Mittwoch, 28. Februar 2018

Glaube und Gesetz


Hölzerne Schlitten mit Metallkufen, wie ich sie aus meiner Kindheit kenne, sind in Russland nicht üblich. Die meisten Kinder rodeln auf einer einfachen, mit einem Griff versehenen Plastikscheibe, ledjanka genannt, abgeleitet vom Wort ljod (Eis). Am Wochenende band ich das Abschleppseil vom Auto an einen ledjanka und zog Maja über den gefrorenen Baikalsee, an einigen Stellen durch den pulvrigen Schnee, an anderen über das blankgefegte, durchsichtige dunkle Eis mit Einschlüssen von weißen Luftblasen und feinen Rissen, eine ein oder zwei Meter dicke Schicht, die auch einen Lkw tragen würde. Wir fuhren vorbei an den russisch-orthodoxen Männerklöstern in Troizkoje und Posolsk nach Babuschkin, wo ein alter Leuchtturm und die Überreste einer Fähranlegestelle mit Gleisen davon Zeugnis ablegen, dass einst die den Baikal südlich umrundende Eisenbahn noch nicht fertiggestellt war und von 1900 bis 1905 zwei in England georderte Eisbrecher-Fährschiffe den Transport von Waggons, Passagieren und Fracht übernahmen. Dann ging es weiter nach Tanchoi, von wo aus im Winter 1904 Gleise über das Eis verlegt wurden, um einen schnellen Nachschub aus Zentralrussland für die Front im russisch-japanischen Krieg zu gewährleisten. Bis unter die Dächer liegt hier an einigen Häusern der Schnee, eine jungfräuliche, glatte Schneeschicht bedeckt den See bis an den Horizont, nur eine einsame Fußspur zweier Angler, die irgendwo in der Ferne als winzige Pünktchen auszumachen sind, führt ins Nichts hinaus.

Wieder in Ulan-Ude angekommen, fuhren wir noch bei zwei von Nisos Brüdern vorbei, wo ich auch ihren Vater kennenlernte. Eigentlich heißt er Chairiddin, in Russland nennt er sich Nikolai, ein energischer, unternehmerischer Tadschike, der sechs Kinder großgezogen hat, mit denen er 1996 aus seiner Heimat nach Burjatien emigrierte, zu den Verwandten seiner russischen Frau, Nisos Mutter, um die Familie vor dem Bürgerkriegselend zu bewahren, das Tadschikistan in der Neunzigern heimsuchte.
Wir stehen gemeinsam im Hof zwischen zwei Häusern aus dicken Holzbalken; Chairiddin wirft Zwiebeln in einen großen Topf mit Öl, der über einem Feuer hängt. Was ich eigentlich so mache, möchte er wissen, welche Pläne ich für die Zukunft hätte. Und ob mir klar wäre, dass es ohne Islam nicht gehe? Er als Vater sei verantwortlich für das Glück seiner Kinder, und es wäre unmöglich, dass seine Tochter außerhalb des Glaubens lebe. Entweder, du trittst zum Islam über, sagt er, oder er sehe sich gezwungen, seine Tochter zu verstoßen und zu verfluchen, ein Fluch, der bis in die siebte Nachfolgegeneration hinein wirke. Das heiße nicht, ich sei ein schlechter Mensch, er wolle mich auf keinen Fall beleidigen. Aber es gebe nun einmal Gesetze, an die müsse er sich halten. Seine Tochter mit einem Ungläubigen zusammen, das sei eine Schande für ihn vor seinen Verwandten und vor seinem Gott. Einverstanden, letztlich beten Christen und Moslems den gleichen Gott an, aber die Religion und die Gesetze seinen nun einmal andere, da könne er nichts machen. Entweder Islam, oder er kenne die Tochter nicht mehr. Ich solle es mir überlegen.
Es ist ein ruhiges Gespräch ohne jede Feindseligkeit. Chairiddin fischt die vor Unachtsamkeit inzwischen schwarz geschmorten Zwiebeln wieder aus dem Öl. Ein nicht unsympathischer, gebildeter Mann, hat in Tadschikistan als Geografielehrer gearbeitet und eine geistliche Ausbildung durchlaufen, war Vorbeter in einer Moschee, versteht den Koran auf Arabisch, betet fünf Mal am Tag das muslimische Pflichtgebet Namaz, kennt die Gesetze des Propheten in- und auswendig. In zwei Monaten fliegt er in die Heimat zurück, um dort seinen Lebensabend zu verbringen, zwar ohne Frau und Kinder, die in Burjatien bleiben, aber auf heimatlicher tadschikischer Erde und unter den Blutsverwandten der weiteren Großfamilie, die alle mit dem Finger auf ihn zeigen und ihn verspotten werden, wenn sie erfahren, dass seine älteste Tochter außerhalb des Glaubens lebt.

Ein Mann, scheinbar ohnmächtig gegenüber seinen gottgegebenen Gesetzen, zu ihrer unbedingten Einhaltung verpflichtet, ausgeliefert der Meinung der anderen. Wir warten nicht, bis der Plov – der traditionelle zentralasiatische, in Öl gebratene Reis – fertig ist, und fahren nach Hause. Abends erzählt Niso noch ein wenig aus ihrem Leben, davon, dass man sie schon in der achten Klasse fast verheiratet hätte und ihre Mutter die auf Geheiß des Vaters antretenden Freier gerade so abwehren konnte.  

Umweltschutz hin oder her, zunächst sind Arbeitsplätze wichtig. Vor dem Zellulosewerk in Selenginsk