Sonntag, 18. Februar 2018

Misstrauen und Hilfsbereitschaft

Unser Treppenhaus ist ein Ort des Misstrauens und der Anonymität. Schnell und meistens grußlos geht man aneinander vorbei, es riecht muffig, manchmal nach Köterpisse, Zigarettenqualm oder Alkohol; undefinierbare Kabelgewirre hängen an den Wänden, die Metallabdeckungen, hinter denen sich die Stromzähler verbergen, sind halb aufgerissen und verbogen; aus den schon längst nicht mehr verschließbaren Briefkästen quillt Werbemüll auf den Boden. Hier ist Niemandsland, denn die gestaltenden und pflegenden Kräfte der Bewohner enden an der eigenen Wohnungstür. Pro Etage gibt es vier Wohnungen, verborgen hinter schweren, banktresorähnlichen Stahltüren; an manchen Stellen sind die zwei sich auf einer Seite befindlichen Wohnungen durch eine zusätzliche, vorgelagerte Stahltür vor der Außenwelt geschützt.

Im dritten Jahr meines Lebens in Ulan-Ude beginnt die Treppenhaus-Anonymität endlich ein wenig aufzutauen. Links von uns wohnt Robert, geboren in Jakutien, Santechnik von Beruf, an den ich mich wenden kann, wenn es eine Steckdose auszutauschen oder die Klospülung zu reparieren gilt. Sergej Iwanowitsch links von uns, der sich alle zwei Wochen betrank und laut singend durch Haus und Hof lief – also ein fröhlicher, kein aggressiver Alkoholiker - ist umgezogen und vermietet unter; durch meine Vermittlung ist nun Aurelia dort eingezogen, Studentin aus Frankreich an der Burjatischen Staatlichen Universität. Zwei ältere Damen eine Etage weiter oben freuen sich, wenn ich kurz innehalte, um mit ihnen zu plauschen:  die ehemalige Deutschlehrerin Svetlana und Friseurin Ljudmila, die ihre mit einem Deutschen verheiratete Tochter in Berlin regelmäßig besucht. Neulich war ich mit der kleinen Maja bei ihr auf Besuch. Guten Tag, wir möchten gerne Ihren Pudel streicheln! Ljudmila ließ uns gerne herein.

Für einen Westeuropäer ist die russische Öffentlichkeit nicht unbedingt ein Raum kultivierter Höflichkeit. Im Zuge meiner fortschreitenden Russifizierung beginne ich inzwischen selbst, kurz, schroff, unwirsch und wortkarg aufzutreten, wenn ich etwas gefragt werde oder etwas will. Mir scheint, die Menschen verlassen sich auf ihr Netz von Verwandten und Bekannten, für die sie die grenzenlose Güte und überbordende Fülle ihrer russischen Seele aufsparen. Zur Inanspruchnahme von Dienstleistungen vertraut man Menschen, die man kennt. Mit meinem WAZ 2115 fahre ich nicht etwa in irgendeine Lada-Vertragswerkstatt, sondern gemeinsam mit Mischa zu seinem Mechaniker. Ein wortkarger, ölverschmierter Typ empfängt uns in einer kleinen Garage irgendwo in einer buckeligen Nebenstraße, fährt das Auto mit einer Hebevorrichtung anderthalb Meter nach oben und betrachtet fachmännisch alles von unten; später lässt er den Motor an und lauscht dem Tuckern der Kolben wie ein Musiker, aha, die Ventile müssen reguliert werden. Der Spezialist für Lada-Motoren, Getriebe und Radaufhängung, sagt Micha. Auf ihn kannst du dich zu hundert Prozent verlassen, und er macht Dir einen fairen Preis. 

Etwas außerhalb von Ulan-Ude thronen auf einem Felsen oberhalb des Flusses Selenga zwei goldfarbene Rentiere, den Blick auf die große Brücke, über die winterliche Steppe und die weißen Berge gerichtet, ein beliebtes Ausflugsziel von Hochzeitsgesellschaften. Als ich mit Florian, Urs und Aurelia dort ankomme, läuft der Fahrer eines im Schnee feststeckenden Toyotas auf uns zu und bittet darum, beim Herausziehen seines Fahrzeuges behilflich zu sein. Abschleppseil einhängen und los geht’s – nachdem es geschafft ist, stecken allerdings nun wir fest, die Vorderräder tief ins Eis gegraben; nach einer kurzen Weile qualmt es aus dem Motor, der Temperaturzeiger schnellt auf hundertzwanzig, und eine blaue Pfütze bildet sich auf dem Boden. Ich lerne: nun auf keinen Fall den Motor ausschalten, damit sich die verbleibende Kühlflüssigkeit verteilen kann, und die Heißluftventilation voll aufdrehen, damit Warmluft abgeführt wird. Dank gemeinsamen Anschiebens kommt der Samara frei; so haben wir uns nun also gegenseitig geholfen. Florian, Urs, Aurelia und ich ziehen los, um den Blick über das Land zu genießen, vier Ausländer aus vier verschiedenen europäischen Ländern, auch für meine an Berge gewöhnten Kollegen aus Österreich und der Schweiz ist die burjatische Weite ein Erlebnis.
Wieder zurück, sehen wir mit Entsetzen, dass unser Fahrzeug einen Satz nach vorne in eine Schneewehe gemacht hat und dort mit laufendem Motor und durchdrehenden Vorderrädern steckt. Die Auto-Start-Funktion der Alarmanlage, ein Schutz gegen das Einfrieren, hat den Motor trotz eingelegtem ersten Gang angelassen. Nun sind wir es, die Hilfe brauchen. Ich stelle mich an die Fernstraße und gebe Handzeichen. Gleich der zweite Pkw hält. Wir stecken fest und bräuchten jemanden, der uns aus dem Schnee zieht. - Ausländer oder was? Pojechali!

In manchen Situationen halte ich das übliche Misstrauen für unangebracht, hervorgerufen durch eine gewisse Engstirnigkeit und Unwissenheit. Wie oft habe ich mir schon anhören müssen, wie gefährlich es sei, allein zu wandern oder zu trampen, vor allem natürlich von Leuten, die das noch nie gemacht haben. Mein Lada steht jedenfalls jetzt nicht mehr auf dem bewachten Bezahlparkplatz, dem Ratschlag meines Nachbarn Robert zum Trotz, sondern ganz normal auf der Straße. Ich kann ihn vom Fenster aus sehen, und er ist schließlich nicht der einzige. In nur hundert Metern Entfernung gibt es außerdem ein Polizeirevier. Unser Ausflug zu den zwei Rentieren hat mich sehr beeindruckt: In bestimmten Situationen ist es in Russland völlig selbstverständlich, einem Fremden ohne große Worte und langes Verhandeln zu helfen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, sich gegenseitig das Auto aus dem Schnee zu ziehen.

Urs, Florian und Aurelia vor den Zwei Rentieren