Ende Dezember bat mich eine Kollegin, auf einer
Weihnachtsfeier für die Studenten etwas auf dem Cello vorzuspielen. So kam es
zu meinem vorerst letzten cellistischen Auftritt in Russland. Ich spielte das
Präludium aus der ersten Bach-Suite und den Tango La cumparsita. Nun ist das Instrument auf dem Weg nach Deutschland.
Damit es zwischen hin- und hergeworfenen Koffern nicht in Kleinholz verwandelt
wird, sitzt es im Flugzeug auf einem separaten Platz neben mir, für den ich ein
Ticket wie für einen Passagier buchen musste. Vor vier Jahren hatte ich das
Cello einer Musikerin des Opernorchesters in Ulan-Ude abgekauft, zusammen mit
einem Instrumentenpass, der besagt, dass es nicht unter das „Gesetz über die
Ausfuhr wertvoller Kulturgüter“ fällt und ohne Sondererlaubnis ausgeführt
werden darf. Allerdings hat sich niemand für mich und die auffällige große
schwarze Hülle interessiert: am Zollbereich im Flughafen Domodedovo war weit
und breit kein Zöllner zu sehen.
Das letzte Thema mit meinen Studenten im
Kommunikationskurs hieß „Reisen“. Zur Anschauung breitete ich die bunten Seiten
des Kataloges eines Leipziger Reiseveranstalters auf den Tischen aus und
versuchte, die schönen Bilder aus fernen Ländern als Gesprächsanlass zu nehmen.
Im Kontrast zur Welt der Nachrichten, in der die Erde als hoffnungslose
Anhäufung schier unlösbarer Konflikte erscheint, wirkt unser Planet im appetitweckenden
Reiseprospekt wie ein märchenhafter Traum, ein Ort der Erfüllung aller
Sehnsüchte, bevölkert von gastfreundlichen Menschen in wundersamen
Landschaften.
Den Jahreswechsel verbrachte ich im Dorf Jelan mit
Niso, Maja und den Schwiegereltern. Am letzten Nachmittag des alten Jahres
bereitete mein Schwiegervater im Innenhof Plov
zu, in einem großen Metalltopf auf offenem Feuer. Er schenkte mir seine
riesenhaften Walenki, Filzstiefel,
etwas unförmig zwar – rechts und links unterscheiden sich nicht – aber ideal in
der sibirischen Kälte.
Um der Wahrheit über die Welt – so es sie denn gibt
– ein Stück näher zu kommen, hilft vielleicht die eine oder andere Reise. Das
neue Jahr ist gerade einmal einen Tag alt, die südburjatische Steppe von einer
dünnen Schneeschicht bedeckt, die minus zwanzig Grad fühlen sich in der
freundlichen Sonne am blauen Himmel nicht kalt an. Ich sitze am Steuer und
rolle Richtung Mongolei. Allein würde ich diese Reise nicht machen. Ich würde
sie auch gemeinsam mit nur meiner Frau nicht machen, schließlich waren wir vor
Kurzem erst da. Aber diesmal sind noch Nisos beste Freundin Lena und Nastja mit
im Auto; für beide ist es – hochspannend – die erste Auslandsreise im Leben. Nastja
ist Nisos Schwester. Die schüchterne 21jährige beendet in diesem Jahr ihr Logopädie-Studium,
hat aber noch keine Vorstellung von ihrer beruflichen Zukunft. Für alle Fälle
besucht sie Englisch-Kurse an einer privaten Sprachschule. Man kann nie wissen,
vielleicht liegt die Zukunft ja außerhalb Russlands.
Drei Stunden sind es bis Kjachta, drei Stunden
dauern die Formalitäten an der Grenze auf russischer und mongolischer Seite.
