Der 18000-Einwohner-Ort Sludjanka am Südufer des Baikals hat
seinen Namen vom russischen Wort für Glimmer, sljudá. Zu Sowjetzeiten wurden hier Glimmer und Marmor abgebaut.
Das einstöckige Bahnhofsgebäude von Anfang des letzten Jahrhunderts, an dem seitdem
die Züge der transsibirischen Eisenbahn halten, ist ganz aus weißem Marmor
errichtet. Als ich nach fünfstündiger Zugfahrt aus Ulan-Ude ankomme, erlebe ich
eine historische Dampflok in Aktion, Baujahr 1954, die sich mit ohrenbetäubendem
Pfeifen und Zischen und aus allen möglichen Ventilen quellendem weißem Dampf in
Bewegung setzt, um einen nur aus einem Hänger bestehenden Touristenzug nach
Port Baikal zu bringen.
Einige Straßenzüge lang kann man das Gefühl haben, sich in
einer richtigen Stadt zu befinden mit soliden Ziegelbauten, Geschäftszentren und
einem riesigen Krankenhaus. Vor einem großen Dampflok-Denkmal schaut Lenin
visionär in die Ferne, auf dem historischen Kinogebäude weht die Sowjetflagge,
wahrscheinlich noch zu Ehren des 9. Mai, ein Springbrunnen ist in Betrieb, und
auf einem Freiluftmarkt werden Tomatensetzlinge und Tierfutter verkauft. Ein
paar Schritte weiter zeigt sich aber doch der dörfliche Charakter des Ortes,
zwischen dreigeschossigen Plattenbauten ziehen sich die typisch russischen
Holzhäuschen hin mit oft sehr schön gestrichenen (im klassischen Fall
blau-weiß) und mit Schnitzereien verzierten Fensterläden.
In Sludjanka gibt es ein großes Mineralienmuseum, das größte
am Baikalsee, im gleichen Hof dazu eine Reihe ziemlich neuer Gästehäuser. Als
ich das Anwesen betrete, sind gerade zwei Männer auf dem Dach mit
Reparaturarbeiten beschäftigt. „Musej rabotaet?“, frage ich, wörtlich „arbeitet das Museum“, wie man es im
Russischen oft sagt. Eine kleine, drahtige, alte Dame kommt angelaufen,
offensichtlich die Chefin. „Nein“, meint sie kurz und bündig, sie habe zu tun.
Aber ich wäre doch extra von so weit angereist gekommen, nur um die berühmte
Mineralienausstellung zu sehen, erwidere ich mit möglichst starkem deutschem
Akzent. „Na gut“, bekomme ich zur Antwort, „ich schließe Ihnen auf, aber Führung
mache ich für eine Person keine.“ Das wäre auch gar nicht nötig, meinte ich, Hauptsache,
ich bekomme noch eine Übernachtungsmöglichkeit.
Ljubov Michailovna Zhigalova, wie sie sich mir später
vorstellt, hat vor 27 Jahren zusammen mit ihrem Mann das Museum gegründet. Im
Sommerhalbjahr wohnt sie hier am Baikal, im Winter in Sankt Petersburg. Die
lebhafte Frau war von Beruf eigentlich Ärztin. In dem einen Raum, den das
Museum umfasst, sind ihren Worten zufolge über 30000 Exponate zusammengetragen.
Sie liegen dicht an dicht in neuen, gut beleuchteten Vitrinen: der grüne
Nefrit, lila-weiß marmorierter Lapislazuli, leuchtend roter Spinell, goldbraune
Skapolith-Kristalle, grünlicher Diopsid. An der Wand hängt eine große, schwarz
schimmernde Glimmerscheibe. Eine Besonderheit ist der lila Tscharoid, dessen weltweit
einzige Fundstätte im Irkutsker Gebiet liegt. Die Herkunftsorte sind leider
nicht beschriftet. „Dann hätte ich ja bei Führungen gar nichts mehr zu
erzählen, wenn schon alles dransteht“, meinte Ljubov Michailovna zu mir, als
ich sie darauf anspreche.
Ich bin an dem Tag ihr einziger Gast. Für mich heizt sie in
einem der Gästehäuser extra den großen Ofen an, der zugleich die Wand zwischen
Schlafraum und Flur bildet. „Eine Gruppe von Chinesen wollte sich noch
anmelden, aber ich habe sie abgelehnt.“ Warum denn das? „Nach denen muss man
eine Woche lang das Zimmer lüften“, meint die Hausherrin abschätzig, ich
vermute, weil Chinesen gerne ausgiebig und mit viel scharfer Würze kochen.
Sludjanka liegt in einem Tal am Fuße des
Chamar-Daban-Gebirges. Vom Seeufer aus fällt der Blick auf das
gegenüberliegende Steilufer des Baikals, unterhalb dessen die Baikal-Ringeisenbahn
verläuft, deren Strecke unter extremen Schwierigkeiten teilweise in die Felsen
gesprengt wurde und die heute nur noch für Touristen befahren wird. In der
Taiga links und rechts des Tals blüht Unmengen an rotem Bagúlnik, wie der für die Gegend sehr typische Daurische
Rhododendron genannt wird; außerdem Bergenien, Akeleien und Lungenkraut;
Schmetterlinge flattern und Farne beginnen sich aufzurollen. Mitte Mai ist nun
endlich der Frühling hier angekommen, damit allerdings auch die Zeit der
Zecken, vor denen man sich gut in Acht nehmen sollte.
Im Mineralienmuseum von Sludjanka |
Sludjanka liegt am Fuße des Chamar-Daban-Gebirges (oben). Was auf den ersten Blick aussieht wie aufsteigender Nebel, ist der an seiner Südspitze recht schmale Baikalsee (unten) |
Zurzeit blüht in der Taiga überall der Daurische Rhododendron |