Mittwoch, 7. Februar 2018

WAZ 2115 (Lada Samara)

Ich habe den Entschluss gefasst, mir ein Auto zu kaufen. Mein Kollege Mischa, Leiter des Theologie-Lehrstuhles, den ich beim Kauf eines Cellos für seinen Sohn Seva unterstützt hatte, ist bereit, mir dabei zu helfen. Also gehen wir über den Avtorynok, den Automarkt, lenken unsere Schritte zielstrebig vorbei an hundert Toyotas und anderen japanischen Fabrikaten, die meisten mit Rechtslenkung, dorthin, wo die russischen Modelle stehen. Für mich steht fest: ein Auto aus einheimischer Produktion soll es sein, vielleicht ein nostalgischer Moskwitsch, ein breiter Wolga, ein lustiger kleiner Saporozhez, ein Lada Niva-Geländewagen oder auch ein gewöhnlicher Lada. Mischa hatte vergeblich versucht, mich von meiner Wahl abzubringen. Einen zuverlässigen Japaner solle ich doch wählen, die seien weniger störanfällig, schlucken nicht so viel und sind im Winter innen wärmer. Vielleicht sollte mich nachdenklich machen, dass nicht mal zehn, ach was, nicht fünf Prozent aller PKWs in Ulan-Ude russische Marken sind? Aber mein Entschluss steht fest: das Auto soll zum Land passen. Das erste eigene Fahrzeug in meinem Leben, es wird ein Russe.

Am hinteren Ende des Avtorynok stehen einige Ladas der achten Generation, Typ Wozmjorka, die aussehen wie quadratische Schachteln, und ein Wolga. Mischa zieht mich sofort weiter. Ich sei wahrscheinlich kein Bastler, großgeworden mit dem Schraubenschlüssel in der Hand? Na also. Ich betrachte neugierig einen Niva mit Irkutsker Kennzeichen, Baujahr 1999, geländegängig, für die katastrophalen burjatischen Schotterpisten bestimmt bestens geeignet. Mischa schüttelt den Kopf. Im Gebiet Irkutsk wird mit Salz gestreut, da rostet der Unterboden dreimal schneller. Schließlich bleiben wir bei einem WAZ 2115 stehen, auch als Lada Samara vermarktet. Sein Verkäufer – die Wagen gehören nicht einem einzigen Autohändler, sondern verschiedenen Leuten, die den Platz auf dem Automarkt als Verkaufsfläche gemietet haben – lobt ihn sofort in den höchsten Tönen. Baujahr zweitausendacht, nur achzigtausend Kilometer, unfallfrei, bisher im Besitz einer einzigen Familie. Mischa ruft seinen befreundeten Automechaniker dazu, der einen kurzen Blick auf die entscheidenden Stellen an Motor und Karosserie wirft, für mich als Laien nicht nachvollziehbar. Ein schicker Wagen, silbergrau, mit schwarzem Kunststoff verstärkte Türgriffe, sogar ein Spoiler auf dem Kofferraum. Ich bitte um eine kleine Probefahrt. Zu meiner Verwunderung setzt sich der Verkäufer selbst ans Steuer und ich mich auf den Beifahrersitz – mein Wunsch scheint nicht selbstverständlich zu sein. Ein wenig später lässt er mich aber doch hinters Lenkrad.
Wieder zuhause, gibt Mischa die abfotografierte Fahrzeug-Identifizierungsnummer in eine Internet-Datenbank ein. Wir erfahren die Anzahl der Vorbesitzer, lesen, dass keine Strafen bei der Polizei registriert sind und sehen, dass der Kilometerstand auf dem Tacho stimmt. Ich rufe den Verkäufer an und nehme den Wagen. In einer kleinen Bude auf dem Automarkt wird der Kaufvertrag unterschrieben, in der Gegenwart zweier Juristen, die dafür eine Gebühr nehmen und sich über meinen deutschen Pass wundern. Barzahlung, Schlüsselübergabe, ich bekomme den PTS, Pasport transportnovo sredstwo, so etwas wie die Zulassungsbescheinigung. Nachdem wir schon losgefahren sind, fällt Mischa ein, dass wir vergessen haben, uns vom Verkäufer den Erhalt des Geldes quittieren zu lassen. Wir kehren um und holen das Versäumte nach: ein schneller, bei minus fünfzehn Grad auf der Motorhaube handgeschriebener Zettel.

