Sonntag, 21. Mai 2017

Sludjanka

Der 18000-Einwohner-Ort Sludjanka am Südufer des Baikals hat seinen Namen vom russischen Wort für Glimmer, sljudá. Zu Sowjetzeiten wurden hier Glimmer und Marmor abgebaut. Das einstöckige Bahnhofsgebäude von Anfang des letzten Jahrhunderts, an dem seitdem die Züge der transsibirischen Eisenbahn halten, ist ganz aus weißem Marmor errichtet. Als ich nach fünfstündiger Zugfahrt aus Ulan-Ude ankomme, erlebe ich eine historische Dampflok in Aktion, Baujahr 1954, die sich mit ohrenbetäubendem Pfeifen und Zischen und aus allen möglichen Ventilen quellendem weißem Dampf in Bewegung setzt, um einen nur aus einem Hänger bestehenden Touristenzug nach Port Baikal zu bringen.
Einige Straßenzüge lang kann man das Gefühl haben, sich in einer richtigen Stadt zu befinden mit soliden Ziegelbauten, Geschäftszentren und einem riesigen Krankenhaus. Vor einem großen Dampflok-Denkmal schaut Lenin visionär in die Ferne, auf dem historischen Kinogebäude weht die Sowjetflagge, wahrscheinlich noch zu Ehren des 9. Mai, ein Springbrunnen ist in Betrieb, und auf einem Freiluftmarkt werden Tomatensetzlinge und Tierfutter verkauft. Ein paar Schritte weiter zeigt sich aber doch der dörfliche Charakter des Ortes, zwischen dreigeschossigen Plattenbauten ziehen sich die typisch russischen Holzhäuschen hin mit oft sehr schön gestrichenen (im klassischen Fall blau-weiß) und mit Schnitzereien verzierten Fensterläden.
In Sludjanka gibt es ein großes Mineralienmuseum, das größte am Baikalsee, im gleichen Hof dazu eine Reihe ziemlich neuer Gästehäuser. Als ich das Anwesen betrete, sind gerade zwei Männer auf dem Dach mit Reparaturarbeiten beschäftigt. „Musej rabotaet?“, frage ich, wörtlich „arbeitet das Museum“, wie man es im Russischen oft sagt. Eine kleine, drahtige, alte Dame kommt angelaufen, offensichtlich die Chefin. „Nein“, meint sie kurz und bündig, sie habe zu tun. Aber ich wäre doch extra von so weit angereist gekommen, nur um die berühmte Mineralienausstellung zu sehen, erwidere ich mit möglichst starkem deutschem Akzent. „Na gut“, bekomme ich zur Antwort, „ich schließe Ihnen auf, aber Führung mache ich für eine Person keine.“ Das wäre auch gar nicht nötig, meinte ich, Hauptsache, ich bekomme noch eine Übernachtungsmöglichkeit.
Ljubov Michailovna Zhigalova, wie sie sich mir später vorstellt, hat vor 27 Jahren zusammen mit ihrem Mann das Museum gegründet. Im Sommerhalbjahr wohnt sie hier am Baikal, im Winter in Sankt Petersburg. Die lebhafte Frau war von Beruf eigentlich Ärztin. In dem einen Raum, den das Museum umfasst, sind ihren Worten zufolge über 30000 Exponate zusammengetragen. Sie liegen dicht an dicht in neuen, gut beleuchteten Vitrinen: der grüne Nefrit, lila-weiß marmorierter Lapislazuli, leuchtend roter Spinell, goldbraune Skapolith-Kristalle, grünlicher Diopsid. An der Wand hängt eine große, schwarz schimmernde Glimmerscheibe. Eine Besonderheit ist der lila Tscharoid, dessen weltweit einzige Fundstätte im Irkutsker Gebiet liegt. Die Herkunftsorte sind leider nicht beschriftet. „Dann hätte ich ja bei Führungen gar nichts mehr zu erzählen, wenn schon alles dransteht“, meinte Ljubov Michailovna zu mir, als ich sie darauf anspreche.
Ich bin an dem Tag ihr einziger Gast. Für mich heizt sie in einem der Gästehäuser extra den großen Ofen an, der zugleich die Wand zwischen Schlafraum und Flur bildet. „Eine Gruppe von Chinesen wollte sich noch anmelden, aber ich habe sie abgelehnt.“ Warum denn das? „Nach denen muss man eine Woche lang das Zimmer lüften“, meint die Hausherrin abschätzig, ich vermute, weil Chinesen gerne ausgiebig und mit viel scharfer Würze kochen.
Sludjanka liegt in einem Tal am Fuße des Chamar-Daban-Gebirges. Vom Seeufer aus fällt der Blick auf das gegenüberliegende Steilufer des Baikals, unterhalb dessen die Baikal-Ringeisenbahn verläuft, deren Strecke unter extremen Schwierigkeiten teilweise in die Felsen gesprengt wurde und die heute nur noch für Touristen befahren wird. In der Taiga links und rechts des Tals blüht Unmengen an rotem Bagúlnik, wie der für die Gegend sehr typische Daurische Rhododendron genannt wird; außerdem Bergenien, Akeleien und Lungenkraut; Schmetterlinge flattern und Farne beginnen sich aufzurollen. Mitte Mai ist nun endlich der Frühling hier angekommen, damit allerdings auch die Zeit der Zecken, vor denen man sich gut in Acht nehmen sollte.

Im Mineralienmuseum von Sludjanka
Sludjanka liegt am Fuße des Chamar-Daban-Gebirges (oben). Was auf den ersten Blick aussieht wie aufsteigender Nebel, ist der an seiner Südspitze recht schmale Baikalsee (unten)


Zurzeit blüht in der Taiga überall der Daurische Rhododendron