Sonntag, 7. Mai 2017

Form und Freiheit

Eine nächtliche Busfahrt, 10 Stunden dauert sie insgesamt. Abends wird ein Film eingelegt, ab 22 Uhr gibt es Musik. Um Mitternacht bitte ich den Fahrer, die Lautstärke zu reduzieren, um schlafen zu können. „Ist die Musik zu laut oder was?“, ruft dieser nach hinten in den Fahrgastraum. Meine Mitreisenden dösen stumpf vor sich hin, einige rufen ein gleichgültiges „Njeet…“ „Dann steck dir halt was in die Ohren!“, bekomme ich zur Antwort. Der Fahrer brauchte die Beschallung, um nicht einzuschlafen, hatte aber vorne bei sich keine Lautsprecher, so dass er den ganzen Bus bespielen musste, um etwas zu hören. Um 2 Uhr, mit den Nerven völlig am Ende (Ohropax sind gegen Lautsprecher in der Nähe wirkungslos), drücke ich dem Mann verzweifelt 1000 Rubel in die Hand, woraufhin endlich Ruhe einkehrt. Bin ich mit Menschen unterwegs oder mit einer für akustische Schwingungen unempfindlichen, abgestumpften Kuhherde, frage ich mich. Und: wäre so etwas in Deutschland möglich? 
 
Russland ist nicht das Land, in dem auf besondere Empfindlichkeiten Rücksicht genommen wird. Die russische Gesellschaft ist eine Mehrheitsgesellschaft mit ausgesprochenem Kollektiv- und Hierarchiedenken. Im Bus ist der Fahrer der Boss, und wenn der Musik braucht, dann ist das eben so. Die Meinungen und Bedürfnisse von Minderheiten haben sich ganz klar der Masse unterzuordnen, von oben werden einheitliche Linien vorgegeben. Das zeigt sich im Kleinen wie in der großen Politik: Andersdenkende sollten sich aus der Öffentlichkeit heraushalten. Die „Zeugen Jehovas“ wurden kürzlich verboten (20.4.), ebenso drei ausländisch finanzierte Nichtregierungsorganisationen (26.4.).  In der westlichen Berichterstattung wird natürlich nicht erwähnt, dass die große Mehrheit der Russen hinter ihrem Präsidenten und seiner Politik steht. - Ein anderes Extrem ist die deutsche Minderheitendemokratie, im Zentrum deren Aufmerksamkeit die Bedürfnisse kleiner Gruppen stehen, und seien sie auch noch so absurd; die elementarsten naturbedingten Gegebenheiten werden der Freiheit des Individuums anheim gestellt. Akademiker diskutieren über den Unterstrich „_“ zwischen „Student“ und „innen“, damit auch die keinem Geschlecht zugehörigen Menschen nicht benachteiligt werden und sich in der Anrede wiederfinden (wenn ich hier Deutschlehrkräften davon erzähle, gibt es jedesmal Kopfschütteln oder Gelächter), und die ZEIT publiziert ein dreiseitiges Dossier über einen Mann, der mit einer lebensgroßen Puppe schläft und – leider – mit dieser seiner sexuellen Vorliebe in der ach so konservativen, intoleranten Öffentlichkeit keine Anerkennung findet.

Wenn ich mit einer Gruppe von Menschen etwas unternehme, dann erwarte ich einen gewissen Informationsfluss, um orientiert zu sein, etwa über das Wohin, wie lange,  über die näheren Umstände. In Russland fällt mir auf, dass die Leute schnell geneigt sind, sich einer Führungsperson unterzuordnen und ihr bedingungslos zu folgen, auch wenn außer „vorwärts, los geht’s“ nichts mitgeteilt wird; Kritisieren oder Hinterfragen findet nicht statt. Das Verb „hinterfragen“ kann man nicht einmal ordentlich ins Russische übersetzen. Es gibt keine Diskussionsprozesse, die Gruppe wird in keinerlei Entscheidungsfindungen einbezogen und verlangt dies auch gar nicht, sondern erfüllt wie eine dumme Schafherde die Anweisungen von oben. Auf der anderen Seite hier wieder das typisch deutsche, wie ich finde, endlose Ausdiskutieren und Zur-Abstimmung-Stellen, um ja niemanden zu kurz kommen zu lassen; wenigstens sollen alle das Gefühl bekommen, dass ihre wichtige Meinung erhört wurde.