Nun wird es erst richtig spannnend: ich habe noch nie in meinem Leben ein Auto besessen; interkulturelle Vergleiche, die ich so mag, kann ich deshalb nur bedingt anstellen. Zum Beispiel glaube ich mich zu erinnern, dass der TÜV in Deutschland eine ernstzunehmende Sache ist, ein älteres Fahrzeug kann ihn bestehen oder möglicherweise auch durchfallen; am Nummernschild ist eine Plakette, an der das Datum der letzten Untersuchung ersichtlich ist. Das russische Äquivalent zum TÜV heißt Techosmotr, technische Durchsicht. Um eine Haftpflichtversicherung, OSAGO genannt, abschließen zu können, muss man eine Bescheinigung über die bestandene Durchsicht vorweisen können. Wo ich den Techosmotr abnehmen lassen könne? Nun, das nötige Papier sei bereits im Preis inbegriffen, sagt mir der junge Versicherungsvertreter, morgen schicke er mir die Police per Email. Anders formuliert: es gibt in Russland eigentlich keinen TÜV.
Mischa fragt mich, wo ich denn das Auto abzustellen gedenke, ob ich vielleicht eine warme Garage hätte. Nein? Wie ich mir denn überhaupt vorstelle, dass bei minus fünfundzwanzig der Motor anspringt? Es gäbe die Möglichkeit, einen elektrischen Heizer einzubauen mit einem Kabel, dass in die Steckdose kommt – ganz einfach in der Wohnung mit einem sehr langen Verlängerungskabel, gut, dass wir in der 1. Etage wohnen – oder eine Alarmanlage mit einer Automatik, die den Motor alle zwei oder drei Stunden für zehn Minuten anwirft, damit er nicht einfriert. Wenn ich losfahre, solle ich auf jeden Fall immer fünf Minuten warten, bis der Temperaturzeiger des Motors, dessen Skala bei fünfzig Grad beginnt, sich anfängt nach oben zu bewegen.

Russland ist das Land der im Stand laufenden Motoren. Das hat nichts mit Gleichgültigkeit der Umwelt gegenüber zu tun, sondern ist im Winter schlichte, klimabedingte Notwendigkeit. Nun ist mir auch klar, warum ich öfters an Wagen mit laufendem Motor vorbeikomme, obwohl niemand darinsitzt. Die Elektronik ist so eingestellt, dass sie immer mal von selbst anspringen, damit ihre Besitzer am nächsten Morgen auch bei minus fünfunddreißig zur Arbeit fahren können. Gleich am zweiten Tag lasse ich mir eine solche Alarmanlage einbauen, am Autoschlüssel baumelt jetzt ein Chip mit digitalem Display, wenn jemand am Auto wackelt oder die Handbremse löst, piept es ziemlich laut. Auf keinen Fall darf ich die Maschine mit eingelegtem ersten Gang zurücklassen – dann macht sie beim programmierten ersten Anlassen drei Stunden später einen Satz nach vorn und geht wieder aus.
Mein Hausnachbar Robert gratuliert mir zur neuen Anschaffung. Nachdem ich wieder einmal begründen musste, warum ich mich nicht für einen Toyota entschieden habe, fragt er, wo denn meine Garage sei. Aber es stehen doch hundert andere Autos auch auf der Straße, einfach so…? Eben gerade die russischen Modelle seien besonders einfach zu knacken! Gleich eben um die Ecke gebe es einen bewachten Parkplatz, ich solle doch mal überlegen.

