Dienstag, 31. Dezember 2019

Reisen und Schreiben. Eindrücke aus China, Teil 1


Die Zeit der Sesshaftigkeit nähert sich mit großer Bestimmtheit, doch zuvor möchten noch einige Reisen gereist werden. Nachdem ich beim dritten Versuch, diesmal über die chinesische Botschaft in Moskau, nun doch noch ein Touristenvisum bekommen hatte, haben meine Frau und ich die Weihnachtstage  in China verbracht, dem Land, das in diesem Jahr mit mächtigem Pomp siebzigstes Gründungsjubiläum feierte und dem vor Kurzem die erste Landung einer Raumsonde auf der Mondrückseite gelang, dem Land, in den Augen dessen Bewohner die Russen zwar ein wenig wild und unkultiviert, aber auf jeden Fall stark und mutig sind, angepasst an raues Klima und harte Naturbedingungen.
Gerade sitze ich im letnik, dem eigentlich nur im Sommer genutzten Nebenhaus bei meinen Schwiegereltern auf dem Dorf; eine Welle an Wärme strömt von dem eigens für mich geheizten hellblauen Ziegelofen herüber und lässt vergessen, dass außerhalb minus dreißig Grad herrschen. Trete ich vor die Tür, gibt es totale Stille, eine knirschende Schneedecke und einen überwältigenden Sternenhimmel. Niso hat für mich den Ofen geheizt, da sie meinen praktischen Fähigkeiten skeptisch gegenübersteht, und kommt jede halbe Stunde kontrollieren, ob ich auch nicht die Klappe im Schornstein zu früh geschlossen habe. Ich bin eben kein echter Russe, wie ihn sich die Chinesen vorstellen.
Mit meinem deutschen Kollegen Thorsten in Qindao hatte ich ein interessantes Gespräch zum Thema Reisen und Schreiben. Auslöser war meine Frage, ob er das Buch „Couchsurfing in China“ von Stefan Orth gelesen hätte, bestimmt eine lohnende Lektüre, der Autor hat ein Buch mit gleichlautendem Titel über Russland veröffentlicht.
„Ich kann überhaupt nicht verstehen, wie man ein Buch über China schreiben kann, ohne ein Wort Chinesisch zu sprechen“, sagt Thorsten.
Lange meinte ich auch, niemand habe das Recht, sich über Russland zu äußern, der nicht Russisch spricht, antworte ich, aber inzwischen hätte ich mein Urteil revidiert; es gäbe hervorragende Landesschilderungen von ganz Sprachunkundigen, manchmal sei gerade der Blick des Durchreisenden wertvoll, die Wahrnehmung von Außerhalb sozusagen.
„Die Wirklichkeit ist sehr komplex. Wer schreibt, gibt sie verzerrt und vereinfacht wieder“, sagt mein Kollege.
Da habe er sehr wohl recht, stimme ich zu, Schreiben sei immer subjektiv, heißt kürzen, vereinfachen, das eine hervorheben und das andere weglassen. Die Wirklichkeit schreibend festzuhalten heißt sie zu verändern. Aber ohne das Schreiben verflögen die Gestalten und Ereignisse der Welt, als seien sie nie gewesen, und das wäre doch schade?
„Da hast du wohl recht“, pflichtet mir Thorsten bei. „Ich selbst habe jedenfalls noch nie das Bedürfnis verspürt, etwas aufzuschreiben, und ich lese auch keine Reiseberichte, solange es noch irgendeinen Roman-Klassiker gibt, den ich nicht kenne.“
Bei mir sei es umgekehrt, antworte ich, lieber lasse ich den Dostojewskij verstauben und nehme ein Buch wie das von Karin Hass zur Hand, die ihre realen Erlebnisse in einem sibirischen Dorf schildert. Aber natürlich werde heute so viel geschrieben wie nie zuvor, und sehr viel sei Schrott, von daher könne ich ihn verstehen. Eigentlich ist wohl alles schon einmal erlebt und beschrieben worden. Nur eben nicht von mir.
„Wer einen Monat in China lebt, schreibt einen Artikel. Wer ein Jahr hier lebt, schreibt ein Buch. Wer zehn Jahre hier lebt, schweigt“, sagt Thorsten.
Ich bin wohl noch nicht reif genug für das Schweigen.
Thorsten unterrichtet Deutsch an der Universität in Qingdao – genau das, was ich in Ulan-Ude mache, nur sind seine Studenten viel mehr und viel fleißiger, und er spricht ihre Sprache nicht. „Anderthalb Jahre, und gerade mal zehn Worte Chinesisch!“, sagt mein Kollege und lacht selbstironisch. „Aber Chinesisch lernt man nicht nebenbei, und für ein gründliches Studium fehlt mir die Zeit.“ Das gründliche Studium betreibt seine Frau Galina, eine Russin koreanischer Abstammung, die für uns dolmetscht, als wir zu viert durchs Zentrum der Neun-Millionen-Stadt laufen.

Qingdao bei Tag und bei Nacht