Sonntag, 11. Februar 2018

Die unsichtbare Schlange

In der Morgendämmerung zeichnen sich zwei gigantische, in der oberen Hälfte rot-weiß gestreifte Schlote ab, aus denen schleimige, zähe, dicke, weißlichgraue Rauchwolken emporwabern. Ein durchdringendes helles Rauschen liegt in der Luft. Das Polizeigebäude hinter mir ist noch geschlossen; ich stehe mit dem Rücken zur Tür und lasse mir sanft zur Erde segelnde Schneeflocken ins Gesicht treiben. Das Fernheizkraftwerk TEZ-1TEZ steht für Teploelektrozentral - versorgt zwei Drittel aller Gebäude Ulan-Udes mit Wärme. Eine Stunde noch warten! Einige Minuten wiege ich mich in der Illusion, der erste in der Schlange zu sein, bis ein Mann aus einem Auto steigt und mir einen Zettel mit sechs Namen reicht. Auch Auto anmelden? Hier müssen sie sich einschreiben. Während ich meinen vor Kälte erstarrten Kuli warmhauche, ist er schon wieder verschwunden. Ich trage mich in die Liste als Nummer sieben ein – die Schlange existiert also längst, sie ist nur unsichtbar, ein typisch russisches Phänomen. Die Leute gehen weiteren Erledigungen nach oder sitzen irgendwo im Warmen, nachdem sie sich einen Platz reserviert haben. Wenig später reiche ich das Papier an einen nach mir eintreffenden Burjaten weiter.
Ist ja ein Lärm wie auf dem Flughafen hier!
Offensichtlich arbeitet das TEZ nicht mit voller Kraft, meint mein als einziger physisch anwesender Schlangennachbar, sonst würde die Rauchsäule erstmal fünfzig Meter steil nach oben steigen und erst dann abknicken. Ist ja auch nicht kalt heute!
Die im halbstündigen Fußmarsch von zuhause angeregte Körperwärme reicht gerade so, um bei minus fünfzehn eine Stunde im Freien zu warten, ohne zu frieren. Um halb neun hat sich die Schlange dann plötzlich materialisiert, zwanzig Leute drängen sich vor der Tür, jeder kennt seinen Platz nach der Liste. In der Halle mit den Schaltern warten zwei uniformierte Beamte, von denen einer die Dokumente der Bürger vorkontrolliert und der zweite auf den Bildschirm des Wartemarken-Automaten drückt, welcher den Talon ausspuckt, gemäß dem dann die Aufrufe erfolgen. Moderne Technik ist also vorhanden, staune ich – nur führt sie weder zur Personaleinsparung noch zu einem Plus an Komfort für die Wartenden.
Wahrscheinlich brauchen wir von Ihrem Pass eine Übersetzung, grummelt der Polizist am Tisch.
Ich bin vorbereitet und reiche sie ihm, notariell beglaubigt, unanfechtbar.
Und ihre Haftpflichtversicherung?
Die OSAGO gibt es noch nicht in Papierform. Aber hier ist der Nummer der Police, mir wurde gesagt, das reicht, um ein Auto anzumelden.
Nicken. Ich bekomme eine Wartemarke, werde aufgerufen, gehe an den Schalter, reiche mein Dokumentenpaket durch das Fenster. Erneut wird geprüft. Ich scheine dem Ziel, meinen WAZ-2115 endlich auf meinen Namen registrieren zu lassen, so nah wie nie zu vor. Während mein offensichtlich etwas länger dauernder Fall bearbeitet wird – ein ausländischer Pass kommt nicht jeden Tag auf den Tisch – habe ich Zeit, nachzuschauen, wofür die Abkürzung eigentlich steht. Wolzhskij Avtozavod, Produktion in Toljatti an der Wolga; der Samara war das erste Modell des Herstellers mit Frontantrieb und wurde bis 2004 auch nach Deutschland geliefert, beruhte nicht mehr wie die vorangegangenen Zhigulis auf einer Fiat-Lizenz, Produktionsstopp 2013. AvtoWAZ ist der größte russische PkW-Hersteller, über die Hälfte der Aktien gehören inzwischen Renault-Nissan.
Ohne ihre ausgedruckte OSAGO-Police kann ich den Vorgang leider nicht beenden und speichern, meint der Beamte, nachdem er eine halbe Stunde lang meine Daten eingegeben hat und gibt mir Pass und die anderen Papiere zurück. Kommen Sie das nächste Mal wieder.
Alles klar, denke ich und überlege, ob ich jetzt frustriert oder amüsiert sein sollte. Im Unterschied zur deutschen scheint die russische Bürokratie unberechenbarer, willkürlicher und intransparenter zu sein, die eine Stelle weiß nicht, was die andere für Papiere fordert, und nirgendwo ist der Gesamtvorgang verbindlich in schriftlicher Form erläutert. Ich rufe den Versicherungsmenschen an, fordere die Zusendung meiner Police und bemühe mich dabei, wütend zu klingen.

Ein Tag später: diesmal komme ich mit dem Auto, und zwar schon um sieben Uhr. Draußen ist es noch stockfinster. Mit gemütlich tuckerndem Motor verbringe ich anderthalb Stunden in meinem warmen Lada bei anregender Lektüre. Ich klebe einen Zettel mit meinem Namen an den Eingang in der irrtümlichen Annahme, so den Anfang einer sich unsichtbar begründenden Schlange gelegt zu haben: an diesem  Tag werden nur Kunden nach vorheriger elektronischer Einschreibung empfangen. Aber der Beamte vom Vortag erinnert sich an mich, hat Mitleid und bearbeitet meinen Fall trotzdem. Mit einem einlaminierten Kärtchen in der Hand verlasse ich das GIBDD-Gebäude, STS, Swidetelstwo o registrazii transportnowo sredstwo, auf Deutsch wohl: Zulassungsbescheinigung Teil zwei. Draußen ist es inzwischen hell. Ich werfe einen Blick auf die Infotafeln vor dem rußiggrauen Qualm spuckenden Kraftwerk, auf denen mit Stolz dessen 80jährige Geschichte erzählt wird.
 
Beim vierten Versuch hat es geklappt, werde ich am Abend Urs erzählen, unserem Praktikanten aus der Schweiz. Um zu wissen, wie man in Ulan-Ude ein Auto registriert, muss man es einmal gemacht haben!
Urs lacht. Ob ich übrigens wüsse, dass unnötiges Laufenlassen des Motors in der Schweiz 250 Franken Strafe kostet?