Auf der Fahrt von Krasnojarsk nach Irkutsk hatte ich das Glück, mit einem interessanten Gesprächspartner im Zugabteil unterwegs zu sein, ein bärtiger Informatikprofessor aus Irkutsk, der schon oft in Deutschland war. Wir fachsimpelten über klassische Musik und kamen dann auf das Wesen unserer Kulturen zu sprechen. „Die russische Seele ist groß und breit“, meinte der Mann und strich sich über seinen weißen Bart, „so weit und endlos wie das Land. Sie kennt von innen heraus keine Begrenzungen. Deshalb muss man ihr von außen Form geben, sonst gibt es Chaos. Ihr Deutsche habt Disziplin und Form in euch, das moralische Gesetz in mir, wie schon Kant sagte. Deshalb könnt ihr viel mehr äußere Freiheit vertragen, ohne dass es euch schadet.“ Während der Zug über das Mittelsibirische Bergland ratterte, hatte ich Zeit, über diese Worte nachzudenken. Das wäre zumindest eine Erklärung für die vielen kleinteiligen russischen Verbote und Strafandrohungen und für das äußerlich in manchen Situationen viel förmlichere, aus deutscher Sicht altmodisch wirkende Auftreten der Menschen – und für die ins Grenzenlose gehenden technischen Höchstleistungen, für die Unbedingtheit der russischen Gastfreundschaft, für frei fließende, aufrichtige, unverstellte Emotionen, zu denen ich kaum fähig wäre und die mir merkwürdig übertrieben scheinen. Der inneren Weite und unbedingten Hingabe der russischen Seele steht die disziplinierte Selbstbeschränkung und Prinzipientreue der westeuropäischen gegenüber. In Deutschland kann es schon einmal passieren, dass mir ein Freund gegen Ende meines Besuches bei ihm vorrechnet, wie viel Strom ich verbraucht habe, und mich höflich bittet, dafür zu zahlen – nicht, weil er das Geld gerade bitter nötig hätte, sondern einfach so, aus Prinzip. So etwas wäre hier undenkbar.

Form und Freiheit, Rahmen und Zügellosigkeit stehen im Osten und im Westen in einem anderen Verhältnis zueinander, es scheint, als sind in Russland die beiden Pole in die Extreme auseinandergezogen. Von der Schule an lieben russische Jungs und Männer Uniformen („Ich bin in der Norm, ich trage Uniform!“, wirbt ein Kleidungsgeschäft), vergessen dann aber jede Haltung, wenn sie sich in stundenlangen Gelagen unter den Tisch trinken. Die Frauen, oft ausgesprochen hübsch und viel weiblicher als die deutschen, mitunter aber auch so aufgetakelt, dass es schmerzt beim Hinsehen, stolzieren auf Absatzschuhen an wilden Müllbergen am Straßenrand vorbei. 

Die Bewohner des größten Landes der Erde waren und sind zu großen Dingen fähig, zu Atomkraft und der Vision eines weltumspannenden friedlichen Zusammenlebens der Völker unter dem Banner des Kommunismus, zu Menschen im All, zu tausenden Kilometern Eisenbahn auf Permafrostboden und bei minus 40 Grad errichteten gigantischen Staumauern. Im Russischen gibt es das Wort avrál, etwa als „kollektive Hauruck-Aktion“ übersetzbar: unter Anspannung aller Kräfte in kurzer Zeit gigantische Leistungen zu erbringen, das ist möglich, nicht aber das regelmäßige, disziplinierte Instandhalten von Häusern oder Straßen. In Russland wirkt kaum etwas fertig und zu Ende durchdacht, alles ist ewig zwischen hoffnungslosem Verfall und grandiosem Aufbruch. Die goldene Zukunft ist ganz nah, heißt es, so war es gestern, so ist es heute und so wird es morgen sein.