Mittwoch, 8. Januar 2020

Mongolei IV



Ende Dezember bat mich eine Kollegin, auf einer Weihnachtsfeier für die Studenten etwas auf dem Cello vorzuspielen. So kam es zu meinem vorerst letzten cellistischen Auftritt in Russland. Ich spielte das Präludium aus der ersten Bach-Suite und den Tango La cumparsita. Nun ist das Instrument auf dem Weg nach Deutschland. Damit es zwischen hin- und hergeworfenen Koffern nicht in Kleinholz verwandelt wird, sitzt es im Flugzeug auf einem separaten Platz neben mir, für den ich ein Ticket wie für einen Passagier buchen musste. Vor vier Jahren hatte ich das Cello einer Musikerin des Opernorchesters in Ulan-Ude abgekauft, zusammen mit einem Instrumentenpass, der besagt, dass es nicht unter das „Gesetz über die Ausfuhr wertvoller Kulturgüter“ fällt und ohne Sondererlaubnis ausgeführt werden darf. Allerdings hat sich niemand für mich und die auffällige große schwarze Hülle interessiert: am Zollbereich im Flughafen Domodedovo war weit und breit kein Zöllner zu sehen.

Das letzte Thema mit meinen Studenten im Kommunikationskurs hieß „Reisen“. Zur Anschauung breitete ich die bunten Seiten des Kataloges eines Leipziger Reiseveranstalters auf den Tischen aus und versuchte, die schönen Bilder aus fernen Ländern als Gesprächsanlass zu nehmen. Im Kontrast zur Welt der Nachrichten, in der die Erde als hoffnungslose Anhäufung schier unlösbarer Konflikte erscheint, wirkt unser Planet im appetitweckenden Reiseprospekt wie ein märchenhafter Traum, ein Ort der Erfüllung aller Sehnsüchte, bevölkert von gastfreundlichen Menschen in wundersamen Landschaften.
Den Jahreswechsel verbrachte ich im Dorf Jelan mit Niso, Maja und den Schwiegereltern. Am letzten Nachmittag des alten Jahres bereitete mein Schwiegervater im Innenhof Plov zu, in einem großen Metalltopf auf offenem Feuer. Er schenkte mir seine riesenhaften Walenki, Filzstiefel, etwas unförmig zwar – rechts und links unterscheiden sich nicht – aber ideal in der sibirischen Kälte.

