Ich habe den Entschluss gefasst, mir ein Auto zu kaufen.
Mein Kollege Mischa, Leiter des Theologie-Lehrstuhles, den ich beim Kauf eines
Cellos für seinen Sohn Seva unterstützt hatte, ist bereit, mir dabei zu helfen.
Also gehen wir über den Avtorynok, den Automarkt, lenken unsere Schritte
zielstrebig vorbei an hundert Toyotas und anderen japanischen Fabrikaten, die
meisten mit Rechtslenkung, dorthin, wo die russischen Modelle stehen. Für mich
steht fest: ein Auto aus einheimischer Produktion soll es sein, vielleicht ein
nostalgischer Moskwitsch, ein breiter Wolga, ein lustiger kleiner Saporozhez,
ein Lada Niva-Geländewagen oder auch ein gewöhnlicher Lada. Mischa hatte vergeblich
versucht, mich von meiner Wahl abzubringen. Einen zuverlässigen Japaner solle
ich doch wählen, die seien weniger störanfällig, schlucken nicht so viel und
sind im Winter innen wärmer. Vielleicht sollte mich nachdenklich machen, dass
nicht mal zehn, ach was, nicht fünf Prozent aller PKWs in Ulan-Ude russische
Marken sind? Aber mein Entschluss steht fest: das Auto soll zum Land passen. Das
erste eigene Fahrzeug in meinem Leben, es wird ein Russe.
Am hinteren Ende des Avtorynok stehen einige Ladas der achten Generation, Typ Wozmjorka,
die aussehen wie quadratische Schachteln, und ein Wolga. Mischa zieht mich
sofort weiter. Ich sei wahrscheinlich kein Bastler, großgeworden mit dem Schraubenschlüssel
in der Hand? Na also. Ich betrachte neugierig einen Niva mit Irkutsker
Kennzeichen, Baujahr 1999, geländegängig, für die katastrophalen burjatischen
Schotterpisten bestimmt bestens geeignet. Mischa schüttelt den Kopf. Im Gebiet
Irkutsk wird mit Salz gestreut, da rostet der Unterboden dreimal schneller.
Schließlich bleiben wir bei einem WAZ 2115 stehen, auch als Lada Samara
vermarktet. Sein Verkäufer – die Wagen gehören nicht einem einzigen Autohändler, sondern verschiedenen Leuten,
die den Platz auf dem Automarkt als Verkaufsfläche gemietet haben – lobt ihn
sofort in den höchsten Tönen. Baujahr zweitausendacht, nur achzigtausend
Kilometer, unfallfrei, bisher im Besitz einer einzigen Familie. Mischa ruft
seinen befreundeten Automechaniker dazu, der einen kurzen Blick auf die
entscheidenden Stellen an Motor und Karosserie wirft, für mich als Laien nicht
nachvollziehbar. Ein schicker Wagen, silbergrau, mit schwarzem Kunststoff
verstärkte Türgriffe, sogar ein Spoiler auf dem Kofferraum. Ich bitte um eine
kleine Probefahrt. Zu meiner Verwunderung setzt sich der Verkäufer selbst ans
Steuer und ich mich auf den Beifahrersitz – mein Wunsch scheint nicht
selbstverständlich zu sein. Ein wenig später lässt er mich aber doch hinters
Lenkrad.
Wieder zuhause, gibt Mischa die abfotografierte
Fahrzeug-Identifizierungsnummer in eine Internet-Datenbank ein. Wir erfahren die
Anzahl der Vorbesitzer, lesen, dass keine Strafen bei der Polizei registriert
sind und sehen, dass der Kilometerstand auf dem Tacho stimmt. Ich rufe den
Verkäufer an und nehme den Wagen. In einer kleinen Bude auf dem Automarkt wird
der Kaufvertrag unterschrieben, in der Gegenwart zweier Juristen, die dafür
eine Gebühr nehmen und sich über meinen deutschen Pass wundern. Barzahlung,
Schlüsselübergabe, ich bekomme den PTS, Pasport transportnovo sredstwo, so
etwas wie die Zulassungsbescheinigung. Nachdem wir schon losgefahren sind,
fällt Mischa ein, dass wir vergessen haben, uns vom Verkäufer den Erhalt des
Geldes quittieren zu lassen. Wir kehren um und holen das Versäumte nach: ein
schneller, bei minus fünfzehn Grad auf der Motorhaube handgeschriebener Zettel.