Für einen kleinen täglichen Betrag steht mein Lada Samara nun auf einer zu bezahlenden Stellfläche ein paar hundert Meter von meiner Wohnung, neben einem Reifen- und Metallhaufen und zwei,drei anderen Fahrzeugen, bewacht von zwei kläffenden Hunden und einem Opa oder – je nach Schicht – einer Oma in einem Schuppen, die die Bilder einiger Überwachungskameras vor sich immer fest im Blick behalten. Ich kümmere mich unterdessen um die Formalitäten: zuerst ist die polizeiliche Anmeldung angesagt, das Umschreiben auf meinen Namen. Vor dem Hauptgebäude des GIBDD, Gosudarstwennaja inspekzia po besonasnosti dorozhnovo dwizhenja, wie die Verkehrspolizei in voller Länge heißt, steht eine Schlange von etwa 20 Leuten und tritt bei minus zwölf Grad von einem Fuß auf den anderen. Öffnungszeiten waren im Internet nicht auszumachen, telefonisch nahm nach einer barschen Weiterleitung niemand ab, also versuche ich es auf gut Glück. Ein Französisch-Student aus meinem Institut begrüßt mich neugierig, was mich hierher führe? Und er selbst? Naja, mit seinem Zhiguli wäre er erwischt worden, angetrunken auf dem Weg zum Lebensmittelgeschäft, Pech, Führerschein für anderthalb Jahre weg, deshalb stehe er hier, Nummer drei in der Warteschlange, da er schon vor einer Stunde gekommen sei. Die Erfindung des beheizten Wartesaals hat Sibirien noch nicht überall erreicht, denke ich grimmig – aber hier ist diesmal zum Glück nicht mein Platz. Ich gehöre nicht in die Schlange derjenigen, die etwas ausgefressen haben, sondern bin wegen der Registrierung hier, anderer Eingang. Heute leider geschlossen.

Am nächsten Tag komme ich nicht zu Fuß, sondern mit dem Auto. Meine Intuition trügt nicht: für das Anmelden erweist sich das Vorhandenseins des Fahrzeugs vor Ort als erforderlich. Nebeneinander aufgereiht und mit laufenden Motoren stehen einige Dutzend Wagen im Hof der Verkehrspolizei, Motorhauben werden geöffnet, Fahrer sitzen geduldig sich hinter dem Steuer wärmend. Einige in dicke blaue Uniformen mit der Aufschrift Polizia eingehüllte Beamte – die Zeiten, in der die Polizei in Russland Milizia hieß, sind bekanntlich vorbei – betrachten nacheinander die Autos, stellen den Fahrern ein paar Fragen und teilen dann kleine Zettel aus: Inspektion bestanden. Wohin ich als nächstes gehen solle? Die Registrierungsgebühr entrichten, erster Eingang links, dann würde man mich dort schon weiterschicken. Ihren Pass bitte, sagt die Kassendame. Gibt’s das auch irgendwo auf Russisch, meint sie und zeigt ratlos auf meinen Namen. Ich blättere ihr die Seite mit dem Visum auf, wo Thomas Ranft auf kyrillisch steht. Ich bekomme wieder ein kleines Zettelchen und werde in einen neuen Gebäudeteil verwiesen. Ja, die Anmeldeschlange ist für heute schon geschlossen. Übermorgen wieder. Es ist 10 Uhr morgens. Ich fahre nachhause, tanke unterwegs noch 92er Benzin, etwa ein Drittel so teuer wie Benzin in Deutschland, und kaufe  Feuerlöscher, Erste-Hilfe-Kasten und Scheibenreiniger. Na, wenig Erfahrung, was?, meint der Ochrannik, der Parkplatzwächter und hilft mir mit Handzeichen beim Einparken an einer Stelle, an der sich kein zusammengeschobener Schnee einen halben Meter hoch türmt. Warum ich denn eigentlich keinen Toyota… Mischa ruft an und erkundigt sich hilfsbereit, ob mit der Registrierung alles klar geht, die Zehn-Tage-Frist für das Umschreiben sei ja fast vorbei? Alles in Arbeit, beruhige ich ihn und bin fast ein wenig stolz, mit meinem silbergrauen, original russischen Schmuckstück WAZ 2115 nun Teil der mobilisierten Welt zu sein.




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