallend, geeignet für einen Film vom Leben nach dem Atomkrieg. Rustam und Niso sind die einzigen von den Geschwistern, die Tadschikisch sprechen, die Muttersprache ihres Vaters. Nach zentralasiatischer Sitte lassen wir uns auf dem Boden nieder und essen Plov aus einer gemeinsamen großen Schüssel. Bevor es Abend wird, muss Rustam auch schon los zur Arbeit, sprich: zur Armee, wo er seit elf Jahren dient. Noch drei Jahre, dann hat er das Rentenalter eines Vertragssoldaten erreicht. Endlich. „Ein schwerer Job“, sagt Rustam, steigt in ein Auto und fährt mit seinen uniformierten Kameraden davon.
Später wird mir Niso erzählen, dass der Bruder sich freiwillig für den Einsatz im zweiten Tschetschenienkrieg gemeldet hatte, wo alle Soldaten seiner Einheit bei einem Angriff getötet wurden. Seitdem fragt er sich, warum gerade er überlebte, und trägt außer dem kaputten Rücken die Last eines schweren Kriegstraumas mit sich herum.
Als es die transsibirische Eisenbahn und den Suezkanal noch nicht gab, wurde über die damals ein Teil von China bildende Mongolei ganz Europa mit chinesischem Tee versorgt: Kjachta war der Umschlagplatz, wo russische Händler Zobelfelle gegen Waren aus dem Reich der Mitte eintauschten. Viel ist vom alten Glanz nicht geblieben.  Für russische Verhältnisse ganz hervorragend ist das Heimatkundemuseum. Während ich  alte Landkarten, winzige Kännchen zur Tee-Verkostung und ein chinesisches Fahrrad aus dem neunzehnten Jahrhundert betrachte – ob die Chinesen es wohl unabhängig von den Europäern erfunden haben?, – ist Maja fasziniert vom Kuriositätenkabinett und bestaunt ein doppelköpfiges Kalb, ein sechsbeiniges Schaf und ein kopfloses Zicklein.
Im Slobodá genannten Stadtteil direkt an der Grenze schaut ein silbergrau getünchter Lenin von seinem hohen Sockel auf das kürzlich restaurierte Gebäude der Auferstehungskirche. Hinter seinem Rücken verfällt die steinerne Ruine des einen großen quadratischen Innenhof umschließenden ehemaligen Handelshofes. Durch die abbröckelnden, verlassenen Toreinfahrten hindurch lassen sich Wachturm, Abfertigungsgebäude und die Schlange der Autos erspähen, die auf die Weiterfahrt in die Mongolei warten. Wir verlassen die Grenzidylle in die entgegengesetzte Richtung. Die Sonne glänzt vom blauen Himmel herunter. Auf der neu asphaltierten Fernstraße nach Ulan-Ude, einer der besten Burjatiens, tanzt vom Wind aufgewirbelter Pulverschnee.


So sieht die russisch-mongolische Grenze aus.

Auf der Grenzstraße fuhr ich dem Wolga meines Schwiegervaters hinterher.

Familienessen auf tadschikische Art.

Niso mit dem ältesten ihrer Brüder.

Ruinen werden in Russland selten beseitigt und verbreiten noch jahrzehntelang Endzeitstimmung.

Unweit des Grenzüberganges in Kjachta wacht Lenin über einen verfallenen Handelshof.

Durch die Toreinfahrt lassen sich die Abfertigungsgebäude am Grenzübergang erspähen.