Am sonnigen letzten Novembertag fahren zwei
silbergraue russische Autos die Grenzstraße entlang. Dem breiten, niedrigen
Wolga scheint es schwerzufallen, unter hundert Stundenkilometern zu bleiben,
immer wieder flitzt er davon und muss dann auf den schwerfälligeren Lada Niva
warten. Eine hauchdünne, puderzuckergleiche Schneeschicht liegt am Straßenrand
und zwischen den gelben Büscheln alten Steppengrases. Wenige hundert Meter
parallel zur Linken verläuft die russisch-mongolisch Grenze, ein doppelter
Stacheldrahtzaun mit einem gepflügten Erdstreifen dazwischen. An einer Stelle
stehen zwei Soldaten, bestimmt gibt es überall Kameras und Bewegungsmelder.
Niso und ich fahren meinem Schwiegervater
hinterher, der den Weg nach Kjachta kennt, einer kleinen Stadt im Süden
Burjatiens, die, von ihrer großen Geschichte als bedeutendes Handelszentrum an
der sogenannten Teestraße abgesehen,
heute vor allem für ihren Grenzübergang in die Mongolei bekannt ist. Wir sind
auf Besuch bei Rustam angemeldet, dem ältesten von Nisos Brüdern. Doch leider
geschieht genau das, was nicht passieren sollte: wir geraten in eine Kontrolle
der Grenzsoldaten. Als Ausländer benötigt man für den Aufenthalt im grenznahen
Gebiet eine Sondergenehmigung, die zwei Monate im Voraus zu beantragen ist. Wie
schade, dass ich davon nichts weiß und keine habe. Eigentlich sollte es auf
dieser Nebenstrecke keine Kontrollen geben. War wohl ein Irrtum.
Der Wolga darf anstandslos die Schranke passieren,
als nächstes kurble ich das Fenster hinunter und reiche dem Uniformierten, der
seinen Namen murmelt und um die Dokumente bittet, meinen Pass und die
Fahrzeugpapiere.
Gedanklich haben wir uns natürlich auch auf diesen
Fall vorbereitet. Ich würde ein Protokoll ausfüllen, eine Strafe zahlen und
dann zurückfahren müssen, meine Frau und Maja würden zum Schwiegervater ins
Auto umsteigen und ohne mich nach Kjachta weiterfahren.
„Das können Sie behalten, wir sind keine
Verkehrspolizei“, höre ich den Uniformierten sagen, der mir die Fahrzeugpapiere
unbesehen zurückgibt. Ich bin so aufgeregt, dass ich ihn nicht einmal ansehe
und nur das Rascheln wahrnehme, als er in meinem Pass herumblättert.
Im nächsten Moment geschieht etwas ganz und gar
Unglaubliches.
Der Soldat klappt den Pass zu, reicht ihn durchs
Fenster und winkt mich durch die Schranke.
Vor Freude vergesse ich die Schwerfälligkeit des
Lada und schließe innerhalb von Sekunden zum Wolga auf.
„Los, ein Foto“, sage ich zu Niso, weise auf den
Stacheldraht und bremse.
„Bist du verrückt, hier ist doch Grenze“, schimpft
meine Frau.
„Gerade deshalb“, sage ich, bleibe im ersten Gang
und fotografiere während der Fahrt durch die Frontscheibe.
Ein deutscher Bekannter, der ebenso schon seit
Jahren in Russland lebt, meinte einmal zu mir, in diesem Lande herrsche doch in
allen Lebensbereichen eine derartige Unordnung, dass es ein Irrtum sei, davon
auszugehen, Polizei, Armee oder Geheimdienst würden eine Ausnahme bilden. Der
Grenzsoldat konnte vielleicht nicht richtig lesen und hat meine im Pass
liegende Migrationskarte für den Propusk,
für die Sondergenehmigung, gehalten.
Oder man braucht für Kjachta keine. Oder er war neu im Dienst und kannte die für
Ausländer geltenden Bestimmungen noch nicht genau.
