Der Munku-Sardýk ist mit 3491 Metern der höchste Berg der Republik Burjatien und liegt im Östlichen Sajan-Gebirge, dessen höchster Grat die Grenze zwischen Russland und der Mongolei bildet. Um die Grenzregion besuchen zu dürfen, ist eine spezielle Erlaubnis erforderlich. Diese kann bei der Grenzschutzabteilung des Inlandsgeheimdienstes FSB in Ulan-Ude beantragt werden, wobei die Bearbeitungszeit für Ausländer zwei Monate beträgt. Diesen Propusk genannten Passierschein muss man bei einem Kontrollposten kurz vor der Siedlung Mondy vorzeigen, sonst wird man gar nicht erst in die Nähe des Berges gelassen.
In den Feiertagen Anfang Mai wird
der Munku-Sardyk traditionell jedes Jahr von hunderten Bergliebhabern
bestiegen. Um diese Zeit ist es schon recht warm, aber noch kalt genug, dass
die Bergbäche gefroren sind und man ein gutes Stück des Weges bequem auf dem
Eis zurücklegen kann. Niso und ich schlossen uns einer geführten Gruppe von
jungen Leuten an, von denen wir uns auch einen Teil der notwendigen Ausrüstung
leihen konnten: Eispickel, Sicherungssystem mit Karabinern, Steigeisen und
Helm. Unser Führer Viktor war ausgebildete Rettungskraft und mit seinem Funkgerät
ständig in Kontakt mit anderen Kollegen am Berg.
Irgendwann nach 10 Stunden Busfahrt
von Ulan-Ude aus, den Baikalsee südlich umrundend und hinein ins Tunka-Tal,
kreuzt die Straße, die sich inzwischen in eine schmale Schotterpiste verwandelt
hat, den Fluss Bjelyi Irkut. Ein großes Schild warnt vor der „Unzulässigkeit
der Verletzung der Regeln der Grenzregion der Russischen Föderation“, einfacher
ausgedrückt: es ist streng verboten, über den Grat hinaus auf die andere Seite
in die Mongolei abzusteigen. Nach einer reichlichen Stunde Aufstieg auf dem
Fluss schlugen wir im Wald unweit des Ufers unser Lager auf, in etwa 1800
Metern Höhe. Die Männer machten sich daran, Brennholz zu hacken und ein Tagán genanntes Holzgestell zu bauen, an
dem dann die Frauen große Töpfe zur Zubereitung von Tee und Speisen über dem
offenen Feuer aufhängten. Zwischen den Lärchen und Kiefern verstreut standen
dutzende Zelte anderer Gruppen, der Rauch vieler Feuerstellen lag in der Luft.
Nachmittags war es sonnig und angenehm warm, die Vögel zwitscherten, ab und zu
drang das Knattern eines Quads oder eines Schneescooters vom Fluss her zu uns
herüber.
Am nächsten Tag um halb Sechs war
Aufbruch angesagt. Es macht Spaß, mit Steigeisen und Eispickel bewaffnet einen
vereisten Fluss mit kleineren gefrorenen Wasserfällen hinaufzulaufen, vor
allem, wenn in den frühen Morgenstunden die Oberfläche noch hart und nicht
angetaut ist. Viktor trieb uns zur Eile an. Zwei auf dem Fluss wachenden
uniformierten Grenzschützern mit um den Rücken baumelnder Maschinenpistole
ließen sich unsere Pässe und Própuske
vorzeigen. Links und rechts säumten an einigen Stellen hunderte Meter hohe
Felswände den Weg. Um neun Uhr erreichten wir, schon weit oberhalb der Baumgrenze,
einen kleinen Bergsee auf 2600 Metern Höhe, von wo aus die Gipfelkette des Bolshoj Sajan mit dem Munku-Sardyk zu
sehen war. Unterhalb des Gipfels ist ein 45 Grad steiles Schneefeld zu
überwinden, das auf etwa 3000 Metern Höhe beginnt und an dem Grat auf 3400
Metern Höhe endet – technisch kein Problem mit Steigeisen und dem griffbereiten
Eispickel, um sich beim Abrutschen sofort wieder festzuhacken. Die letzten
hundert Meter entlang des Grates sind mit einem Metallseil gesichert, in das
man sich mit Karabinern einklinken kann. Gegen 13 Uhr standen wir bei schönstem
Sonnenschein auf dem höchsten Berg Burjatiens, von dem aus sich ein toller Ausblick
in die Mongolei eröffnet und dort auf den Chubsugul-See, der „kleine Bruder“
des Baikals.
