Im Zug von Ulan-Ude nach Irkutsk, von wo aus wir
abflogen, hatten neben uns eine chinesische Studentin und ein russischer
Berufssoldat gesessen. Der Soldat hatte die Studentin nach dem Woher und Wohin
gefragt und diese ihm in einwandfreiem Russisch geantwortet, ohne vom
Smartphone aufzuschauen, zwischendurch immer wieder einem zweiten, virtuellen
Gesprächspartner etwas auf Chinesisch in ihre Kopfhörer erzählend.
Auf dieser Reise ist mir zum ersten Mal in aller
Deutlichkeit klar geworden, dass das Smartphone für den modernen Menschen zu
einer Art Verlängerung des eigenen Körpers geworden ist. Er legt es nicht mehr
aus der Hand und befindet sich im Zustand einer Art Dauerkommunikation ohne
Anfang und Ende mit einer unbestimmten Anzahl von Gesprächspartnern
gleichzeitig im virtuellen Raum. Später, während der Zug von Peking nach Qingdao
mit dreihundertfünfundvierzig Stundenkilometern dahinrast, wird mir auffallen,
dass es auch abgesehen von der Sprachbarriere völlig aussichtslos wäre, mit
jemandem ins Gespräch kommen zu wollen. Alle sind in der virtuellen Welt
entschwunden. Alle bedeutet in diesem Falle tatsächlich: alle. Das Gesprächsmurmeln von den Bahnfahrten der Vorzeit ist
ersetzt durch Musik- und Filmfetzen aus den Smartphones derer, die keine
Kopfhörer haben. Ich meine mich zu erinnern, dass sich in Deutschland
bahnfahrende Menschen mitunter noch real unterhalten – ein wenig hinkt die
Entwicklung wohl hinterher.
Ich möchte meiner Frau den Tian’anmen zeigen, den
Platz des Himmlischen Friedens, größter befestigter Platz der Welt und Zentrum
der chinesischen Hauptstadt. Er ist von allen Seiten abgesperrt und nur nach
Passieren einer der Sicherheitskontrollen zu betreten, bei der das Gepäck
durchleuchtet und der Personalausweis aller Chinesen gescannt wird. Eine
geschlagene Stunde stehen wir mit unseren schweren Rucksäcken in der Schlange,
danach reichen unsere Kräfte nur noch für die nächsten zehn Schritte bis zu
einem Imbiss, wo es löslichen Kaffee gleich eingeschweißt mitsamt Einwegbecher
und aufbrühfertig verpackte Instant-Nudeln gibt. Obwohl wir nie irgendwo herumliegenden
Müll sehen, scheinen alle Lebensmittel hinter Bergen von Plastik verborgen,
sogar Äpfel kauft man in einer Plastikschale. Was wohl die Bemühungen von
achtzig Millionen Deutschen nützen, wenn für anderthalb Milliarden Chinesen das
Thema Müllvermeidung nicht existiert?
Am Tian’anmen-Platz muss ich vor allem der Toilette
Bewunderung zollen. Auf einem großen digitalen Pissoir- und Klo-Plan am Eingang
wird angezeigt, welche der erleichternden Orte belegt und welche frei sind. Vom
Platz selbst sehen wir leider so gut wie nichts, da wir den Fehler machen und
zuerst die Verbotene Stadt ansteuern:
wer einmal unter dem Mao-Porträt hindurch in den ersten der mächtigen Innenhöfe
geschritten ist, kommt nicht wieder auf den Platz zurück, ohne sich erneut in
eine Kontrollschlange einzureihen, wozu unsere Nerven nicht reichen.
Im Qianmen-Viertel südlich des Platzes werden wir
erschlagen. Erschlagen von herumwuselnden Menschen, Restaurants und Cafés mit
hereinbittenden Ausrufern davor, detailverliebt gestalteten historischen
Häuserfassaden mit roten Lampions, einem Ozean an kaufbaren Dingen: seidenhaft
weiche Polyester-Schals, zu Bergen aufgeschüttete Taschenuhren mit kunstvollen
Deckelgravuren, klappernde und blasbare Musikinstrumente, Silberschmuck,
angefertigt von in Schaufenstern sitzenden und vor aller Augen arbeitenden Schmieden,
Tigerbalsam-Cremes, normalgroßes und puppenhaft kleines Teegeschirr bis zur
Decke, Berge von Plastik-Kinderspielzeug, mit einer Schnur verbundene Doppel-Armbänder
für Mütter, die ihre Kinder nicht in der Menge verlieren wollen,
Mehrweg-Streichhölzer mit Mao-Porträt, Teller mit Xi Jinping, dem derzeitigen
Präsidenten, haldenweise Süßigkeiten undefinierbarer Farbe, Form und
Konsistenz, wunderschön gestaltete, noch nicht von Warnhinweisen verunstaltete
Zigarettenschachteln, Pinsel-Sets zum Kalligrafieren der chinesischen
Schriftzeichen - eine Bombe an überfordernden Eindrücken für meine an
sibirische Karg- und Klarheit gewöhnten Sinne. Tritt beim Kaufvorgang eine
Kommunikationsschwierigkeit auf, zückt der Verkäufer sein Smartphone,
zwitschert etwas auf Chinesisch hinein und hält mir die zeitgleich auf dem
Bildschirm auftauchende englische Übersetzung vor die Nase; umgekehrt dann
liest er meine gesprochene Antwort in seiner Muttersprache.
Nach fünf von etwa fünftausend Geschäften bestehe
ich auf der Flucht. Niso folgt mir etwas unwillig. Etwas früher als nötig
begeben wir uns zum Flughafen Beijing
Capital und verbringen dort in der
Halle, unter welcher ein ganzes deutsches Dorf Platz fände, die Nacht bis zum
morgendlichen Abflug.
China ist zu viel für mich. Es ist in diesem Leben
nicht mein Thema. Hier in Sibirien ist die Welt in Ordnung, klar und kalt,
menschenleer und mit den unvermeidbaren Zeichen des Verfalls. Was wäre, wenn
Russland die Gebiete östlich des Urals, mit deren Erschließung und Kultivierung
Moskau offensichtlich überfordert ist, an den sich in atemberaubendem Tempo
entwickelnden südlichen Nachbarn abtritt? Vielleicht würden die Chinesen einige
hundert Millionen Landsleute in blitzschnell entstehende neue Großstädte
umsiedeln und unter Glas am Baikalsee Südfrüchte kultivieren. Vielleicht würden
die Pläne auch scheitern, weil die digitale Überwachungstechnik bei minus
vierzig Grad einfriert. Man weiß es nicht und wird es nicht erfahren. Vorläufig
jedenfalls nicht.