In der Morgendämmerung zeichnen sich zwei gigantische, in
der oberen Hälfte rot-weiß gestreifte Schlote ab, aus denen schleimige, zähe,
dicke, weißlichgraue Rauchwolken emporwabern. Ein durchdringendes helles
Rauschen liegt in der Luft. Das Polizeigebäude hinter mir ist noch geschlossen;
ich stehe mit dem Rücken zur Tür und lasse mir sanft zur Erde segelnde Schneeflocken
ins Gesicht treiben. Das Fernheizkraftwerk TEZ-1
– TEZ steht für Teploelektrozentral - versorgt zwei Drittel aller Gebäude Ulan-Udes
mit Wärme. Eine Stunde noch warten! Einige Minuten wiege ich mich in der
Illusion, der erste in der Schlange zu sein, bis ein Mann aus einem Auto steigt
und mir einen Zettel mit sechs Namen reicht. Auch Auto anmelden? Hier müssen
sie sich einschreiben. Während ich meinen vor Kälte erstarrten Kuli warmhauche,
ist er schon wieder verschwunden. Ich trage mich in die Liste als Nummer sieben
ein – die Schlange existiert also längst, sie ist nur unsichtbar, ein typisch
russisches Phänomen. Die Leute gehen weiteren Erledigungen nach oder sitzen
irgendwo im Warmen, nachdem sie sich einen Platz reserviert haben. Wenig später
reiche ich das Papier an einen nach mir eintreffenden Burjaten weiter.
Ist ja ein Lärm wie auf dem Flughafen hier!
Offensichtlich arbeitet das TEZ nicht mit voller Kraft,
meint mein als einziger physisch anwesender Schlangennachbar, sonst würde die
Rauchsäule erstmal fünfzig Meter steil nach oben steigen und erst dann
abknicken. Ist ja auch nicht kalt heute!
Die im halbstündigen Fußmarsch von zuhause angeregte
Körperwärme reicht gerade so, um bei minus fünfzehn eine Stunde im Freien zu
warten, ohne zu frieren. Um halb neun hat sich die Schlange dann plötzlich materialisiert,
zwanzig Leute drängen sich vor der Tür, jeder kennt seinen Platz nach der
Liste. In der Halle mit den Schaltern warten zwei uniformierte Beamte, von
denen einer die Dokumente der Bürger vorkontrolliert und der zweite auf den
Bildschirm des Wartemarken-Automaten drückt, welcher den Talon ausspuckt, gemäß
dem dann die Aufrufe erfolgen. Moderne Technik ist also vorhanden, staune ich –
nur führt sie weder zur Personaleinsparung noch zu einem Plus an Komfort für
die Wartenden.
Wahrscheinlich brauchen wir von Ihrem Pass eine Übersetzung,
grummelt der Polizist am Tisch.
Ich bin vorbereitet und reiche sie ihm, notariell
beglaubigt, unanfechtbar.
Und ihre Haftpflichtversicherung?
Die OSAGO gibt es
noch nicht in Papierform. Aber hier ist der Nummer der Police, mir wurde
gesagt, das reicht, um ein Auto anzumelden.
Nicken. Ich bekomme eine Wartemarke, werde aufgerufen, gehe
an den Schalter, reiche mein Dokumentenpaket durch das Fenster. Erneut wird
geprüft. Ich scheine dem Ziel, meinen WAZ-2115
endlich auf meinen Namen registrieren zu lassen, so nah wie nie zu vor. Während
mein offensichtlich etwas länger dauernder Fall bearbeitet wird – ein
ausländischer Pass kommt nicht jeden Tag auf den Tisch – habe ich Zeit,
nachzuschauen, wofür die Abkürzung eigentlich steht. Wolzhskij Avtozavod, Produktion in Toljatti an der Wolga; der Samara war das erste Modell des
Herstellers mit Frontantrieb und wurde bis 2004 auch nach Deutschland geliefert,
beruhte nicht mehr wie die vorangegangenen Zhigulis
auf einer Fiat-Lizenz, Produktionsstopp 2013. AvtoWAZ ist der größte russische PkW-Hersteller, über die Hälfte
der Aktien gehören inzwischen Renault-Nissan.
Ohne ihre ausgedruckte OSAGO-Police
kann ich den Vorgang leider nicht beenden und speichern, meint der Beamte,
nachdem er eine halbe Stunde lang meine Daten eingegeben hat und gibt mir Pass
und die anderen Papiere zurück. Kommen Sie das nächste Mal wieder.
Alles klar, denke ich und überlege, ob ich jetzt frustriert
oder amüsiert sein sollte. Im Unterschied zur deutschen scheint die russische
Bürokratie unberechenbarer, willkürlicher und intransparenter zu sein, die eine
Stelle weiß nicht, was die andere für Papiere fordert, und nirgendwo ist der
Gesamtvorgang verbindlich in schriftlicher Form erläutert. Ich rufe den Versicherungsmenschen an, fordere die Zusendung meiner Police und bemühe mich dabei, wütend zu klingen.
Ein Tag später: diesmal komme ich mit dem Auto, und zwar schon
um sieben Uhr. Draußen ist es noch stockfinster. Mit gemütlich tuckerndem Motor
verbringe ich anderthalb Stunden in meinem warmen Lada bei anregender Lektüre. Ich klebe
einen Zettel mit meinem Namen an den Eingang in der irrtümlichen Annahme, so den Anfang
einer sich unsichtbar begründenden Schlange gelegt zu haben: an diesem Tag werden nur Kunden nach vorheriger elektronischer
Einschreibung empfangen. Aber der Beamte vom Vortag erinnert sich an mich, hat
Mitleid und bearbeitet meinen Fall trotzdem. Mit einem einlaminierten Kärtchen
in der Hand verlasse ich das GIBDD-Gebäude,
STS, Swidetelstwo o registrazii
transportnowo sredstwo, auf Deutsch wohl: Zulassungsbescheinigung Teil
zwei. Draußen ist es inzwischen hell. Ich werfe einen Blick auf die Infotafeln vor
dem rußiggrauen Qualm spuckenden Kraftwerk, auf denen mit Stolz dessen
80jährige Geschichte erzählt wird.
Beim vierten Versuch hat es geklappt, werde ich am Abend Urs
erzählen, unserem Praktikanten aus der Schweiz. Um zu wissen, wie man in
Ulan-Ude ein Auto registriert, muss man es einmal gemacht haben!
Urs lacht. Ob ich übrigens wüsse, dass unnötiges Laufenlassen
des Motors in der Schweiz 250 Franken Strafe kostet?