Samstag, 21. Dezember 2019

Unmut


Seit 2014, seit Beginn der Krimkrise und dem Inkrafttreten der westlichen Sanktionen, sind die Realeinkommen der Menschen in Russland in jedem Jahr gesunken. Im letzten Jahr wurde eine Rentenreform beschlossen und das Rentenalter um fünf Jahre auf 65 Jahre für Männer und 60 Jahre für Frauen heraufgesetzt – europäischer Durchschnitt zwar, aber viel für Russland, wenn man bedenkt, dass die mittlere Lebenserwartung der Männer nur wenig mehr als 65 ist.
Der Unmut in der Bevölkerung nimmt zu. An einer Straßenkreuzung am zentralen Sowjetplatz steht eine Frau mit einem als Umhang übergestülpten weißen Sack, darauf untereinander die Worte „Putin Armut Genozid Steuern Wucherabgaben Zensur“.
„Wie wäre es mit einem Foto als Andenken?“, sagt die Frau, als sie sieht, dass ich stehenbleibe.
Ich zücke mein Handy.
„Wollen Sie nicht zu unserer Demo kommen?“, fragt sie und nennt mir Ort und Zeit.
„Ich möchte gern noch ein halbes Jahr in Ruhe hier leben und werde mich nicht in Politik einmischen“, antworte ich, „das wird bei Ausländern nicht so gern gesehen.“
Genozid – als ich schon wieder zuhause bin, fällt mir ein, dass ich hätte fragen sollen, warum sie dieses Wort verwendet. Völkermord ist ein starker Vorwurf.
Seit September leite ich wieder einen kleinen Chor. Die Vereinigung der Russlanddeutschen hat mich gebeten, im Haus der Völkerfreundschaft einmal wöchentlich mit ihnen zu proben. Eine reichliche Handvoll Leute, mehr kommen nicht; ich bringe Niso und Maja zu den Proben mit und erfreue mich am meiner Rolle als Dirigent, in der ich nicht mehr tätig war, seit es meinen Studentenchor am Institut nicht mehr gibt. Nach der letzten Probe vor Weihnachten trinken wir Tee und essen von meiner Frau gebackene Weihnachtsplätzchen.
„Irgendwie ist es schwer hier, etwas aufzubauen“, gestehe ich, „die meisten Initiativen dümpeln vor sich hin und versacken im Sand. Die meisten Menschen sind träge und schwer zu motivieren.“
„Viele Leute sind deshalb so lust- und antriebslos, weil sie mit ihrem eigenen Überleben genug beschäftigt sind“, sagt eine ältere Frau namens Svetlana Adolfowna. „Niemand hat Geld und Zeit übrig.“
„Vielleicht ist es auch umgekehrt“, wage ich eine These, „wegen der weit verbreiteten Trägheit und Unmotiviertheit kommt die Wirtschaft nicht in Schwung und alle bleiben arm.“
Bei meinem letzten Friseurbesuch wurde ich am Akzent wieder einmal als westlicher Ausländer erkannt, das Gespräch danach nahm die üblichen Wendungen – eine unattraktive Region sei Burjatien, wer es könne, würde wegziehen, niedrige Löhne, Korruption und schlechtes Niveau der Medizin, auch der kostenpflichtigen, wo die Ärzte nicht existierende Diagnosen stellten, um mehr Geld zu bekommen. Die ersten zehn Jahre unter Putin habe man Fortschritte gespürt, spätestens seit 2014 gehe es abwärts.

Unsere Zimmertemperatur zuhause beträgt sechsundzwanzig Grad. Eigentlich könnten wir nackt herumlaufen. Da ich meinen Körper gern mit einigen Kleidungsstücken bedecke, stelle ich zwei von drei unserer Fernheizkörper auf „aus“ – eine feinere Regulierung ist ohnehin nicht möglich.