Als ich vor über 10 Jahren
begann, Russland mit dem Zug zu bereisen, konnte ich es kaum erwarten, mit
anderen Menschen ins Gespräch zu kommen. Was bewegt meine Mitreisenden, was
denken sie über ihr Leben und Land, was haben sie erlebt und erlitten, welche
Beeren wachsen in ihrem Garten und wie stehen sie zu Putin, alles interessierte
mich, von den kleinen Alltagsdingen bis hin zu den ganz großen Zusammenhängen.
Die geheimnisvolle russische Seele wollte ich ergründen und nebenbei ein wenig
selbst zum Russen werden, wobei natürlich die Aneignung und Perfektionierung
der Landessprache eine ganz wichtige Rolle für mich spielte.
Inwischen ist Alltag in mein
russisches Leben eingezogen. Die russische Seele kenne ich nun zur
Genüge, und die Sprache kann ich auch.
Natürlich stimmt das eigentlich
nicht. Aber so schien es mir zumindest, als ich mich, auf dem Rückweg von einer
Dienstreise und ermüdet von einem anstrengenden Tag, in den Zug von Irkutsk
nach Ulan-Ude setzte, um nach 8stündiger Nachtfahrt in meine Wahlheimat zu
gelangen. Abgespannt und mit geschlossenen Augen lehnte ich meinen Kopf ans
Fenster des plazkartny-Waggons und wartete nur darauf, dass der Zug endlich
abfahren und die Wagenbegleiterin die Bettwäsche austeilen möge, um dann
endlich die Matratze ausrollen und mich hinlegen zu können. Aus den
Augenwinkeln hatte ich noch die Unmengen an grün uniformierten Soldaten
mitbekommen, junge Kerle auf dem Weg von einer Übung zurück in ihre Kaserne,
mit denen der Wagen übervoll war. Ansonsten war mein Kopf leer, lasst mich bloß
alle in Ruhe, dachte ich, schnell schlafen, morgen früh bin ich schon zuhause.
„Was sind wir denn so traurig?“,
hörte ich plötzlich eine gut gelaunte Stimme dicht an meinem Ohr wispern. Ich
öffnete die Augen einen kleinen Spalt und sah meinen dicht zu mir
heruntergebeugten Gegenüber, der sich anschickte, die Pritsche über mir zu
beziehen. „Wie wäre es mit einem Gläschen Wodka?“
Ich muss wohl einen sehr
mitleiderregenden Eindruck auf ihn gemacht haben, denn trotz meines
Kopfschüttelns wiederholte er sein Angebot, leise, damit auch ja die
Wagenbegleiterin nichts mitbekäme. „Ich habe guten dabei!“, kam das
eindringliche Flüstern zum zweiten Mal, und diesmal konnte ich ein breites
Grinsen nicht unterdrücken. Wenn ich jetzt etwas sage, dachte ich, und er hört
meinen Akzent, und er fragt mich, wo ich herkomme, und ich sage „Deutschland“,
dann ist es mit der Ruhe erst einmal vorbei. Deutsche Autobahnen sind großartig
und deutsche Autos einfach toll, trotz Flüchtlingen darf man gegen Abend noch
die Straße betreten, und keine Ahnung, wie Bayern München neulich gespielt hat,
– all dies möchte ich dir jetzt gerne nicht erzählen, ging es mir durch den
Kopf. Gleichzeitig registrierte ich mit Erleichterung, dass sich mein Nachbar
schon anderen Gesprächspartnern zugewandt hatte. „Provozhajushije, vychodim!“, Begleitpersonen bitte aussteigen, rief
die Stimme der Provodnitsa durch den
Gang, wir setzten uns in Bewegung; wenige Minuten später hatte ich das
ersehnte, in Folie eingeschweißte Päckchen mit der Bettwäsche auf dem Tisch
liegen und machte mit ein paar routinierten, sich in nichts von denen der
Einheimischen unterscheidenden Bewegungen meinen Liegeplatz nachtklar.