Nach zwei weiteren Stunden erreichen wir die Stadt Darchan. Da die
Motortemperatur immer wieder in den roten Bereich steigt, so dass der
Ventilator anspringt, entferne ich die Pappe vor dem Motor, so dass diesen der
kühlende Fahrwind nun ungehindert erreicht. Man kann nicht sagen, dass die
Straße, die von Darchan weiter nach Ulan-Bator führt, in schlechtem Zustand
wäre. Sie existiert als solche nicht mehr. Kurze Asphaltfetzen wechseln ab mit
scharfkantiger Schotterpiste oder Sand, der sich dort, wo ein quer verlaufendes
Wasserrohr darunter verlegt wurde, zu einem meterhohen Haufen auftürmt. An
einigen Stellen scheint der Asphalt von riesigen Würmern zernagt worden zu
sein, deren Spuren denen von Holzwürmern ähneln, nur um ein Tausendfaches
größer. Hier und da finden wir uns plötzlich in einem Netz von Wegen wieder mit
Gegenverkehr auch auf der rechten Seite, entstanden durch Versuche, die
rüttelärmste und fahrzeugschonendste Weise des Vorankommens zu finden. In den
vor uns aufgewirbelten Staubwolken sinkt die Sicht immer wieder kurzzeitig auf
Null. Zu allem Überfluss wird es abends auch noch dunkel: war zu erwarten,
trotzdem gerade äußerst unpassend. Als mir der Einfall kommt, mit
eingeschaltetem Warnblinklicht zu fahren, stelle ich fest, dass weder dieses
noch der Blinker funktionieren.
Endlich – die Lichter der Millionenstadt Ulan-Bator,
die Hälfte aller drei Millionen Mongolen wohnen hier. Entlang einer sich nun
wieder manifestierenden schnurgeraden Straße spenden Laternen Licht, an einer
Schranke sind tausend Tugrik – vierzig Cent – Maut zu entrichten. Obwohl es
immer geradeaus geht, bin ich ohne Blinker verunsichert. Beim Spurwechsel nach
rechts winkt Niso mit dem ausgestreckten Arm aus dem Beifahrerfenster. Wir
erreichen unser Hotel. Dreizehn Stunden sind seit der Abfahrt vergangen.
Am nächsten Tag dann der Werkstattbesuch. Werkstatt
und Autowäsche sind zusammengelegt in einer großen Garage; während neben uns
mit dem Schlauch ein Toyota Prius abgespritzt wird, widmen sich fünf im
Wasserdampf stehende junge Mongolen dem Warnblinklichtknopf meines Lada Niva,
der offensichtlichen Ursache des Defektes. Da es in der Mongolei fast keine
Ladas gibt, findet sich auch kein neuer Lada-Warnblinklichtknopf. Die
Mechaniker schrauben den meinen auseinander, reinigen die Kontakte, popeln
hier, biegen da und setzen ihn wieder ein, mit dem Ergebnis, dass, wenn auch
nicht der Warnblinker, so doch wenigstens rechtes und linkes Blinklicht einzeln
wieder funktionieren.
Lenas Schwester ist Schamanin und auch Lena selbst
sehr an feinstofflichen, sich der groben, herkömmlichen Wissenschaft
entziehenden Fragen interessiert. Unbedingt möchte sie das buddhistische
Energiezentrum bei Sainshand besuchen. Unseren Plan, mit dem Auto weiter in die
Wüste Gobi zu fahren, geben wir nach den Erfahrungen vom Vortag auf und steigen
stattdessen in den Nachtzug. Einen Tag lang begleitet uns wieder Zhabchlan, unser
Guide mit dem unaussprechlichen Namen, führt uns zu Kloster, Dinosaurierknochen
und zum Berg der Wünsche. Auf der im November noch braungelben Wüstenlandschaft
glänzt nun ein dünnes Schneedeckchen.