Wir erreichen das zweigeschossige, langgezogene
Reihenhaus, wo Rustam mit seiner neuen Frau und dem vier Monate alten Kind eine
geräumige, warme und saubere Wohnung mietet. Von außen wirkt der Holzbau heruntergekommen
und abbruchreif, auf den dunklen Brettern ist außen ein Metallgitter
angebracht, von dem alter Putz herunterbröckelt. Wenige Schritte weiter steht
ein ganzer Straßenzug des gleichen Gebäudetyps leer, schwarzgrau und
zerfallend, geeignet für einen Film vom Leben nach dem Atomkrieg. Rustam und
Niso sind die einzigen von den Geschwistern, die Tadschikisch sprechen, die
Muttersprache ihres Vaters. Nach zentralasiatischer Sitte lassen wir uns auf
dem Boden nieder und essen Plov aus
einer gemeinsamen großen Schüssel. Bevor es Abend wird, muss Rustam auch schon
los zur Arbeit, sprich: zur Armee, wo er seit elf Jahren dient. Noch drei
Jahre, dann hat er das Rentenalter eines Vertragssoldaten erreicht. Endlich.
„Ein schwerer Job“, sagt Rustam, steigt in ein Auto und fährt mit seinen
uniformierten Kameraden davon.
Später wird mir Niso erzählen, dass der Bruder sich
freiwillig für den Einsatz im zweiten Tschetschenienkrieg gemeldet hatte, wo
alle Soldaten seiner Einheit bei einem Angriff getötet wurden. Seitdem fragt er
sich, warum gerade er überlebte, und trägt außer dem kaputten Rücken die Last
eines schweren Kriegstraumas mit sich herum.
Als es die transsibirische Eisenbahn und den
Suezkanal noch nicht gab, wurde über die damals ein Teil von China bildende
Mongolei ganz Europa mit chinesischem Tee versorgt: Kjachta war der
Umschlagplatz, wo russische Händler Zobelfelle gegen Waren aus dem Reich der
Mitte eintauschten. Viel ist vom alten Glanz nicht geblieben. Für russische Verhältnisse ganz hervorragend
ist das Heimatkundemuseum. Während ich alte Landkarten, winzige Kännchen zur
Tee-Verkostung und ein chinesisches Fahrrad aus dem neunzehnten Jahrhundert
betrachte – ob die Chinesen es wohl unabhängig von den Europäern erfunden
haben?, – ist Maja fasziniert vom Kuriositätenkabinett und bestaunt ein
doppelköpfiges Kalb, ein sechsbeiniges Schaf und ein kopfloses Zicklein.
Im Slobodá
genannten Stadtteil direkt an der Grenze schaut ein silbergrau getünchter Lenin
von seinem hohen Sockel auf das kürzlich restaurierte Gebäude der
Auferstehungskirche. Hinter seinem Rücken verfällt die steinerne Ruine des
einen großen quadratischen Innenhof umschließenden ehemaligen Handelshofes.
Durch die abbröckelnden, verlassenen Toreinfahrten hindurch lassen sich
Wachturm, Abfertigungsgebäude und die Schlange der Autos erspähen, die auf die
Weiterfahrt in die Mongolei warten. Wir verlassen die Grenzidylle in die
entgegengesetzte Richtung. Die Sonne glänzt vom blauen Himmel herunter. Auf der
neu asphaltierten Fernstraße nach Ulan-Ude, einer der besten Burjatiens, tanzt vom Wind
aufgewirbelter Pulverschnee.
So sieht die russisch-mongolische Grenze aus. |
Auf der Grenzstraße fuhr ich dem Wolga meines Schwiegervaters hinterher. |
Familienessen auf tadschikische Art. |
Niso mit dem ältesten ihrer Brüder. |
Ruinen werden in Russland selten beseitigt und verbreiten noch jahrzehntelang Endzeitstimmung. |
Unweit des Grenzüberganges in Kjachta wacht Lenin über einen verfallenen Handelshof. |
Durch die Toreinfahrt lassen sich die Abfertigungsgebäude am Grenzübergang erspähen. |