Um der Wahrheit über die Welt – so es sie denn gibt – ein Stück näher zu kommen, hilft vielleicht die eine oder andere Reise. Das neue Jahr ist gerade einmal einen Tag alt, die südburjatische Steppe von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die minus zwanzig Grad fühlen sich in der freundlichen Sonne am blauen Himmel nicht kalt an. Ich sitze am Steuer und rolle Richtung Mongolei. Allein würde ich diese Reise nicht machen. Ich würde sie auch gemeinsam mit nur meiner Frau nicht machen, schließlich waren wir vor Kurzem erst da. Aber diesmal sind noch Nisos beste Freundin Lena und Nastja mit im Auto; für beide ist es – hochspannend – die erste Auslandsreise im Leben. Nastja ist Nisos Schwester. Die schüchterne 21jährige beendet in diesem Jahr ihr Logopädie-Studium, hat aber noch keine Vorstellung von ihrer beruflichen Zukunft. Für alle Fälle besucht sie Englisch-Kurse an einer privaten Sprachschule. Man kann nie wissen, vielleicht liegt die Zukunft ja außerhalb Russlands.
Drei Stunden sind es bis Kjachta, drei Stunden dauern die Formalitäten an der Grenze auf russischer und mongolischer Seite. Nach zwei weiteren Stunden erreichen wir die Stadt Darchan. Da die Motortemperatur immer wieder in den roten Bereich steigt, so dass der Ventilator anspringt, entferne ich die Pappe vor dem Motor, so dass diesen der kühlende Fahrwind nun ungehindert erreicht. Man kann nicht sagen, dass die Straße, die von Darchan weiter nach Ulan-Bator führt, in schlechtem Zustand wäre. Sie existiert als solche nicht mehr. Kurze Asphaltfetzen wechseln ab mit scharfkantiger Schotterpiste oder Sand, der sich dort, wo ein quer verlaufendes Wasserrohr darunter verlegt wurde, zu einem meterhohen Haufen auftürmt. An einigen Stellen scheint der Asphalt von riesigen Würmern zernagt worden zu sein, deren Spuren denen von Holzwürmern ähneln, nur um ein Tausendfaches größer. Hier und da finden wir uns plötzlich in einem Netz von Wegen wieder mit Gegenverkehr auch auf der rechten Seite, entstanden durch Versuche, die rüttelärmste und fahrzeugschonendste Weise des Vorankommens zu finden. In den vor uns aufgewirbelten Staubwolken sinkt die Sicht immer wieder kurzzeitig auf Null. Zu allem Überfluss wird es abends auch noch dunkel: war zu erwarten, trotzdem gerade äußerst unpassend. Als mir der Einfall kommt, mit eingeschaltetem Warnblinklicht zu fahren, stelle ich fest, dass weder dieses noch der Blinker funktionieren.
Endlich – die Lichter der Millionenstadt Ulan-Bator, die Hälfte aller drei Millionen Mongolen wohnen hier. Entlang einer sich nun wieder manifestierenden schnurgeraden Straße spenden Laternen Licht, an einer Schranke sind tausend Tugrik – vierzig Cent – Maut zu entrichten. Obwohl es immer geradeaus geht, bin ich ohne Blinker verunsichert. Beim Spurwechsel nach rechts winkt Niso mit dem ausgestreckten Arm aus dem Beifahrerfenster. Wir erreichen unser Hotel. Dreizehn Stunden sind seit der Abfahrt vergangen.
Am nächsten Tag dann der Werkstattbesuch. Werkstatt und Autowäsche sind zusammengelegt in einer großen Garage; während neben uns mit dem Schlauch ein Toyota Prius abgespritzt wird, widmen sich fünf im Wasserdampf stehende junge Mongolen dem Warnblinklichtknopf meines Lada Niva, der offensichtlichen Ursache des Defektes. Da es in der Mongolei fast keine Ladas gibt, findet sich auch kein neuer Lada-Warnblinklichtknopf. Die Mechaniker schrauben den meinen auseinander, reinigen die Kontakte, popeln hier, biegen da und setzen ihn wieder ein, mit dem Ergebnis, dass, wenn auch nicht der Warnblinker, so doch wenigstens rechtes und linkes Blinklicht einzeln wieder funktionieren.
Lenas Schwester ist Schamanin und auch Lena selbst sehr an feinstofflichen, sich der groben, herkömmlichen Wissenschaft entziehenden Fragen interessiert. Unbedingt möchte sie das buddhistische Energiezentrum bei Sainshand besuchen. Unseren Plan, mit dem Auto weiter in die Wüste Gobi zu fahren, geben wir nach den Erfahrungen vom Vortag auf und steigen stattdessen in den Nachtzug. Einen Tag lang begleitet uns wieder Zhabchlan, unser Guide mit dem unaussprechlichen Namen, führt uns zu Kloster, Dinosaurierknochen und zum Berg der Wünsche. Auf der im November noch braungelben Wüstenlandschaft glänzt nun ein dünnes Schneedeckchen.
In der Mongolei sollte man die Landschaft erleben, den Viehhirten zuschauen, Kamele aus der Nähe fotografieren und in einer Jurte schlafen, aber nicht in irgendeiner Siedlung übernachten, von der Hauptstadt vielleicht abgesehen. Wir machen den Fehler und bleiben auf dem Rückweg in Darchan für eine Nacht in einem Hotel. Der gebotene Standard ist unterirdisch. Um nicht in kalter Zugluft zu sitzen, schließe ich die Löcher im Fensterrahmen mit Klebeband und verschraube die Ventilationsöffnung im Bad mit einer Pappe, um hereinströmenden Zigarettenrauch abzuhalten.
Die Überquerung einer Staatsgrenze ist immer ein wenig aufregend. Die zweiunddreißig Seiten meines vor fünf Jahren ausgestellten Passes sind angefüllt mit Stempeln und Visa-Aufklebern. Die Aufmerksamkeit, die mir beim Übertritt einer Grenze bisher zuteil wurde, reicht von keiner (innerhalb der EU) bis zu mehreren Stunden: vor knapp zwanzig Jahren wurde ich bei der Einreise nach Israel einem regelrechten Verhör unterzogen. Es war eine Zeit, in der ich sehr allein war; welch Balsam für die Seele, das längere ungeteilte Interesse einer Grenzbeamtin auf mir ruhen zu fühlen! Die Mongolen halten sich mit der Aufmerksamkeit zurück, es geht ein wenig chaotisch zu, wir stehen erst unschlüssig neben dem Auto herum, werden dann hierhin und dorthin geschickt, hier ein Zettelchen und da ein Stempelchen. Deutlich straffer organisiert geht es auf der russischen Seite zu. Während Drogenhunde unser Auto umschnüffeln und mit Spiegeln und Taschenlampen Kofferraum und Motor studiert werden, werde ich gefilmt, wie ich bestätige, keine verbotenen oder deklarierungspflichtigen Waren aus der Mongolei nach Russland einzuführen. Das heißt zum Beispiel: keine Fleisch- oder Milchprodukte. Gut, dass ich mich erst zuhause an das in den Tiefen des Rucksackes verborgene Päckchen leckeren traditionellen Trockenquarks erinnern werde.

Die große Erleuchtung darüber, was die Welt im Innersten zusammenhält, ist auch auf dieser Reise ausgeblieben. Noch gibt es Hoffnung. Für Ende Januar hat mich die Familie meines aserbaidschanischen Obsthändlers zu Gast nach Baku eingeladen. Im Frühling dann ein Treffen mit Kollegen im russischen Tjumen, dann vielleicht eine Fahrt mit Niso über den tadschikischen Pamir, anschließend der große Umzug nach Deutschland, Sesshaftigkeit, neuer Arbeitsalltag und Ende des Reiseberichte Verfassens. Mir ist schon ein wenig bange vor dem neuen Leben. Aber vielleicht liegen Seelenfrieden und die Lösung der Weltgeheimnisse ja gar nicht in der Ferne.

Mit mir kehrt auch das Cello in seine Heimat zurück: „Deutschland, Mitte 20. Jahrhundert“ steht im Pass. Morgen werde ich das geliebte Instrument meinem Potsdamer Geigenbauer zeigen, in der Annahme, er würde eine umfangreiche Reparatur vornehmen. Stattdessen wird Peter Volkmer in Anbetracht der vielen Spalten, Risse und laienhaft geflickten Stellen ein wenig herumdrucksen und dann sagen: „Totalschaden. Wenn ich hier mit der Reparatur anfange, sind wir schnell bei zehntausend Euro. Kauf dir lieber gleich ein neues Cello.“
Aber davon ahne ich jetzt noch nichts. Wir erreichen nun den Flughafen Berlin Tegel. Fünf Grad. Herbststimmung. Irgendwer hat wohl in meiner Abwesenheit den Winter abgeschafft in Deutschland.