Mittwoch, 7. Juni 2017

Das Herz des Baikals

Willkommen am Flughafen!



Zu meinem vierten Besuch auf Olchon hatte mich eine Musiklehrerin aus Chuzir eingeladen. Ich sollte mit Kindern aus der Musikschule eine Stunde mit dem Thema „Singen auf Deutsch“ durchführen. Und so erklärte ich den etwa zwanzig Zweit- und Viertklässlern die Aussprache von Ö und Ü, übte mit ihnen „Bruder Jakob“ und „Der Hahn ist tot“ ein und erklärte ihnen, wie wichtig es sei, Fremdsprachen zu lernen – wenn nicht Deutsch, dann doch jedenfalls Englisch, um später einmal mit den vielen Touristen auf der Insel kommunizieren zu können. Ich glaube, es hat ihnen gefallen. Anschließend lud ich sie noch zu einem kleinen Jonglier-Workshop in den Schulhof ein, zu dem dann allerdings nur noch vier Leute kamen. Ich hatte die von meiner Freundin mit Hirse und einer gehäkelten Ummantelung selbst angefertigten Bälle mitgenommen und zeigte die einfachsten Varianten des Jonglierens mit zwei und drei Bällen.
Im Austausch gegen die Weitergabe meiner in der städtischen Kulturlandschaft erworbenen Fähigkeiten schenkte mir Olchon viel reine Natur. Es ist schwer zu sagen, was den Reiz der Insel ausmacht. Wenn der Baikal das Herz Sibiriens ist, dann ist Olchon das Herz des Baikals, heißt es, und sicher zu recht. Eine wundervolle, friedliche Stimmung liegt Anfang Juni über der sanft geschwungenen Steppe und in den lichten Wäldern, fantastische Lichtstimmungen erfreuen das Auge vor allem morgens und abends, der Blick über das Kleine Meer ans Westufer des Baikals, als Kontrast dazu steile Uferabbrüche und felsige Inselchen vor der Küste. Hat die größte Siedlung Chuzir  über anderthalbtausend Einwohner, so werden die Dörfer nach Norden hin immer kleiner: Charanzy (hundertachtunddreißig; „zum Aerodrom 200m“ steht auf einem neuen Schild am Ortseingang, dessen Pfeil auf ein Feld hinter einer verfallenen Hütte weist), Chalgai (fünfundfünfzig; hier enden die über die Insel gespannten Überlandleitungen), Pestshanaja (neun; die zerfledderten Ruinen am Wasser der in einer wunderschönen Sandbucht gelegene Siedlung lassen das frühere Straflager vermuten), Usury (acht Bewohner; der Ort besteht im Wesentlichen aus einer Wetterstation, die sich über Solarzellen und Windräder mit  Energie versorgt), Usuk (zwei). Bei meiner Wanderung stieß ich im Lärchenwald hinter Chalgai auf einen Bauwagen und eine Schranke: der Kontrollposten des Pribaikalskij-Nationalparks. Per Handschlag begrüßte ich die zwei wettergegerbten Burjaten, die darauf warteten, dass ihre Schicht zuende geht und sie abgeholt werden; meine Bitte nach heißem Wasser für einen Teebeutel wurde erfüllt, und wir beratschlagten, was denn nun am besten mit mir anzustellen sei, denn eigentlich braucht man für den Nationalpark im Voraus eine – in meinem Fall leider nicht existente – Genehmigung. Da ich zu Fuß unterwegs war und nicht, wie alle anderen, mit dem Auto, ist es eigentlich egal, lautete dann der Beschluss. Wenn eine Inspektion kommt und nach meinem Propusk fragt, was durchaus passieren kann, dann soll ich sagen, ich hätte keinerlei Kontrollposten wahrgenommen. Wir plauderten noch etwas über Bären (gibt es auf Olchon nicht, und auch wenn es welche gäbe – vor ihnen müsse man keine Angst haben) und Waldbrände (in diesem Jahr noch keine, Gott sei dank), und nach dem zweiten Glas Tee marschierte ich weiter. 

Endpunkt meiner Wanderung war ein kleiner Berg neben Usury, von dem aus sich ein Blick auf die Nordspitze Olchons eröffnete. Am Horizont zeichneten sich blaugrau die Umrisse der Halbinsel Heilige Nase ab. Dazwischen, dort, wo ich noch vor zwei Monaten über die einen Meter dicke Eisdecke gefahren war, glitzerte jetzt das blaue Wasser. 

Blick von Olchon über das Maloje Morje zum Westufer
Vor dem Jonglier-Worshop auf dem Schulgelände
Die ihrer Form nach so genannte Löweninsel
In der Pestshannaja-Bucht
Picknick bei Usury
Das Schamanenkap bei Chuzhir