Unser Treppenhaus ist ein Ort des Misstrauens und der
Anonymität. Schnell und meistens grußlos geht man aneinander vorbei, es riecht
muffig, manchmal nach Köterpisse, Zigarettenqualm oder Alkohol; undefinierbare
Kabelgewirre hängen an den Wänden, die Metallabdeckungen, hinter denen sich die
Stromzähler verbergen, sind halb aufgerissen und verbogen; aus den schon längst
nicht mehr verschließbaren Briefkästen quillt Werbemüll auf den Boden. Hier ist
Niemandsland, denn die gestaltenden
und pflegenden Kräfte der Bewohner enden an der eigenen Wohnungstür. Pro Etage
gibt es vier Wohnungen, verborgen hinter schweren, banktresorähnlichen
Stahltüren; an manchen Stellen sind die zwei sich auf einer Seite befindlichen
Wohnungen durch eine zusätzliche, vorgelagerte Stahltür vor der Außenwelt
geschützt.
Im dritten Jahr meines Lebens in Ulan-Ude beginnt die Treppenhaus-Anonymität
endlich ein wenig aufzutauen. Links von uns wohnt Robert, geboren in Jakutien, Santechnik von Beruf, an den ich mich
wenden kann, wenn es eine Steckdose auszutauschen oder die Klospülung zu
reparieren gilt. Sergej Iwanowitsch links von uns, der sich alle zwei Wochen betrank
und laut singend durch Haus und Hof lief – also ein fröhlicher, kein aggressiver
Alkoholiker - ist umgezogen und vermietet unter; durch meine Vermittlung ist
nun Aurelia dort eingezogen, Studentin aus Frankreich an der Burjatischen
Staatlichen Universität. Zwei ältere Damen eine Etage weiter oben freuen sich,
wenn ich kurz innehalte, um mit ihnen zu plauschen: die ehemalige Deutschlehrerin Svetlana und
Friseurin Ljudmila, die ihre mit einem Deutschen verheiratete Tochter in Berlin
regelmäßig besucht. Neulich war ich mit der kleinen Maja bei ihr auf Besuch.
Guten Tag, wir möchten gerne Ihren Pudel streicheln! Ljudmila ließ uns gerne
herein.
Für einen Westeuropäer ist die russische Öffentlichkeit nicht
unbedingt ein Raum kultivierter Höflichkeit. Im Zuge meiner fortschreitenden Russifizierung beginne ich inzwischen selbst,
kurz, schroff, unwirsch und wortkarg aufzutreten, wenn ich etwas gefragt werde
oder etwas will. Mir scheint, die Menschen verlassen sich auf ihr Netz von
Verwandten und Bekannten, für die sie die grenzenlose Güte und überbordende
Fülle ihrer russischen Seele aufsparen. Zur Inanspruchnahme von
Dienstleistungen vertraut man Menschen, die man kennt. Mit meinem WAZ 2115
fahre ich nicht etwa in irgendeine Lada-Vertragswerkstatt, sondern gemeinsam
mit Mischa zu seinem Mechaniker. Ein
wortkarger, ölverschmierter Typ empfängt uns in einer kleinen Garage irgendwo
in einer buckeligen Nebenstraße, fährt das Auto mit einer Hebevorrichtung
anderthalb Meter nach oben und betrachtet fachmännisch alles von unten; später
lässt er den Motor an und lauscht dem Tuckern der Kolben wie ein Musiker, aha,
die Ventile müssen reguliert werden. Der
Spezialist für Lada-Motoren, Getriebe und Radaufhängung, sagt Micha. Auf ihn
kannst du dich zu hundert Prozent verlassen, und er macht Dir einen fairen
Preis.
Etwas außerhalb von Ulan-Ude thronen auf einem Felsen
oberhalb des Flusses Selenga zwei goldfarbene Rentiere, den Blick auf die große
Brücke, über die winterliche Steppe und die weißen Berge gerichtet, ein
beliebtes Ausflugsziel von Hochzeitsgesellschaften. Als ich mit Florian, Urs
und Aurelia dort ankomme, läuft der Fahrer eines im Schnee feststeckenden
Toyotas auf uns zu und bittet darum, beim Herausziehen seines Fahrzeuges
behilflich zu sein. Abschleppseil einhängen und los geht’s – nachdem es
geschafft ist, stecken allerdings nun wir fest, die Vorderräder tief ins Eis
gegraben; nach einer kurzen Weile qualmt es aus dem Motor, der Temperaturzeiger
schnellt auf hundertzwanzig, und eine blaue Pfütze bildet sich auf dem Boden.
Ich lerne: nun auf keinen Fall den Motor ausschalten, damit sich die verbleibende
Kühlflüssigkeit verteilen kann, und die Heißluftventilation voll aufdrehen,
damit Warmluft abgeführt wird. Dank gemeinsamen Anschiebens kommt der Samara
frei; so haben wir uns nun also gegenseitig geholfen. Florian, Urs, Aurelia und
ich ziehen los, um den Blick über das Land zu genießen, vier Ausländer aus vier
verschiedenen europäischen Ländern, auch für meine an Berge gewöhnten Kollegen
aus Österreich und der Schweiz ist die burjatische Weite ein Erlebnis.
Wieder zurück, sehen wir mit Entsetzen, dass unser Fahrzeug
einen Satz nach vorne in eine Schneewehe gemacht hat und dort mit laufendem
Motor und durchdrehenden Vorderrädern steckt. Die Auto-Start-Funktion der Alarmanlage,
ein Schutz gegen das Einfrieren, hat den Motor trotz eingelegtem ersten Gang
angelassen. Nun sind wir es, die Hilfe brauchen. Ich stelle mich an die
Fernstraße und gebe Handzeichen. Gleich der zweite Pkw hält. Wir stecken fest
und bräuchten jemanden, der uns aus dem Schnee zieht. - Ausländer oder was? Pojechali!
In manchen Situationen halte ich das übliche Misstrauen für
unangebracht, hervorgerufen durch eine gewisse Engstirnigkeit und Unwissenheit.
Wie oft habe ich mir schon anhören müssen, wie gefährlich es sei, allein zu
wandern oder zu trampen, vor allem natürlich von Leuten, die das noch nie
gemacht haben. Mein Lada steht jedenfalls jetzt nicht mehr auf dem bewachten
Bezahlparkplatz, dem Ratschlag meines Nachbarn Robert zum Trotz, sondern ganz
normal auf der Straße. Ich kann ihn vom Fenster aus sehen, und er ist
schließlich nicht der einzige. In nur hundert Metern Entfernung gibt es außerdem
ein Polizeirevier. Unser Ausflug zu den zwei Rentieren hat mich sehr
beeindruckt: In bestimmten Situationen ist es in Russland völlig selbstverständlich,
einem Fremden ohne große Worte und langes Verhandeln zu helfen. Zum Beispiel,
wenn es darum geht, sich gegenseitig das Auto aus dem Schnee zu ziehen.
Urs, Florian und Aurelia vor den Zwei Rentieren |