Dienstag, 31. Dezember 2019

Weihnachten ohne Weihnachten. Eindrücke aus China, Teil 3


Heiligabend feiern wir zusammen bei zwei Freunden von Thorsten und Galina. Volker, ein großer, drahtiger, blonder Hamburger, war Berufssoldat und studiert seit drei Jahren an der Universität in Qingdao die chinesische Sprache. Vor Kurzem hat er eine anspruchsvolle Sprachprüfung bestanden. Corinna heißt eigentlich nicht Corinna, hat sich aber, wie es viele Chinesen tun, für den Umgang mit Europäern einen anderen Namen gegeben, da wir ihren richtigen uns weder merken noch aussprechen könnten. Sie hat ein rundes Gesicht, weite Kleider und bäckt, als wir kommen, gerade Plätzchen nach deutschem Rezept. Es läuft deutsche Weihnachtsmusik, getrunken wird Tsintao-Bier, hergestellt nach deutscher Tradition in der Brauerei, die noch aus Zeiten existiert, als das Gebiet Kolonie unter Wilhelm II. war und die Deutschen das Fischerdorf Qingdao in die sechstgrößte chinesische Hafenstadt verwandelten, die aufgrund fortschrittlicher hygienischer und medizinischer Maßnahmen bald den Ruf bekam, die gesündeste und sauberste Stadt Ostasiens zu sein. Noch heute hätten die Deutschen hier einen guten Ruf, sagt Corinna, im Gegensatz zu den Japanern, die danach kamen und während ihrer Besatzungszeit mehr kaputtmachten als aufbauten.
Unsere Gastgeberin ist Chinesischlehrerin für Ausländer. Ich bitte sie darum, meinen Namen zu notieren, so, wie ihn Chinesen sprechen und schreiben würden.
Corinna malt drei Zeichen auf einen Zettel und dazu die Pinyin-Transkription: tuō mă sī.
Eine Schwierigkeit für ihre Schüler besteht darin, dass die meisten chinesischen Wörter einsilbig sind und es, kombiniert aus einem Konsonanten und einem Vokal, insgesamt nur etwa vierhundert verschiedene Silben gibt. Nimmt man die vier verschiedenen Töne dazu, kommt man auf tausendsechshundert Wörter – natürlich viel zu wenig für den Wortschatz einer Hochkultur, weshalb die meisten von ihnen viele verschiedene Bedeutungen haben können, die sich aus dem Zusammenhang ergeben. Mă, die zweite Silbe meines Namens, kann heißen: Pferd, Achat, Ziffer oder Ameise.
Warum er nach China gegangen sei, möchte ich von Volker wissen.
„Möchtest du die romantische Antwort oder die ehrliche?“
Die ehrliche sei immer die beste, sage ich.
„Weil ich glaube, dass dieses Land Zukunft hat und sich hier Geld verdienen lässt!“
Während die Frauen die Guppyzucht in den vielen kleinen Aquarien bewundern und Thorsten mit Volker das zweite Tsintao-Bier öffnen, habe ich das Klavier mit dem Notenstapel darauf entdeckt, Edition Peters auf Chinesisch, und klimpere ein paar Kuhlau-Sonatinen und den einfachsten aller Chopin-Walzer in a-moll. Klavierunterricht sei in China eine sehr populäre Beschäftigung, erklärt uns Corinna, aber nicht aus Liebe zur Musik: die Kinder würden an Wettbewerben teilnehmen, deren Gewinn Punkte für die Abiturnote brächten und somit die Chancen auf den gewünschten Studienplatz erhöhten.
Religiöse Betätigung wird in einem atheistischen Staat wie China mit Argwohn beobachtet. Der deutsche Weihnachtsmarkt, den mein Kollege an seinem Lehrstuhl organisierte, durfte so nicht heißen und musste Sternenmarkt genannt werden. Trotzdem fühle er sich hier wohl, meint Thorsten, er weiß, welche Studenten in der Partei sind und über ihn Bericht schreiben, aber es stört ihn nicht; im Unterricht wird schließlich die deutsche Politik und Geschichte besprochen und nicht die chinesische.
Wir überreichen unseren Gastgebern ein paar Souvenirs vom Baikalsee, uns schenkt Corinna einige mit Aktivkohle und Eisenpulver gefüllte Säckchen, die nach dem Abziehen der Schutzfolie und dem Kontakt mit Sauerstoff stundenlang Wärme abgeben. Diese Einweg-Wärmekissen sind hier überaus populär, werden aufs Handy geklebt, damit der Akku länger hält, und im Winter unter der Kleidung befestigt. Nun löst sich für mich das Rätsel, warum chinesischen Touristen im sibirischen Frost so leichtbekleidet herumlaufen.