Eine nächtliche Busfahrt, 10 Stunden dauert sie insgesamt.
Abends wird ein Film eingelegt, ab 22 Uhr gibt es Musik. Um Mitternacht bitte
ich den Fahrer, die Lautstärke zu reduzieren, um schlafen zu können. „Ist die
Musik zu laut oder was?“, ruft dieser nach hinten in den Fahrgastraum. Meine
Mitreisenden dösen stumpf vor sich hin, einige rufen ein gleichgültiges
„Njeet…“ „Dann steck dir halt was in die Ohren!“, bekomme ich zur Antwort. Der
Fahrer brauchte die Beschallung, um nicht einzuschlafen, hatte aber vorne bei
sich keine Lautsprecher, so dass er den ganzen Bus bespielen musste, um etwas
zu hören. Um 2 Uhr, mit den Nerven völlig am Ende (Ohropax sind gegen
Lautsprecher in der Nähe wirkungslos), drücke ich dem Mann verzweifelt 1000
Rubel in die Hand, woraufhin endlich Ruhe einkehrt. Bin ich mit Menschen
unterwegs oder mit einer für akustische Schwingungen unempfindlichen, abgestumpften
Kuhherde, frage ich mich. Und: wäre so etwas in Deutschland möglich?
Russland ist nicht das Land, in dem auf besondere
Empfindlichkeiten Rücksicht genommen wird. Die russische Gesellschaft ist eine
Mehrheitsgesellschaft mit ausgesprochenem Kollektiv- und Hierarchiedenken. Im
Bus ist der Fahrer der Boss, und wenn der Musik braucht, dann ist das eben so. Die
Meinungen und Bedürfnisse von Minderheiten haben sich ganz klar der Masse unterzuordnen,
von oben werden einheitliche Linien vorgegeben. Das zeigt sich im Kleinen wie
in der großen Politik: Andersdenkende sollten sich aus der Öffentlichkeit
heraushalten. Die „Zeugen Jehovas“ wurden kürzlich verboten (20.4.), ebenso
drei ausländisch finanzierte Nichtregierungsorganisationen (26.4.). In der westlichen Berichterstattung wird natürlich
nicht erwähnt, dass die große Mehrheit der Russen hinter ihrem Präsidenten und
seiner Politik steht. - Ein anderes Extrem ist die deutsche
Minderheitendemokratie, im Zentrum deren Aufmerksamkeit die Bedürfnisse kleiner
Gruppen stehen, und seien sie auch noch so absurd; die elementarsten
naturbedingten Gegebenheiten werden der Freiheit des Individuums anheim
gestellt. Akademiker diskutieren über den Unterstrich „_“ zwischen „Student“
und „innen“, damit auch die keinem Geschlecht zugehörigen Menschen nicht
benachteiligt werden und sich in der Anrede wiederfinden (wenn ich hier
Deutschlehrkräften davon erzähle, gibt es jedesmal Kopfschütteln oder
Gelächter), und die ZEIT publiziert ein dreiseitiges Dossier über einen Mann,
der mit einer lebensgroßen Puppe schläft und – leider – mit dieser seiner
sexuellen Vorliebe in der ach so konservativen, intoleranten Öffentlichkeit
keine Anerkennung findet.
Wenn ich mit einer Gruppe von Menschen etwas unternehme,
dann erwarte ich einen gewissen Informationsfluss, um orientiert zu sein, etwa
über das Wohin, wie lange, über die
näheren Umstände. In Russland fällt mir auf, dass die Leute schnell geneigt
sind, sich einer Führungsperson unterzuordnen und ihr bedingungslos zu folgen,
auch wenn außer „vorwärts, los geht’s“ nichts mitgeteilt wird; Kritisieren oder
Hinterfragen findet nicht statt. Das Verb „hinterfragen“ kann man nicht einmal
ordentlich ins Russische übersetzen. Es gibt keine Diskussionsprozesse, die
Gruppe wird in keinerlei Entscheidungsfindungen einbezogen und verlangt dies
auch gar nicht, sondern erfüllt wie eine dumme Schafherde die Anweisungen von
oben. Auf der anderen Seite hier wieder das typisch deutsche, wie ich finde,
endlose Ausdiskutieren und Zur-Abstimmung-Stellen, um ja niemanden zu kurz
kommen zu lassen; wenigstens sollen alle das Gefühl bekommen, dass ihre
wichtige Meinung erhört wurde.
