Hölzerne Schlitten mit Metallkufen, wie ich sie aus meiner
Kindheit kenne, sind in Russland nicht üblich. Die meisten Kinder rodeln auf
einer einfachen, mit einem Griff versehenen Plastikscheibe, ledjanka genannt, abgeleitet vom Wort ljod (Eis). Am Wochenende band ich das
Abschleppseil vom Auto an einen ledjanka
und zog Maja über den gefrorenen Baikalsee, an einigen Stellen durch den
pulvrigen Schnee, an anderen über das blankgefegte, durchsichtige dunkle Eis
mit Einschlüssen von weißen Luftblasen und feinen Rissen, eine ein oder zwei Meter
dicke Schicht, die auch einen Lkw tragen würde. Wir fuhren vorbei an den
russisch-orthodoxen Männerklöstern in Troizkoje und Posolsk nach Babuschkin, wo
ein alter Leuchtturm und die Überreste einer Fähranlegestelle mit Gleisen davon
Zeugnis ablegen, dass einst die den Baikal südlich umrundende Eisenbahn noch
nicht fertiggestellt war und von 1900 bis 1905 zwei in England georderte
Eisbrecher-Fährschiffe den Transport von Waggons, Passagieren und Fracht
übernahmen. Dann ging es weiter nach Tanchoi, von wo aus im Winter 1904 Gleise
über das Eis verlegt wurden, um einen schnellen Nachschub aus Zentralrussland
für die Front im russisch-japanischen Krieg zu gewährleisten. Bis unter die
Dächer liegt hier an einigen Häusern der Schnee, eine jungfräuliche, glatte
Schneeschicht bedeckt den See bis an den Horizont, nur eine einsame Fußspur
zweier Angler, die irgendwo in der Ferne als winzige Pünktchen auszumachen
sind, führt ins Nichts hinaus.
Wieder in Ulan-Ude angekommen, fuhren wir noch bei zwei von Nisos
Brüdern vorbei, wo ich auch ihren Vater kennenlernte. Eigentlich heißt er
Chairiddin, in Russland nennt er sich Nikolai, ein energischer,
unternehmerischer Tadschike, der sechs Kinder großgezogen hat, mit denen er
1996 aus seiner Heimat nach Burjatien emigrierte, zu den Verwandten seiner
russischen Frau, Nisos Mutter, um die Familie vor dem Bürgerkriegselend zu
bewahren, das Tadschikistan in der Neunzigern heimsuchte.
Wir stehen gemeinsam im Hof zwischen zwei Häusern aus dicken
Holzbalken; Chairiddin wirft Zwiebeln in einen großen Topf mit Öl, der über
einem Feuer hängt. Was ich eigentlich so mache, möchte er wissen, welche Pläne
ich für die Zukunft hätte. Und ob mir klar wäre, dass es ohne Islam nicht gehe?
Er als Vater sei verantwortlich für das Glück seiner Kinder, und es wäre unmöglich,
dass seine Tochter außerhalb des Glaubens lebe. Entweder, du trittst zum Islam über,
sagt er, oder er sehe sich gezwungen, seine Tochter zu verstoßen und zu
verfluchen, ein Fluch, der bis in die siebte Nachfolgegeneration hinein wirke.
Das heiße nicht, ich sei ein schlechter Mensch, er wolle mich auf keinen Fall
beleidigen. Aber es gebe nun einmal Gesetze, an die müsse er sich halten. Seine
Tochter mit einem Ungläubigen zusammen, das sei eine Schande für ihn vor seinen
Verwandten und vor seinem Gott. Einverstanden, letztlich beten Christen und
Moslems den gleichen Gott an, aber die Religion und die Gesetze seinen nun
einmal andere, da könne er nichts machen. Entweder Islam, oder er kenne die
Tochter nicht mehr. Ich solle es mir überlegen.
Es ist ein ruhiges Gespräch ohne jede Feindseligkeit.
Chairiddin fischt die vor Unachtsamkeit inzwischen schwarz geschmorten Zwiebeln
wieder aus dem Öl. Ein nicht unsympathischer, gebildeter Mann, hat in
Tadschikistan als Geografielehrer gearbeitet und eine geistliche Ausbildung
durchlaufen, war Vorbeter in einer Moschee, versteht den Koran auf Arabisch,
betet fünf Mal am Tag das muslimische Pflichtgebet Namaz, kennt die Gesetze des Propheten in- und auswendig. In zwei
Monaten fliegt er in die Heimat zurück, um dort seinen Lebensabend zu
verbringen, zwar ohne Frau und Kinder, die in Burjatien bleiben, aber auf heimatlicher
tadschikischer Erde und unter den Blutsverwandten der weiteren Großfamilie, die
alle mit dem Finger auf ihn zeigen und ihn verspotten werden, wenn sie
erfahren, dass seine älteste Tochter außerhalb des Glaubens lebt.
Ein Mann, scheinbar ohnmächtig gegenüber seinen
gottgegebenen Gesetzen, zu ihrer unbedingten Einhaltung verpflichtet,
ausgeliefert der Meinung der anderen. Wir warten nicht, bis der Plov – der traditionelle
zentralasiatische, in Öl gebratene Reis – fertig ist, und fahren nach Hause.
Abends erzählt Niso noch ein wenig aus ihrem Leben, davon, dass man sie schon
in der achten Klasse fast verheiratet hätte und ihre Mutter die auf Geheiß des
Vaters antretenden Freier gerade so abwehren konnte.
Umweltschutz hin oder her, zunächst sind Arbeitsplätze wichtig. Vor dem Zellulosewerk in Selenginsk |