Die Strecke von Ulan-Ude nach Krasnojarsk ist auf der Karte gut ersichtlich. Abakan liegt südlich der Transsibirischen Eisenbahn-Trasse am linken Kartenrand |
Krasnojarsk, die zweitgrößte Stadt Sibiriens, hat bei
bestimmten Wetterlagen ein Luftproblem: die Abgaswolke des zweitgrößten
russischen Aluminiumwerkes liegt über den Häusern. Vor kurzem war die Luft zum
Erstaunen der Einwohner eines Morgens plötzlich sauber. Die Freude währte nicht
lange: nach zwei Tagen roch es wieder wie üblich. Es stellte sich heraus, dass
Waldimir Putin zu Gast war und man anlässlich seines Besuches die
Aluminiumproduktion heruntergefahren hatte, um den Schadstoffausstoß zu
minimieren. Seitdem wünschen sich die Krasnojarsker nichts sehnlicher, als dass
der Präsident möglichst oft vorbeikommt oder sogar seinen Arbeitsplatz von
Moskau in ihre Stadt verlegt.
Aufgrund der geografischen Lage im Zentrum der Sowjetunion
war Krasnojarsk eine streng geheime, für Ausländer gesperrte Stadt mit
Rüstungs- und Atomindustrie in Stadtteilen, die auf Karten nicht einmal
eingezeichnet waren. Durch das Zentrum strömt in majestätischer Breite der
Jennisej, auf einem Hügel steht ein kleines Kapellchen, in ganz Russland
bekannt dadurch, dass es auf dem 10-Rubel-Schein abgebildet ist. In anderen
Gegenden Russlands längst durch eine Münze ersetzt, ist der 10-Rubel-Schein
hier noch in großer Menge im Umlauf, als ob sich die Krasnojarsker schwer von
ihm trennen können.
Im Nationalpark Stolby
am Stadtrand ragen markante Granitfelsen aus dem Nadelwald der Taiga empor, die
entfernt an das Elbsandsteingebirge erinnern. Ganz nach europäischer Manier ist
der Nationalpark von einem gut ausgeschilderten Wegenetz mit genauen
Meterangaben durchzogen, Familien verbringen am Wochenende den Nachmittag in
der Natur, einige Freaks beklettern die Felsen.
Im Dritte-Klasse-Wagen von Krasnojarsk nach Abakan finde ich
mich neben zwei angetrunkenen Schluckspechten wieder, die, kaum Platz genommen,
als erstes zur Bierflasche greifen. Die strenge Dame mir gegenüber beschwert
sich bei der Wagenbegleiterin, man solle sie am besten gleich rauswerfen, noch
ehe der Zug abfährt. Als die Provodnitsa
nach Abfahrt endlich vorbeikommt, steht nur noch eine Flasche mit bierfarbener
Flüsigkeit, aber einem Saftetikett auf dem Tisch. „Sie wollen keinen Ärger, und
ich will auch keinen Ärger“, redet sie in großmütterlichem Ton auf die beiden
Alkoholiker ein, „bleiben Sie am bitte ruhig sitzen, laufen Sie nicht herum,
morgen früh sind sie schon zuhause, dann feiern Sie weiter.“
Abakan, eine Nachtzugfahrt südlich von Krasnojarsk gelegen:
eine ordentliche, aufgeräumte Stadt mit schnurgeraden Straßen und ohne die in
Ulan-Ude üblichen, rudelweise umherstrolchenden Straßenhunde. Lenin in
nachdenklich sitzender Pose, ein paar Straßen weiter ein großes Denkmal an die
von Stalin erschossenen „Volksfeinde“. Abakan ist die Hauptstadt der Republik
Chakassien, etwa so groß wie Bayern, in deren menschenleerer Wildnis die Lykovs
entdeckt wurden, eine Altgläubigenfamilie, die 1978 von Geologen zufällig beim
Überfliegen mit dem Hubschrauber aufgespürt worden war und die seit Jahrzehnten
ohne jeglichen Kontakt zur Zivilisation gelebt hatte; auf Deutsch ist die
Geschichte als Buch unter dem Titel „Die Vergessenen der Taiga“ erschienen.
