Heiligabend feiern wir zusammen bei zwei Freunden
von Thorsten und Galina. Volker, ein großer, drahtiger, blonder Hamburger, war
Berufssoldat und studiert seit drei Jahren an der Universität in Qingdao die
chinesische Sprache. Vor Kurzem hat er eine anspruchsvolle Sprachprüfung
bestanden. Corinna heißt eigentlich nicht Corinna, hat sich aber, wie es viele
Chinesen tun, für den Umgang mit Europäern einen anderen Namen gegeben, da wir
ihren richtigen uns weder merken noch aussprechen könnten. Sie hat ein rundes
Gesicht, weite Kleider und bäckt, als wir kommen, gerade Plätzchen nach
deutschem Rezept. Es läuft deutsche Weihnachtsmusik, getrunken wird
Tsintao-Bier, hergestellt nach deutscher Tradition in der Brauerei, die noch
aus Zeiten existiert, als das Gebiet Kolonie unter Wilhelm II. war und die
Deutschen das Fischerdorf Qingdao in die sechstgrößte chinesische Hafenstadt verwandelten,
die aufgrund fortschrittlicher hygienischer und medizinischer Maßnahmen bald
den Ruf bekam, die gesündeste und sauberste Stadt Ostasiens zu sein. Noch heute
hätten die Deutschen hier einen guten Ruf, sagt Corinna, im Gegensatz zu den
Japanern, die danach kamen und während ihrer Besatzungszeit mehr kaputtmachten
als aufbauten.
Unsere Gastgeberin ist Chinesischlehrerin für
Ausländer. Ich bitte sie darum, meinen Namen zu notieren, so, wie ihn Chinesen
sprechen und schreiben würden.
Corinna malt drei Zeichen auf einen Zettel und dazu
die Pinyin-Transkription: tuō mă sī.
Eine Schwierigkeit für ihre Schüler besteht darin,
dass die meisten chinesischen Wörter einsilbig sind und es, kombiniert aus
einem Konsonanten und einem Vokal, insgesamt nur etwa vierhundert verschiedene
Silben gibt. Nimmt man die vier verschiedenen Töne dazu, kommt man auf
tausendsechshundert Wörter – natürlich viel zu wenig für den Wortschatz einer
Hochkultur, weshalb die meisten von ihnen viele verschiedene Bedeutungen haben
können, die sich aus dem Zusammenhang ergeben. Mă, die zweite Silbe meines
Namens, kann heißen: Pferd, Achat, Ziffer oder Ameise.
Warum er nach China gegangen sei, möchte ich von
Volker wissen.
„Möchtest du die romantische Antwort oder die
ehrliche?“
Die ehrliche sei immer die beste, sage ich.
„Weil ich glaube, dass dieses Land Zukunft hat und
sich hier Geld verdienen lässt!“
Während die Frauen die Guppyzucht in den vielen
kleinen Aquarien bewundern und Thorsten mit Volker das zweite Tsintao-Bier
öffnen, habe ich das Klavier mit dem Notenstapel darauf entdeckt, Edition Peters auf Chinesisch, und
klimpere ein paar Kuhlau-Sonatinen und den einfachsten aller Chopin-Walzer in
a-moll. Klavierunterricht sei in China eine sehr populäre Beschäftigung,
erklärt uns Corinna, aber nicht aus Liebe zur Musik: die Kinder würden an
Wettbewerben teilnehmen, deren Gewinn Punkte für die Abiturnote brächten und
somit die Chancen auf den gewünschten Studienplatz erhöhten.
Religiöse Betätigung wird in einem atheistischen
Staat wie China mit Argwohn beobachtet. Der deutsche Weihnachtsmarkt, den mein Kollege
an seinem Lehrstuhl organisierte, durfte so nicht heißen und musste Sternenmarkt genannt werden. Trotzdem
fühle er sich hier wohl, meint Thorsten, er weiß, welche Studenten in der
Partei sind und über ihn Bericht schreiben, aber es stört ihn nicht; im
Unterricht wird schließlich die deutsche Politik und Geschichte besprochen und
nicht die chinesische.
Wir überreichen unseren Gastgebern ein paar
Souvenirs vom Baikalsee, uns schenkt Corinna einige mit Aktivkohle und
Eisenpulver gefüllte Säckchen, die nach dem Abziehen der Schutzfolie und dem
Kontakt mit Sauerstoff stundenlang Wärme abgeben. Diese Einweg-Wärmekissen sind
hier überaus populär, werden aufs Handy geklebt, damit der Akku länger hält,
und im Winter unter der Kleidung befestigt. Nun löst sich für mich das Rätsel,
warum chinesischen Touristen im sibirischen Frost so leichtbekleidet
herumlaufen.