Freitag, 12. Mai 2017

Leben in der Steppe


Vor drei Tagen endete in Ulan-Ude die Fernheizperiode. Vorübergehend wurde seitdem auch das heiße Wasser abgestellt, wohl um die üblichen Wartungsarbeiten an den Rohren durchzuführen. 

Am Mittwoch Nachmittag unternahm ich mit Christian einen Ausflug ins Tugnuiski-Tal etwa 100 Kilometer nach Süden. Da ich mir bei meinem letzten Deutschlandaufenthalt einen Internationalen Führerschein besorgt habe – der EU-Führerschein gilt in Russland nur bis zu drei Monaten nach Einreise – , lässt er mich auch mal ans Steuer seines geländetauglichen UASik „Patriot“. Auf diese Weise fahre ich hier zum allerersten Mal Auto.

Christian ist vor knapp zwei Jahren etwa zeitgleich mit mir zusammen mit seiner Frau Sabine hierher gekommen, die in Schule Nr. 1 Deutsch unterrichtet. Der etwa 45jährige Förster kennt sich in Flora und Fauna bestens aus. Wo ich außer der kahlen Steppe nichts weiter sehe, zückt er begeistert sein Fernglas. „Siehst du diesen schwarzen Punkt dort? Der Kopf eines Murmeltieres!“ Wenig später reißt er das schwere Objektiv seiner Kamera in die Höhe. „Steinadler!“ Kurz darauf: „Jungfernkraniche!“ Außer ein paar Schatten am Horizont habe ich nichts wahrgenommen. Vor unserer Motorhaube flattern Steinschmätzer und Lerchen auf, ein – in Deutschland, so lerne ich, höchst seltener – Wiedehopf zeigt sich; an einem kleinen See kreischen Lachmöwen, am Ufer spazieren Bruchwasserläufer. In der Ferne kreisen Weihen und Bussarde. Jetzt, im Mai, zeigen sich auch die ersten Farbtupfer im Steppenboden: lila Küchenschellen und kleine gelbe Schwertlilien.

Ein eisiger Wind bläst uns um die Ohren. Wer in der Steppe wirtschaften will, muss hart im Nehmen sein. Zwischen den Hügeln verstreut liegen einzelne Gehöfte, gelegentlich sichten wir Kühe, Schafe, Ziegen und Pferde. Ständig kommen wir an Spuren früherer Landwirtschaft vorbei, längst nicht mehr bewirtschaftete, überwachsene Felder. Seit dem Ende der Sowjetunion hat der Agrarsektor in Burjatien wie auch die Industrie insgesamt einen deutlichen Niedergang erfahren. Als sich der Tag dem Ende zuneigt, erspähen wir zum ersten Mal einen Traktor in Aktion.