Meine Studenten verstehen
das Wort „Lakritze“ nicht. In irgendeinem deutschen Text kam es vor, und es
stellt sich heraus, dass sie diese Süßigkeit gar nicht kennen. Von meiner
Mutter ließ ich mir deshalb eigens ein Päckchen mit Katjes schicken und teile nun Katzenpfötchen
aus. Die jungen Leute probieren es, einige verziehen das Gesicht. Wem schmeckt
es denn, frage ich. Sieben Gesichter schauen mich unsicher an, eine Studentin
hebt zögerlich die Hand. Erinnert an Hustensaft, meint eine andere. Ja, so eine
Medizin musste ich früher auch schlucken, sagt eine dritte.
Im Seminar „Literarischer
Text“, 2. Unterrichtsjahr. Hausaufgabe war, eine kurze Zusammenfassung von drei
Kapiteln aus Kleists „Der zerbrochene Krug“ zu schreiben. Kleists dichte,
umständliche Originalsprache ist für Deutschlerner nicht geeignet, deshalb
lesen wir das spannende Drama in einer stark vereinfachten Fassung. Fast
niemand hat die Aufgabe gemacht. „Wenn ihr das nächste Mal braucht ihr ohne
Hausaufgaben gar nicht erst zum Kurs zu kommen!“, warne ich sie, in der
Hoffnung, dass es ihnen peinlich ist und sie sich zuhause endlich mal
hinsetzen. Was passiert? In der darauffolgenden Woche sitze ich mit zwei von
acht Leuten im Unterricht.
Im Foyer des
Institutsgebäudes sitzt der Ochránnik,
der Wachmann. 24 Stunden am Tag ist er da, in einem separaten kleinen Raum
hinter einer Glaswand. Er gibt den Lehrkräften die Schlüssel und patroulliert
gelegentlich durchs Gebäude. Heute ist Valerius da, mein Lieblings-Ochrannik,
der gesprächigste und lustigste der vier Wachleute, die einander ablösen. Laba diena, begrüßt er mich per
Handschlag, ku norite? Ich verstehe
ihn nicht und antworte auf Deutsch: Alles
klar, dann gehe ich mal an die Arbeit, schönes Wetter heute! Nun ist er es,
der nichts versteht. Wir lachen und setzten unser Scheingespräch noch eine
Weile fort, Valerius auf Litauisch, ich auf Deutsch, bevor wir auf Russisch
weiterplaudern. Der alte Mann hat in seinen jungen Jahren drei Jahre bei der
Flotte gedient und war unter anderem im Baltikum stationiert, von dem er heute
noch schwärmt.
Am Freitag Vormittag
sitze ich in meinem Büro und kann mich nicht auf die Arbeit konzentrieren.
Draußen, auf dem Sowjet-Platz vor dem Institut, ist die Hölle los: hunderte
Soldaten marschieren auf und ab, mit und ohne Maschinengewehr, in grünen,
blauen, weißen und sonstwas für Uniformen, Trommelwirbel und Blasmusik,
frenetische „Hurra“-Rufe, ein die Stimmung aufpeitschender Ansager beschwört
den Großen Sieg, die Straßen sind vollgestopft mit Armeelastwagen und Panzern.
Die Nationalhymne erklingt. Schüsse peitschen. Man könnte denken, die russische
Armee bereitet sich auf den Ernstfall vor. Aber nein – sie üben nur. Sie üben für die große Parade am 9. Mai, am Tag des
Sieges, aber es wirkt auf mich, als steht der Dritte Weltkrieg kurz vor der
Tür.
Nun gut, wer wollte den
Russen verübeln, ihren Sieg zu feiern?
Auf dem Rückweg nachhause
komme ich an einigen an der Straße aufgestellten Panzern vorbei, auf denen
Kinder herumturnen. Polizisten stehen daneben und passen auf, dass es geordnet
zugeht. Stolze Eltern fotografieren ihre Sprösslinge zwischen Kanonenrohren und
Granatwerfern. Früh übt sich, was später ein guter Soldat werden will.