Die Zeit der Sesshaftigkeit nähert sich mit großer
Bestimmtheit, doch zuvor möchten noch einige Reisen gereist werden. Nachdem ich
beim dritten Versuch, diesmal über die chinesische Botschaft in Moskau, nun
doch noch ein Touristenvisum bekommen hatte, haben meine Frau und ich die
Weihnachtstage in China verbracht, dem
Land, das in diesem Jahr mit mächtigem Pomp siebzigstes Gründungsjubiläum
feierte und dem vor Kurzem die erste Landung einer Raumsonde auf der
Mondrückseite gelang, dem Land, in den Augen dessen Bewohner die Russen zwar
ein wenig wild und unkultiviert, aber auf jeden Fall stark und mutig sind,
angepasst an raues Klima und harte Naturbedingungen.
Gerade sitze ich im letnik, dem eigentlich nur im Sommer genutzten Nebenhaus bei meinen
Schwiegereltern auf dem Dorf; eine Welle an Wärme strömt von dem eigens für
mich geheizten hellblauen Ziegelofen herüber und lässt vergessen, dass außerhalb
minus dreißig Grad herrschen. Trete ich vor die Tür, gibt es totale Stille,
eine knirschende Schneedecke und einen überwältigenden Sternenhimmel. Niso hat
für mich den Ofen geheizt, da sie meinen praktischen Fähigkeiten skeptisch
gegenübersteht, und kommt jede halbe Stunde kontrollieren, ob ich auch nicht
die Klappe im Schornstein zu früh geschlossen habe. Ich bin eben kein echter
Russe, wie ihn sich die Chinesen vorstellen.
Mit meinem deutschen Kollegen Thorsten in Qindao
hatte ich ein interessantes Gespräch zum Thema Reisen und Schreiben. Auslöser
war meine Frage, ob er das Buch „Couchsurfing in China“ von Stefan Orth gelesen
hätte, bestimmt eine lohnende Lektüre, der Autor hat ein Buch mit
gleichlautendem Titel über Russland veröffentlicht.
„Ich kann überhaupt nicht verstehen, wie man ein
Buch über China schreiben kann, ohne ein Wort Chinesisch zu sprechen“, sagt
Thorsten.
Lange meinte ich auch, niemand habe das Recht, sich
über Russland zu äußern, der nicht Russisch spricht, antworte ich, aber
inzwischen hätte ich mein Urteil revidiert; es gäbe hervorragende Landesschilderungen
von ganz Sprachunkundigen, manchmal sei gerade der Blick des Durchreisenden
wertvoll, die Wahrnehmung von Außerhalb sozusagen.
„Die Wirklichkeit ist sehr komplex. Wer schreibt,
gibt sie verzerrt und vereinfacht wieder“, sagt mein Kollege.
Da habe er sehr wohl recht, stimme ich zu,
Schreiben sei immer subjektiv, heißt kürzen, vereinfachen, das eine hervorheben
und das andere weglassen. Die Wirklichkeit schreibend festzuhalten heißt sie zu
verändern. Aber ohne das Schreiben verflögen die Gestalten und Ereignisse der
Welt, als seien sie nie gewesen, und das wäre doch schade?
„Da hast du wohl recht“, pflichtet mir Thorsten
bei. „Ich selbst habe jedenfalls noch nie das Bedürfnis verspürt, etwas
aufzuschreiben, und ich lese auch keine Reiseberichte, solange es noch
irgendeinen Roman-Klassiker gibt, den ich nicht kenne.“
Bei mir sei es umgekehrt, antworte ich, lieber
lasse ich den Dostojewskij verstauben und nehme ein Buch wie das von Karin Hass
zur Hand, die ihre realen Erlebnisse in einem sibirischen Dorf schildert. Aber
natürlich werde heute so viel geschrieben wie nie zuvor, und sehr viel sei
Schrott, von daher könne ich ihn verstehen. Eigentlich ist wohl alles schon
einmal erlebt und beschrieben worden. Nur eben nicht von mir.
„Wer einen Monat in China lebt, schreibt einen
Artikel. Wer ein Jahr hier lebt, schreibt ein Buch. Wer zehn Jahre hier lebt,
schweigt“, sagt Thorsten.
Ich bin wohl noch nicht reif genug für das
Schweigen.
Thorsten unterrichtet Deutsch an der Universität in
Qingdao – genau das, was ich in Ulan-Ude mache, nur sind seine Studenten viel mehr
und viel fleißiger, und er spricht ihre Sprache nicht. „Anderthalb Jahre, und
gerade mal zehn Worte Chinesisch!“, sagt mein Kollege und lacht selbstironisch.
„Aber Chinesisch lernt man nicht nebenbei, und für ein gründliches Studium
fehlt mir die Zeit.“ Das gründliche Studium betreibt seine Frau Galina, eine
Russin koreanischer Abstammung, die für uns dolmetscht, als wir zu viert durchs
Zentrum der Neun-Millionen-Stadt laufen.
Qingdao bei Tag und bei Nacht |