Dienstag, 31. Dezember 2019

Genießen und genossen werden. Eindrücke aus China, Teil 2


„Ich bin Hedonist und esse für mein Leben gern“, sagt Thorsten. Wir lenken unsere Schritte in ein zoologisches Fachgeschäft, das offensichtlich auf den Verkauf von Fischen, Muscheltieren und Reptilien spezialisiert ist. Ein wenig später wird mir klar, dass es sich um ein Meeresfrüchte-Restaurant handelt. Ein Fingerzeig auf die gewünschte Speise, und wenig später liegt sie vor dir: gekocht, gedünstet, gebraten oder roh, schwarzgepanzerte Schildkröten, rote Krabben und gelbe Krebse, penisförmige Würmer und pulsierende Kopffüßer, eine meterlange Wand mit fröhlich blubbernden Aquarien und Wasserbecken, gefüllt mit Leben, bereit zum genossen werden. Einen Moment überlege ich, meine vegane, für den Tierschutz engagierte Schwester mit einem Foto zu schocken, lasse es dann aber. Wir sitzen an Tisch Nummer drei, neben den Tischen zwei und fünf. Die Worte für „vier“ und „Tod“ klingen gleich, weshalb diese Zahl vermieden wird.
Widerstrebend folge ich meinen Freunden in einen Massagesalon. Die Vorstellung, mir in einem fremden Land von fremden Händen an meinem Körper herumdrücken zu lassen, reizt mich wenig. Schließlich willige ich ein, an der Fußmassage teilzunehmen, zumal es sich um eine kollektive und soziale Angelegenheit handeln würde.
Zu viert nebeneinander hängen wir in riesigen Polstersesseln, neben uns Tee und Gebäck, vor jedem von uns ein Wasserbecken, ein handtuchgepolsterter Schemel und ein Chinese. Unsere Füße und Unterschenkel werden gesalbt, beklopft, eingeölt, gezerrt, gedrückt und bestrichen, ohne Zweifel höchst kunstvoll und nach den Erkenntnissen der Traditionellen Chinesischen Medizin. Es herrscht eine muntere, betriebsame Stimmung, hin und wieder wirft jemand einen Blick durch die geöffnete Tür, eine hübsche Frau schenkt uns Tee nach.
„Galina, bitte übersetze mal: etwas weicher bitte“, sage ich.
Mein Chinese grinst und nimmt für einen kleinen Moment den Druck aus seinen Händen.
„Galina, bitte übersetze mal: es tut weh“, sage ich mit sorgenvollem Blick auf die Uhr: erst zehn von fünfzig Minuten sind vorbei.
Der Chinese grinst wieder, beginnt aber zu verstehen, dass ich, obwohl wir untereinander Russisch sprechen, kein stahlharter Sibirjake bin. Nun kann ich die Prozedur genießen. Noch nie hat jemand meinen Füßen so viel Aufmerksamkeit gewidmet.
Nachmittags spazieren wir durch ein deutsches Villenviertel und entlang des Gelben Meeres auf der Uferpromenade, an einem deren Geländer ein älterer Mann mit ausgestrecktem Bein Dehnübungen macht. Überhaupt habe ich noch nirgendwo so viele Menschen in der Öffentlichkeit Gymnastik treiben sehen wie in China. Allerorten dehnt und streckt sich jemand, schubbert seinen Rücken rhythmisch an einer Stange, klopft sich oben auf die Handgelenke zum Anregen der Durchblutung, läuft rückwärts oder stößt laute Rufe aus zum Entspannen der Stimmbänder. Es gilt überhaupt nicht als peinlich.
Den Abend verbringen wir in einem riesigen Spa-Zentrum mit dutzenden heißen, warmen und kalten Wasserbecken, Saunen, Whirlpools, Entspannungsecken, Bars, frei zur Verfügung stehenden Handtüchern, Badeanzügen, Hygieneartikeln und Teeverkostungs-Angeboten. Die Eindrücke erschlagen mich; Versuche, zu begreifen, was geschieht, werden in Heißluftkammern und Kräuterboxen hinweggeröstet, dunkel stehen vor dem inneren Auge noch meine in einem Teich baumelnden Füße, an denen Schwärme kleiner grauer Fischlein herumzupfen: Hornhautentfernung und Durchblutungsförderung.

Thorsten, Niso und Galja beim Betrachten eines gymnastiktreibenden Chinesen (oben). Überforderung im Meeresfrüchte-Restaurant (unten)
Kollektive Fußmassage
Teeverkostung im Spa-Zentrum