Beim Abstieg wurde unsere Gruppe
Augenzeuge von zwei Unfällen. Ein junger Mann verlor am Schneefeld den Halt und
rutschte mehrere hundert Meter nach unten, wo er seitlich gegen einen Stein
schlug und liegenblieb. Er kam mit einem
gebrochenen Bein davon. Eine Traube von 15 Rettungskräften und Freiwilligen
schleppten ihn anschließend stundenlang auf einen Schlitten gebunden ins Tal
hinunter, wo er und seine Gruppe die Zelte stehen hatten. Wenig später
passierte einem 13-jährigen Mädchen etwas weiter unten am Hang das Gleiche. Sie
rutschte, auf dem Rücken liegend, kopfüber das Schneefeld hinunter und blieb
erst liegen, als sie mit dem Helm gegen einen aus dem Schnee ragenden Felsen
knallte. Außer einigen ausgeschlagenen Zähnen und einer zerrissenen Lippe
passierte ihr nichts. Nachdem sie den Schockzustand überwunden hatte, konnte
sie sogar auf eigenen Beinen den Rückweg 1500 Meter nach unten antreten, links
und rechts von zwei Helfern gestützt. Ich frage mich, ob man in den Alpen bei
solchen Fällen nicht längst einen Hubschrauber geholt hätte? Aber hier gibt es
entweder keine Helikopter oder niemanden, der den Einsatz bezahlen würde.
Abends um 19 Uhr war ich wieder
im Lager, am Ende meiner Kräfte, aber zufrieden mit meiner Kondition und
Ausrüstung: ohne Schmerzen, ohne zu frieren und ohne Wassereinbruch in den
Schuhen. Niso hatte es nicht ganz geschafft, sie war zusammen mit dem
54-jährigen Flugingenieur Sergej, unserem ältesten Gruppenmitglied, bis zu einer
Padúshka genannten Stelle auf 3100
Metern Höhe aufgestiegen und dann umgekehrt. In Ulan-Ude war es nicht möglich
gewesen, für meine Freundin vernünftige Bergschuhe zu finden, weshalb sie in
Lederschuhen unterwegs war, die eigentlich für die OMON-Spezialeinheiten der
russischen Polizei konzipiert sind: fest und wasserdicht, aber nicht
ausreichend geschmeidig, weshalb sie sich beide Füße wund scheuerte. Abends lag
Niso vor Schmerzen wimmernd im Schlafsack. Junge Ärzte aus einer anderen Gruppe
legten ihr zwei regelrechte Verbände an und zeigten uns, wie man diese alle
vier Stunden erneuert.
Es ist nicht üblich, Müll mit ins
Tal zu nehmen. Er wird ins Feuer geworfen, einschließlich der Konservendosen. Am
Tag unserer Abreise rief das burjatische Katastrophenschutzministerium wegen
akuter Waldbrandgefahr den Ausnahmezustand aus. Gruppen, die einen Tag nach uns
kamen, wurde der Aufstieg auf den Berg verwehrt.
Im Basislager unterhalb der Baumgrenze wurden die Zelte aufgeschlagen und Tee und Speisen am Feuer zubereitet (unten) |
Anfang Mai ist die erste Etappe des Aufstieges bequem über einen noch zugefrorenen Fluss möglich |
Rast am See Aichai. Noch fehlen 800 Höhenmeter - links hinten der Munku-Sardyk |
Die letzten 400 Höhenmeter geht es steil nach oben. Im lockeren Schnee findet man gut Halt - wehe dem, der dennoch abrutscht |
Geschafft! Der Blick geht weit bis in die Mongolei hinein mit dem Chubsugul-See, dem "Kleinen Bruder des Baikal" |
Entspannung nach erfolgreicher Rückkehr ins Lager |