Dienstag, 31. Dezember 2019

Schöne neue Welt. Eindrücke aus China, Teil 5


Im Zug von Ulan-Ude nach Irkutsk, von wo aus wir abflogen, hatten neben uns eine chinesische Studentin und ein russischer Berufssoldat gesessen. Der Soldat hatte die Studentin nach dem Woher und Wohin gefragt und diese ihm in einwandfreiem Russisch geantwortet, ohne vom Smartphone aufzuschauen, zwischendurch immer wieder einem zweiten, virtuellen Gesprächspartner etwas auf Chinesisch in ihre Kopfhörer erzählend.
Auf dieser Reise ist mir zum ersten Mal in aller Deutlichkeit klar geworden, dass das Smartphone für den modernen Menschen zu einer Art Verlängerung des eigenen Körpers geworden ist. Er legt es nicht mehr aus der Hand und befindet sich im Zustand einer Art Dauerkommunikation ohne Anfang und Ende mit einer unbestimmten Anzahl von Gesprächspartnern gleichzeitig im virtuellen Raum. Später, während der Zug von Peking nach Qingdao mit dreihundertfünfundvierzig Stundenkilometern dahinrast, wird mir auffallen, dass es auch abgesehen von der Sprachbarriere völlig aussichtslos wäre, mit jemandem ins Gespräch kommen zu wollen. Alle sind in der virtuellen Welt entschwunden. Alle bedeutet in diesem Falle tatsächlich: alle. Das Gesprächsmurmeln von den Bahnfahrten der Vorzeit ist ersetzt durch Musik- und Filmfetzen aus den Smartphones derer, die keine Kopfhörer haben. Ich meine mich zu erinnern, dass sich in Deutschland bahnfahrende Menschen mitunter noch real unterhalten – ein wenig hinkt die Entwicklung wohl hinterher.
Ich möchte meiner Frau den Tian’anmen zeigen, den Platz des Himmlischen Friedens, größter befestigter Platz der Welt und Zentrum der chinesischen Hauptstadt. Er ist von allen Seiten abgesperrt und nur nach Passieren einer der Sicherheitskontrollen zu betreten, bei der das Gepäck durchleuchtet und der Personalausweis aller Chinesen gescannt wird. Eine geschlagene Stunde stehen wir mit unseren schweren Rucksäcken in der Schlange, danach reichen unsere Kräfte nur noch für die nächsten zehn Schritte bis zu einem Imbiss, wo es löslichen Kaffee gleich eingeschweißt mitsamt Einwegbecher und aufbrühfertig verpackte Instant-Nudeln gibt. Obwohl wir nie irgendwo herumliegenden Müll sehen, scheinen alle Lebensmittel hinter Bergen von Plastik verborgen, sogar Äpfel kauft man in einer Plastikschale. Was wohl die Bemühungen von achtzig Millionen Deutschen nützen, wenn für anderthalb Milliarden Chinesen das Thema Müllvermeidung nicht existiert?
Am Tian’anmen-Platz muss ich vor allem der Toilette Bewunderung zollen. Auf einem großen digitalen Pissoir- und Klo-Plan am Eingang wird angezeigt, welche der erleichternden Orte belegt und welche frei sind. Vom Platz selbst sehen wir leider so gut wie nichts, da wir den Fehler machen und zuerst die Verbotene Stadt ansteuern: wer einmal unter dem Mao-Porträt hindurch in den ersten der mächtigen Innenhöfe geschritten ist, kommt nicht wieder auf den Platz zurück, ohne sich erneut in eine Kontrollschlange einzureihen, wozu unsere Nerven nicht reichen.
Im Qianmen-Viertel südlich des Platzes werden wir erschlagen. Erschlagen von herumwuselnden Menschen, Restaurants und Cafés mit hereinbittenden Ausrufern davor, detailverliebt gestalteten historischen Häuserfassaden mit roten Lampions, einem Ozean an kaufbaren Dingen: seidenhaft weiche Polyester-Schals, zu Bergen aufgeschüttete Taschenuhren mit kunstvollen Deckelgravuren, klappernde und blasbare Musikinstrumente, Silberschmuck, angefertigt von in Schaufenstern sitzenden und vor aller Augen arbeitenden Schmieden, Tigerbalsam-Cremes, normalgroßes und puppenhaft kleines Teegeschirr bis zur Decke, Berge von Plastik-Kinderspielzeug, mit einer Schnur verbundene Doppel-Armbänder für Mütter, die ihre Kinder nicht in der Menge verlieren wollen, Mehrweg-Streichhölzer mit Mao-Porträt, Teller mit Xi Jinping, dem derzeitigen Präsidenten, haldenweise Süßigkeiten undefinierbarer Farbe, Form und Konsistenz, wunderschön gestaltete, noch nicht von Warnhinweisen verunstaltete Zigarettenschachteln, Pinsel-Sets zum Kalligrafieren der chinesischen Schriftzeichen - eine Bombe an überfordernden Eindrücken für meine an sibirische Karg- und Klarheit gewöhnten Sinne. Tritt beim Kaufvorgang eine Kommunikationsschwierigkeit auf, zückt der Verkäufer sein Smartphone, zwitschert etwas auf Chinesisch hinein und hält mir die zeitgleich auf dem Bildschirm auftauchende englische Übersetzung vor die Nase; umgekehrt dann liest er meine gesprochene Antwort in seiner Muttersprache.
Nach fünf von etwa fünftausend Geschäften bestehe ich auf der Flucht. Niso folgt mir etwas unwillig. Etwas früher als nötig begeben wir uns zum Flughafen Beijing Capital und verbringen dort in der Halle, unter welcher ein ganzes deutsches Dorf Platz fände, die Nacht bis zum morgendlichen Abflug.
China ist zu viel für mich. Es ist in diesem Leben nicht mein Thema. Hier in Sibirien ist die Welt in Ordnung, klar und kalt, menschenleer und mit den unvermeidbaren Zeichen des Verfalls. Was wäre, wenn Russland die Gebiete östlich des Urals, mit deren Erschließung und Kultivierung Moskau offensichtlich überfordert ist, an den sich in atemberaubendem Tempo entwickelnden südlichen Nachbarn abtritt? Vielleicht würden die Chinesen einige hundert Millionen Landsleute in blitzschnell entstehende neue Großstädte umsiedeln und unter Glas am Baikalsee Südfrüchte kultivieren. Vielleicht würden die Pläne auch scheitern, weil die digitale Überwachungstechnik bei minus vierzig Grad einfriert. Man weiß es nicht und wird es nicht erfahren. Vorläufig jedenfalls nicht.