Nun wird es erst richtig spannnend: ich habe noch nie in
meinem Leben ein Auto besessen; interkulturelle Vergleiche, die ich so mag,
kann ich deshalb nur bedingt anstellen. Zum Beispiel glaube ich mich zu erinnern,
dass der TÜV in Deutschland eine ernstzunehmende Sache ist, ein älteres Fahrzeug kann ihn
bestehen oder möglicherweise auch durchfallen; am Nummernschild ist eine Plakette, an der das
Datum der letzten Untersuchung ersichtlich ist. Das russische Äquivalent zum
TÜV heißt Techosmotr, technische Durchsicht. Um eine Haftpflichtversicherung,
OSAGO genannt, abschließen zu können, muss man eine Bescheinigung über die
bestandene Durchsicht vorweisen können. Wo ich den Techosmotr abnehmen lassen
könne? Nun, das nötige Papier sei bereits im Preis inbegriffen, sagt mir der
junge Versicherungsvertreter, morgen schicke er mir die Police per Email.
Anders formuliert: es gibt in Russland eigentlich keinen TÜV.
Mischa fragt mich, wo ich denn das Auto abzustellen gedenke,
ob ich vielleicht eine warme Garage hätte. Nein? Wie ich mir denn überhaupt
vorstelle, dass bei minus fünfundzwanzig der Motor anspringt? Es gäbe die
Möglichkeit, einen elektrischen Heizer einzubauen mit einem Kabel, dass in die
Steckdose kommt – ganz einfach in der Wohnung mit einem sehr langen
Verlängerungskabel, gut, dass wir in der 1. Etage wohnen – oder eine
Alarmanlage mit einer Automatik, die den Motor alle zwei oder drei Stunden für
zehn Minuten anwirft, damit er nicht einfriert. Wenn ich losfahre, solle ich
auf jeden Fall immer fünf Minuten warten, bis der Temperaturzeiger des Motors,
dessen Skala bei fünfzig Grad beginnt, sich anfängt nach oben zu bewegen.
Russland ist das Land der im Stand laufenden Motoren. Das
hat nichts mit Gleichgültigkeit der Umwelt gegenüber zu tun, sondern ist
im Winter schlichte, klimabedingte Notwendigkeit. Nun ist mir auch klar, warum ich öfters
an Wagen mit laufendem Motor vorbeikomme, obwohl niemand darinsitzt. Die
Elektronik ist so eingestellt, dass sie immer mal von selbst anspringen, damit
ihre Besitzer am nächsten Morgen auch bei minus fünfunddreißig zur Arbeit
fahren können. Gleich am zweiten Tag lasse ich mir eine solche Alarmanlage
einbauen, am Autoschlüssel baumelt jetzt ein Chip mit digitalem Display, wenn
jemand am Auto wackelt oder die Handbremse löst, piept es ziemlich laut. Auf
keinen Fall darf ich die Maschine mit eingelegtem ersten Gang zurücklassen –
dann macht sie beim programmierten ersten Anlassen drei Stunden später einen
Satz nach vorn und geht wieder aus.
Mein Hausnachbar Robert gratuliert mir zur neuen
Anschaffung. Nachdem ich wieder einmal begründen musste, warum ich mich nicht
für einen Toyota entschieden habe, fragt er, wo denn meine Garage sei. Aber es
stehen doch hundert andere Autos auch auf der Straße, einfach so…? Eben gerade
die russischen Modelle seien besonders einfach zu knacken! Gleich eben um die
Ecke gebe es einen bewachten Parkplatz, ich solle doch mal überlegen.
