Dienstag, 30. Mai 2017

Reisemüde



Als ich vor über 10 Jahren begann, Russland mit dem Zug zu bereisen, konnte ich es kaum erwarten, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen. Was bewegt meine Mitreisenden, was denken sie über ihr Leben und Land, was haben sie erlebt und erlitten, welche Beeren wachsen in ihrem Garten und wie stehen sie zu Putin, alles interessierte mich, von den kleinen Alltagsdingen bis hin zu den ganz großen Zusammenhängen. Die geheimnisvolle russische Seele wollte ich ergründen und nebenbei ein wenig selbst zum Russen werden, wobei natürlich die Aneignung und Perfektionierung der Landessprache eine ganz wichtige Rolle für mich spielte.

Inwischen ist Alltag in mein russisches Leben eingezogen. Die russische Seele kenne ich nun zur Genüge, und die Sprache kann ich auch.

Natürlich stimmt das eigentlich nicht. Aber so schien es mir zumindest, als ich mich, auf dem Rückweg von einer Dienstreise und ermüdet von einem anstrengenden Tag, in den Zug von Irkutsk nach Ulan-Ude setzte, um nach 8stündiger Nachtfahrt in meine Wahlheimat zu gelangen. Abgespannt und mit geschlossenen Augen lehnte ich meinen Kopf ans Fenster des plazkartny-Waggons und wartete nur darauf, dass der Zug endlich abfahren und die Wagenbegleiterin die Bettwäsche austeilen möge, um dann endlich die Matratze ausrollen und mich hinlegen zu können. Aus den Augenwinkeln hatte ich noch die Unmengen an grün uniformierten Soldaten mitbekommen, junge Kerle auf dem Weg von einer Übung zurück in ihre Kaserne, mit denen der Wagen übervoll war. Ansonsten war mein Kopf leer, lasst mich bloß alle in Ruhe, dachte ich, schnell schlafen, morgen früh bin ich schon zuhause.

„Was sind wir denn so traurig?“, hörte ich plötzlich eine gut gelaunte Stimme dicht an meinem Ohr wispern. Ich öffnete die Augen einen kleinen Spalt und sah meinen dicht zu mir heruntergebeugten Gegenüber, der sich anschickte, die Pritsche über mir zu beziehen. „Wie wäre es mit einem Gläschen Wodka?“

Ich muss wohl einen sehr mitleiderregenden Eindruck auf ihn gemacht haben, denn trotz meines Kopfschüttelns wiederholte er sein Angebot, leise, damit auch ja die Wagenbegleiterin nichts mitbekäme. „Ich habe guten dabei!“, kam das eindringliche Flüstern zum zweiten Mal, und diesmal konnte ich ein breites Grinsen nicht unterdrücken. Wenn ich jetzt etwas sage, dachte ich, und er hört meinen Akzent, und er fragt mich, wo ich herkomme, und ich sage „Deutschland“, dann ist es mit der Ruhe erst einmal vorbei. Deutsche Autobahnen sind großartig und deutsche Autos einfach toll, trotz Flüchtlingen darf man gegen Abend noch die Straße betreten, und keine Ahnung, wie Bayern München neulich gespielt hat, – all dies möchte ich dir jetzt gerne nicht erzählen, ging es mir durch den Kopf. Gleichzeitig registrierte ich mit Erleichterung, dass sich mein Nachbar schon anderen Gesprächspartnern zugewandt hatte. „Provozhajushije, vychodim!“, Begleitpersonen bitte aussteigen, rief die Stimme der Provodnitsa durch den Gang, wir setzten uns in Bewegung; wenige Minuten später hatte ich das ersehnte, in Folie eingeschweißte Päckchen mit der Bettwäsche auf dem Tisch liegen und machte mit ein paar routinierten, sich in nichts von denen der Einheimischen unterscheidenden Bewegungen meinen Liegeplatz nachtklar.