Auf der Fahrt von Krasnojarsk nach Irkutsk hatte ich das
Glück, mit einem interessanten Gesprächspartner im Zugabteil unterwegs zu sein,
ein bärtiger Informatikprofessor aus Irkutsk, der schon oft in Deutschland war.
Wir fachsimpelten über klassische Musik und kamen dann auf das Wesen unserer
Kulturen zu sprechen. „Die russische Seele ist groß und breit“, meinte der Mann
und strich sich über seinen weißen Bart, „so weit und endlos wie das Land. Sie
kennt von innen heraus keine Begrenzungen. Deshalb muss man ihr von außen Form
geben, sonst gibt es Chaos. Ihr Deutsche habt Disziplin und Form in euch, das moralische Gesetz in mir, wie schon
Kant sagte. Deshalb könnt ihr viel mehr äußere Freiheit vertragen, ohne dass es
euch schadet.“ Während der Zug über das Mittelsibirische Bergland ratterte,
hatte ich Zeit, über diese Worte nachzudenken. Das wäre zumindest eine
Erklärung für die vielen kleinteiligen russischen Verbote und Strafandrohungen und
für das äußerlich in manchen Situationen viel förmlichere, aus deutscher Sicht
altmodisch wirkende Auftreten der Menschen – und für die ins Grenzenlose
gehenden technischen Höchstleistungen, für die Unbedingtheit der russischen Gastfreundschaft,
für frei fließende, aufrichtige, unverstellte Emotionen, zu denen ich kaum
fähig wäre und die mir merkwürdig übertrieben scheinen. Der inneren Weite und
unbedingten Hingabe der russischen Seele steht die disziplinierte
Selbstbeschränkung und Prinzipientreue der westeuropäischen gegenüber. In
Deutschland kann es schon einmal passieren, dass mir ein Freund gegen Ende
meines Besuches bei ihm vorrechnet, wie viel Strom ich verbraucht habe, und
mich höflich bittet, dafür zu zahlen – nicht, weil er das Geld gerade bitter
nötig hätte, sondern einfach so, aus Prinzip. So etwas wäre hier undenkbar.
Form und Freiheit, Rahmen und Zügellosigkeit stehen im Osten
und im Westen in einem anderen Verhältnis zueinander, es scheint, als sind in
Russland die beiden Pole in die Extreme auseinandergezogen. Von der Schule an
lieben russische Jungs und Männer Uniformen („Ich bin in der Norm, ich trage
Uniform!“, wirbt ein Kleidungsgeschäft), vergessen dann aber jede Haltung, wenn
sie sich in stundenlangen Gelagen unter den Tisch trinken. Die Frauen, oft
ausgesprochen hübsch und viel weiblicher als die deutschen, mitunter aber auch
so aufgetakelt, dass es schmerzt beim Hinsehen, stolzieren auf Absatzschuhen an
wilden Müllbergen am Straßenrand vorbei.
Die Bewohner des größten Landes der Erde waren und sind zu
großen Dingen fähig, zu Atomkraft und der Vision eines weltumspannenden
friedlichen Zusammenlebens der Völker unter dem Banner des Kommunismus, zu
Menschen im All, zu tausenden Kilometern Eisenbahn auf Permafrostboden und bei
minus 40 Grad errichteten gigantischen Staumauern. Im Russischen gibt es das
Wort avrál, etwa als „kollektive
Hauruck-Aktion“ übersetzbar: unter Anspannung aller Kräfte in kurzer Zeit
gigantische Leistungen zu erbringen, das ist möglich, nicht aber das
regelmäßige, disziplinierte Instandhalten von Häusern oder Straßen. In Russland
wirkt kaum etwas fertig und zu Ende durchdacht, alles ist ewig zwischen hoffnungslosem
Verfall und grandiosem Aufbruch. Die
goldene Zukunft ist ganz nah, heißt es, so
war es gestern, so ist es heute und so wird es morgen sein.