Für einen kleinen täglichen Betrag steht mein Lada Samara
nun auf einer zu bezahlenden Stellfläche ein paar hundert Meter von meiner
Wohnung, neben einem Reifen- und Metallhaufen und zwei,drei anderen Fahrzeugen,
bewacht von zwei kläffenden Hunden und einem Opa oder – je nach Schicht – einer
Oma in einem Schuppen, die die Bilder einiger Überwachungskameras vor sich
immer fest im Blick behalten. Ich kümmere mich unterdessen um die Formalitäten:
zuerst ist die polizeiliche Anmeldung angesagt, das Umschreiben auf meinen
Namen. Vor dem Hauptgebäude des GIBDD, Gosudarstwennaja inspekzia po
besonasnosti dorozhnovo dwizhenja, wie die Verkehrspolizei in voller Länge
heißt, steht eine Schlange von etwa 20 Leuten und tritt bei minus zwölf Grad
von einem Fuß auf den anderen. Öffnungszeiten waren im Internet nicht
auszumachen, telefonisch nahm nach einer barschen Weiterleitung niemand ab,
also versuche ich es auf gut Glück. Ein Französisch-Student aus meinem Institut
begrüßt mich neugierig, was mich hierher führe? Und er selbst? Naja, mit seinem
Zhiguli wäre er erwischt worden, angetrunken auf dem Weg zum
Lebensmittelgeschäft, Pech, Führerschein für anderthalb Jahre weg, deshalb
stehe er hier, Nummer drei in der Warteschlange, da er schon vor einer Stunde
gekommen sei. Die Erfindung des beheizten Wartesaals hat Sibirien noch nicht
überall erreicht, denke ich grimmig – aber hier ist diesmal zum Glück nicht
mein Platz. Ich gehöre nicht in die Schlange derjenigen, die etwas ausgefressen
haben, sondern bin wegen der Registrierung hier, anderer Eingang. Heute leider
geschlossen.
Am nächsten Tag komme ich nicht zu Fuß, sondern mit dem Auto.
Meine Intuition trügt nicht: für das Anmelden erweist sich das Vorhandenseins
des Fahrzeugs vor Ort als erforderlich. Nebeneinander aufgereiht und mit
laufenden Motoren stehen einige Dutzend Wagen im Hof der Verkehrspolizei,
Motorhauben werden geöffnet, Fahrer sitzen geduldig sich hinter dem Steuer
wärmend. Einige in dicke blaue Uniformen mit der Aufschrift Polizia eingehüllte
Beamte – die Zeiten, in der die Polizei in Russland Milizia hieß, sind bekanntlich
vorbei – betrachten nacheinander die Autos, stellen den Fahrern ein paar Fragen
und teilen dann kleine Zettel aus: Inspektion bestanden. Wohin ich als nächstes
gehen solle? Die Registrierungsgebühr entrichten, erster Eingang links, dann
würde man mich dort schon weiterschicken. Ihren Pass bitte, sagt die
Kassendame. Gibt’s das auch irgendwo auf Russisch, meint sie und zeigt ratlos
auf meinen Namen. Ich blättere ihr die Seite mit dem Visum auf, wo Thomas Ranft
auf kyrillisch steht. Ich bekomme wieder ein kleines Zettelchen und werde in
einen neuen Gebäudeteil verwiesen. Ja, die Anmeldeschlange ist für heute schon
geschlossen. Übermorgen wieder. Es ist 10 Uhr morgens. Ich fahre nachhause,
tanke unterwegs noch 92er Benzin, etwa ein Drittel so teuer wie Benzin in Deutschland,
und kaufe Feuerlöscher,
Erste-Hilfe-Kasten und Scheibenreiniger. Na, wenig Erfahrung, was?, meint der
Ochrannik, der Parkplatzwächter und hilft mir mit Handzeichen beim Einparken an
einer Stelle, an der sich kein zusammengeschobener Schnee einen halben Meter
hoch türmt. Warum ich denn eigentlich keinen Toyota… Mischa ruft an und
erkundigt sich hilfsbereit, ob mit der Registrierung alles klar geht, die
Zehn-Tage-Frist für das Umschreiben sei ja fast vorbei? Alles in Arbeit,
beruhige ich ihn und bin fast ein wenig stolz, mit meinem silbergrauen, original russischen Schmuckstück WAZ 2115 nun Teil der mobilisierten Welt zu sein.
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