Dienstag, 31. Dezember 2019

Dunst und Klarheit. Eindrücke aus China, Teil 4


Im EMU-Hochgeschwindigkeitszug von Peking nach Qingdao waren wir durch eine Dunstglocke gefahren, die sich stellenweise zu einem Smog-Vorhang mit einer Sichtweite von unter hundert Metern verdichtete. In der Provinz Shandong zieht fünfzig Kilometer lang ein Ozean an Gewächshäusern an uns vorüber  – nein, weniger wohl Gewächshäuser, vielmehr überdachte Ackerfläche mit zur Sonnenseite hin schräg abfallenden Glasflächen und oben auf dem Giebel eine dicke Rolle aus zusammengewickelter Folie. Zwei Tage später spazieren wir durch das Laoshan-Gebirge östlich von Qingdao und atmen klare, frische Meeresluft.
Drei Lehren sind es, welche die Grundlagen der jahrtausendealten chinesischen Hochkultur bilden. Der Konfuzianismus regelt das Zusammenleben der Menschen untereinander und stellt ein komplexes Regelwerk an Anstandsformen, Hierarchien und Ahnenverehrung auf. Der Daoismus erklärt das Verhältnis des Menschen zum Kosmos und lehrt, nichts zu unternehmen, das den Gesetzen der ewigen Harmonie widerspricht. Die historisch jüngste Lehre ist der uns aus Burjatien bekannte Buddhismus. Das Laoshan-Gebirge, dessen kahle, mit schütteren Kiefern bedeckten Felsen mich entfernt an das Elbsandsteingebirge erinnern, gilt als eine bedeutende Stätte des Daoismus, dessen Tempel inzwischen zu konservierten, eintrittspflichtigen Sehenswürdigkeiten für die Naherholungstouristen aus der benachbarten Neun-Millionen-Einwohner-Metropolregion umfunktioniert sind. Nachdenklich schreite ich zwischen den Pagodendächern umher, mir vorzustellen versuchend, wie die Mönche hier früher zu geistiger Einsicht und Klarheit gelangt sein  mögen. Auf den zweiten Blick werden Unterschiede zu buddhistischen Tempeln deutlich: das häufig auftretende Yin-Yan-Symbol, die Verwendung der schwarzen Farbe, kriegerische Monster anstelle der dickleibigen Buddha-Gottheiten. Eine gigantomanische Statue des Religionsgründers Lao Zi schaut aus den Bergen heraus aufs Meer.
Von Peking aus besuchen wir das der Hauptstadt am nächsten gelegene Stück der Großen Mauer bei Badaling. Wie ein unendlicher Drachenschwanz schlängelt sich das hier perfekt restaurierte Teilstück des größten Bauwerkes der Menschheit genau auf den Kämmen der in winterlicher Bräune liegenden Berge des Yan-Gebirges. Die rechte Ehrfurcht vor der baulichen Leistung will zunächst nicht aufkommen, da wir uns in Gesellschaft einiger tausend anderer Touristen befinden, welche die fünf Meter breite Mauerkrone entlanglaufen. Erst ganz am Ende der für die Besucherströme zugänglichen Strecke sind wir mit den Überwachungskameras ganz allein. Heute ist nicht mehr nachvollziehbar, was die Mauer einmal wovon getrennt haben soll: links von ihr die gleiche stille, klare Bergschönheit wie rechts, nur die Zinnen zeigen an, aus welcher Richtung die Gefahr kam. Dschinghis Khan im dreizehnten Jahrhundert konnte der steinerne Drachenschwanz jedenfalls nicht aufhalten, China zu erobern: seine Reiter bestachen wohl einfach die Wachen und passierten unbehelligt eines der Tore.

Lao Zi, der Begründer des Daoismus (oben), Eingang in einen daoistischen Tempel (unten)
Auf der Großen Mauer