Montag, 8. Mai 2017

Uni-Episoden III

Meine Studenten verstehen das Wort „Lakritze“ nicht. In irgendeinem deutschen Text kam es vor, und es stellt sich heraus, dass sie diese Süßigkeit gar nicht kennen. Von meiner Mutter ließ ich mir deshalb eigens ein Päckchen mit Katjes schicken und teile nun Katzenpfötchen aus. Die jungen Leute probieren es, einige verziehen das Gesicht. Wem schmeckt es denn, frage ich. Sieben Gesichter schauen mich unsicher an, eine Studentin hebt zögerlich die Hand. Erinnert an Hustensaft, meint eine andere. Ja, so eine Medizin musste ich früher auch schlucken, sagt eine dritte.
 
Im Seminar „Literarischer Text“, 2. Unterrichtsjahr. Hausaufgabe war, eine kurze Zusammenfassung von drei Kapiteln aus Kleists „Der zerbrochene Krug“ zu schreiben. Kleists dichte, umständliche Originalsprache ist für Deutschlerner nicht geeignet, deshalb lesen wir das spannende Drama in einer stark vereinfachten Fassung. Fast niemand hat die Aufgabe gemacht. „Wenn ihr das nächste Mal braucht ihr ohne Hausaufgaben gar nicht erst zum Kurs zu kommen!“, warne ich sie, in der Hoffnung, dass es ihnen peinlich ist und sie sich zuhause endlich mal hinsetzen. Was passiert? In der darauffolgenden Woche sitze ich mit zwei von acht Leuten im Unterricht.

Im Foyer des Institutsgebäudes sitzt der Ochránnik, der Wachmann. 24 Stunden am Tag ist er da, in einem separaten kleinen Raum hinter einer Glaswand. Er gibt den Lehrkräften die Schlüssel und patroulliert gelegentlich durchs Gebäude. Heute ist Valerius da, mein Lieblings-Ochrannik, der gesprächigste und lustigste der vier Wachleute, die einander ablösen. Laba diena, begrüßt er mich per Handschlag, ku norite? Ich verstehe ihn nicht und antworte auf Deutsch: Alles klar, dann gehe ich mal an die Arbeit, schönes Wetter heute! Nun ist er es, der nichts versteht. Wir lachen und setzten unser Scheingespräch noch eine Weile fort, Valerius auf Litauisch, ich auf Deutsch, bevor wir auf Russisch weiterplaudern. Der alte Mann hat in seinen jungen Jahren drei Jahre bei der Flotte gedient und war unter anderem im Baltikum stationiert, von dem er heute noch schwärmt.

Am Freitag Vormittag sitze ich in meinem Büro und kann mich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Draußen, auf dem Sowjet-Platz vor dem Institut, ist die Hölle los: hunderte Soldaten marschieren auf und ab, mit und ohne Maschinengewehr, in grünen, blauen, weißen und sonstwas für Uniformen, Trommelwirbel und Blasmusik, frenetische „Hurra“-Rufe, ein die Stimmung aufpeitschender Ansager beschwört den Großen Sieg, die Straßen sind vollgestopft mit Armeelastwagen und Panzern. Die Nationalhymne erklingt. Schüsse peitschen. Man könnte denken, die russische Armee bereitet sich auf den Ernstfall vor. Aber nein – sie üben nur. Sie üben für die große Parade am 9. Mai, am Tag des Sieges, aber es wirkt auf mich, als steht der Dritte Weltkrieg kurz vor der Tür.
Nun gut, wer wollte den Russen verübeln, ihren Sieg zu feiern?
Auf dem Rückweg nachhause komme ich an einigen an der Straße aufgestellten Panzern vorbei, auf denen Kinder herumturnen. Polizisten stehen daneben und passen auf, dass es geordnet zugeht. Stolze Eltern fotografieren ihre Sprösslinge zwischen Kanonenrohren und Granatwerfern. Früh übt sich, was später ein guter Soldat werden will.