In der Mongolei sollte man die Landschaft erleben,
den Viehhirten zuschauen, Kamele aus der Nähe fotografieren und in einer Jurte
schlafen, aber nicht in irgendeiner Siedlung übernachten, von der Hauptstadt
vielleicht abgesehen. Wir machen den Fehler und bleiben auf dem Rückweg in
Darchan für eine Nacht in einem Hotel. Der gebotene Standard ist unterirdisch.
Um nicht in kalter Zugluft zu sitzen, schließe ich die Löcher im Fensterrahmen
mit Klebeband und verschraube die Ventilationsöffnung im Bad mit einer Pappe,
um hereinströmenden Zigarettenrauch abzuhalten.
Die Überquerung einer Staatsgrenze ist immer ein
wenig aufregend. Die zweiunddreißig Seiten meines vor fünf Jahren ausgestellten
Passes sind angefüllt mit Stempeln und Visa-Aufklebern. Die Aufmerksamkeit, die
mir beim Übertritt einer Grenze bisher zuteil wurde, reicht von keiner
(innerhalb der EU) bis zu mehreren Stunden: vor knapp zwanzig Jahren wurde ich
bei der Einreise nach Israel einem regelrechten Verhör unterzogen. Es war eine
Zeit, in der ich sehr allein war; welch Balsam für die Seele, das längere
ungeteilte Interesse einer Grenzbeamtin auf mir ruhen zu fühlen! Die Mongolen
halten sich mit der Aufmerksamkeit zurück, es geht ein wenig chaotisch zu, wir
stehen erst unschlüssig neben dem Auto herum, werden dann hierhin und dorthin
geschickt, hier ein Zettelchen und da ein Stempelchen. Deutlich straffer
organisiert geht es auf der russischen Seite zu. Während Drogenhunde unser Auto
umschnüffeln und mit Spiegeln und Taschenlampen Kofferraum und Motor studiert
werden, werde ich gefilmt, wie ich bestätige, keine verbotenen oder
deklarierungspflichtigen Waren aus der Mongolei nach Russland einzuführen. Das
heißt zum Beispiel: keine Fleisch- oder Milchprodukte. Gut, dass ich mich erst
zuhause an das in den Tiefen des Rucksackes verborgene Päckchen leckeren
traditionellen Trockenquarks erinnern werde.
Die große Erleuchtung darüber, was die Welt im
Innersten zusammenhält, ist auch auf dieser Reise ausgeblieben. Noch gibt es
Hoffnung. Für Ende Januar hat mich die Familie meines aserbaidschanischen
Obsthändlers zu Gast nach Baku eingeladen. Im Frühling dann ein Treffen mit
Kollegen im russischen Tjumen, dann vielleicht eine Fahrt mit Niso über den
tadschikischen Pamir, anschließend der große Umzug nach Deutschland,
Sesshaftigkeit, neuer Arbeitsalltag und Ende des Reiseberichte Verfassens. Mir
ist schon ein wenig bange vor dem neuen Leben. Aber vielleicht liegen
Seelenfrieden und die Lösung der Weltgeheimnisse ja gar nicht in der Ferne.
Mit mir kehrt auch das Cello in seine Heimat
zurück: „Deutschland, Mitte 20. Jahrhundert“ steht im Pass. Morgen werde ich
das geliebte Instrument meinem Potsdamer Geigenbauer zeigen, in der Annahme, er
würde eine umfangreiche Reparatur vornehmen. Stattdessen wird Peter Volkmer in
Anbetracht der vielen Spalten, Risse und laienhaft geflickten Stellen ein wenig
herumdrucksen und dann sagen: „Totalschaden. Wenn ich hier mit der Reparatur
anfange, sind wir schnell bei zehntausend Euro. Kauf dir lieber gleich ein neues
Cello.“
Aber davon ahne ich jetzt noch nichts. Wir
erreichen nun den Flughafen Berlin Tegel. Fünf Grad. Herbststimmung. Irgendwer
hat wohl in meiner Abwesenheit den Winter abgeschafft in Deutschland.