Seit 2014, seit Beginn der Krimkrise und dem Inkrafttreten
der westlichen Sanktionen, sind die Realeinkommen der Menschen in Russland in
jedem Jahr gesunken. Im letzten Jahr wurde eine Rentenreform beschlossen und
das Rentenalter um fünf Jahre auf 65 Jahre für Männer und 60 Jahre für Frauen
heraufgesetzt – europäischer Durchschnitt zwar, aber viel für Russland, wenn
man bedenkt, dass die mittlere Lebenserwartung der Männer nur wenig mehr als 65
ist.
Der Unmut in der Bevölkerung nimmt zu. An einer
Straßenkreuzung am zentralen Sowjetplatz steht eine Frau mit einem als Umhang
übergestülpten weißen Sack, darauf untereinander die Worte „Putin Armut Genozid
Steuern Wucherabgaben Zensur“.
„Wie wäre es mit einem Foto als Andenken?“, sagt
die Frau, als sie sieht, dass ich stehenbleibe.
Ich zücke mein Handy.
„Wollen Sie nicht zu unserer Demo kommen?“, fragt
sie und nennt mir Ort und Zeit.
„Ich möchte gern noch ein halbes Jahr in Ruhe hier
leben und werde mich nicht in Politik einmischen“, antworte ich, „das wird bei
Ausländern nicht so gern gesehen.“
Genozid –
als ich schon wieder zuhause bin, fällt mir ein, dass ich hätte fragen sollen,
warum sie dieses Wort verwendet. Völkermord ist ein starker Vorwurf.
Seit September leite ich wieder einen kleinen Chor.
Die Vereinigung der Russlanddeutschen hat mich gebeten, im Haus der
Völkerfreundschaft einmal wöchentlich mit ihnen zu proben. Eine reichliche
Handvoll Leute, mehr kommen nicht; ich bringe Niso und Maja zu den Proben mit
und erfreue mich am meiner Rolle als Dirigent, in der ich nicht mehr tätig war,
seit es meinen Studentenchor am Institut nicht mehr gibt. Nach der letzten
Probe vor Weihnachten trinken wir Tee und essen von meiner Frau gebackene
Weihnachtsplätzchen.
„Irgendwie ist es schwer hier, etwas aufzubauen“,
gestehe ich, „die meisten Initiativen dümpeln vor sich hin und versacken im
Sand. Die meisten Menschen sind träge und schwer zu motivieren.“
„Viele Leute sind deshalb so lust- und antriebslos,
weil sie mit ihrem eigenen Überleben genug beschäftigt sind“, sagt eine ältere Frau
namens Svetlana Adolfowna. „Niemand hat Geld und Zeit übrig.“
„Vielleicht ist es auch umgekehrt“, wage ich eine
These, „wegen der weit verbreiteten Trägheit und Unmotiviertheit kommt die
Wirtschaft nicht in Schwung und alle bleiben arm.“
Bei meinem letzten Friseurbesuch wurde ich am
Akzent wieder einmal als westlicher Ausländer erkannt, das Gespräch danach nahm
die üblichen Wendungen – eine unattraktive Region sei Burjatien, wer es könne,
würde wegziehen, niedrige Löhne, Korruption und schlechtes Niveau der Medizin,
auch der kostenpflichtigen, wo die Ärzte nicht existierende Diagnosen stellten,
um mehr Geld zu bekommen. Die ersten zehn Jahre unter Putin habe man
Fortschritte gespürt, spätestens seit 2014 gehe es abwärts.
Unsere Zimmertemperatur zuhause beträgt
sechsundzwanzig Grad. Eigentlich könnten wir nackt herumlaufen. Da ich meinen
Körper gern mit einigen Kleidungsstücken bedecke, stelle ich zwei von drei
unserer Fernheizkörper auf „aus“ – eine feinere Regulierung ist ohnehin nicht
möglich.