Eine hervorragend asphaltierte Straße – kein Vergleich mit
den burjatischen Holperpisten – geht
durch die kahle Steppe und entlang des hier noch ganz schmalen Jennisej
nach Süden bis in eine Schlucht, wo sich dem Betrachter ein technisches
Wunderwerk allerersten Ranges darbietet: links und rechts von steilen Hängen
flankiert, erhebt sich eine gigantomanische Staumauer in die Höhe, das
Sajano-Schuschensker Wasserkraftwerk, größtes seiner Art in Russland. Die Höhe
des Dammes kann sich fast mit der Größe des Eifelturmes messen. Aus
Sicherheitsgründen kommt man nicht näher als einen Kilometer heran, ganz zu
schweigen von einem Spaziergang auf der Staumauer. 2009 gab es hier die größte
Katastrophe in der Geschichte der russischen Hydroenergetik; bei einem
Wassereinbruch in den Maschinenraum kamen 75 Menschen ums Leben. Seitdem steht
ein winziges Kapellchen am Fuße des Beton-Ungeheuers.
Heute, am 22. April, ist der Geburtstag von Wladimir
Iljitsch Uljanov, genannt Lenin. Im Dorf Schúschenskoje am Jennisej lebte er
drei Jahre in der Verbannung, davon zwei mit seiner Frau Nadezhda Krúpskaja.
Heute ist dort ein großes Freilichtmuseum, das sich sichtlich darum bemüht,
neben Lenin noch andere Akzente zu setzen und über das russische Dorfleben zur
Zarenzeit zu berichten. An der Kasse liegt ein deutschsprachiges Büchlein mit
dem Titel „Lenin-Gedenkstätten in Sibirien“ zum Kauf aus. „Die Jugendjahre
Wladimir Uljanovs fielen in die Jahre des Wütens der Reaktion in Rußland“,
erfährt der Leser. „Die Weltanschauung des jungen Lenin bildete sich unter der
Einwirkung der revolutionär-demokratischen Literatur und des Kontakts mit
Menschen verschiedener Schichten und Klassen heraus.“ Moment, wo sind wir denn
nun gelandet? Ein Blick auf das Herausgabedatum hilft weiter: 1988. In Russland
existieren die Epochen und Systeme nebeneinander, wo in Deutschland
aufgearbeitet und aufgeräumt wird, ragt hier das Vergangene ungetrübt in die
Gegenwart hinein. Hier ein Denkmal an die Opfer politischer Repressionen, dort
Diskussionen über die Errichtung eines Stalin-Denkmals. Rückbesinnung auf die
Zarenzeit, Heiligsprechung von Nikolai II. und Wiederaufleben des orthodoxen
Glaubens versus Sowjetnostalgie und Sehnsucht nach der alten Größe, nach
kostenloser Medizin und Bildung. Sind hundert Jahre Oktoberrevolution im Jahre
2017 ein Grund zu feiern? Oder war nicht der Zar doch noch ein bisschen besser
als Lenin? Die Frage bleibt offen.
Mit einem roten Pionierhalstuch als Souvenir im Gepäck
begebe ich mich auf die Rückfahrt nach Ulan-Ude. Der Zug nach dem Umstieg in
Krasnojarsk erweist sich als genau der gleiche wie auf der Hinfahrt. Während
ich in Abakan einige Tage am Deutsch-Lehrstuhl der Chakassischen Staatlichen
Universität zugebracht hatte, war er einmal nach Moskau und zurück gefahren.
Die Felsen des Nationalpark Stolby bei Krasnojarsk erinnern entfernt an das Elbsandsteingebirge |
Lenin in Abakan - nachdenklich sitzend |
Die 242 Meter hohe Staumauer des Sajano-Schuschensker Wasserkraftwerks am Jennisej (oben). Seit der Katastrophe 2009 steht eine kleine Kapelle am Fuße (unten) |
Forellenzucht im Jennisej |
Schúschenskoje - hier lebte Lenin drei Jahre in der Verbannung |