Donnerstag, 22. Februar 2018

Familienleben

Mit Maja spiele ich das Spiel „Verboten“. Ich nenne ihr verbotene Dinge, die sie auf keinen Fall tun soll und die mich in Wut bringen. Sie macht es und genießt meine gespielte Verärgerung.

Maja, du darfst jetzt auf keinen Fall Klavier spielen!
Maja nimmt den Hocker und setzt sich vor das Instrument.
Maja, wehe, Du spielst jetzt die „Raupe“!
Die „Raupe“ ist eine etwas langweilige, aber sehr nützliche Einspielübung, die sie nicht mag.
Maja beginnt, mit der rechten Hand die „Raupe“ zu spielen.
Na, Gott sei dank, wenigstens nicht mit beiden Händen, sage ich mit vorgetäuschter Erleichterung.
Maja schaut mich schelmisch an und spielt die „Raupe“ beidhändig.
Auf keinen Fall aber nun das ukrainische Volkslied „Divtschinna“, rufe ich mit theatralischer Donnerstimme.
Wenn ich das mache, dann wirst Du gleich ganz böse, ja? fragt sie und spielt „Divtschinna“.
Auf diese Weise üben wir gemeinsam 20 Minuten Klavier, und über einen kleinen Umweg bekomme ich sie dazu, alles das zu spielen, was sie bis zur nächsten Klavierstunde wiederholen sollte. Danach schreibe ich ihr ein paar Übungen ins Notenheft. Wie viele Viertel sind drei Halbe, sechs Achtel oder acht Sechzehntel? Finger weg vom Notenheft, dröhne ich, als sie es aufschlägt.
Maja kann sich vor Lachen kaum halten und macht sich unverzüglich an das Lösen der Aufgaben.

Mitten in die sonntagvormittägliche Familienidylle hinein beginnt plötzlich der Chip meiner Auto-Alarmanlage zu piepen. Aus dem Fenster sehen wir, dass jemand neben dem Lada steht und ihm offensichtlich einen Stoß gegeben hat, so dass der Erschütterungssensor ausgelöst wurde. Ich renne sofort hinaus. Der Mann ist verschwunden, dafür steht die Tür des sich neben dem Parkplatz befindlichen Jagdwaffengeschäftes offen. Zwei Burjaten mit undurchdringlichen Gesichtern stehen drinnen hinter dem Tresen.
Ob irgendjemand sich an meinem Auto stört?
Fahren Sie es weg, befielt einer der beiden. An der Wand hinter ihm hängt eine beeindruckende Kollektion von Jagdgewehren.
Ob er das begründen könne? Das Fahrzeug stehe doch wohl auf einem öffentlichen, für alle frei nutzbaren Parkplatz?
Wir sind es, die dort Schnee geräumt haben. Und sie stören uns beim Ausladen. Reicht das an Erklärung? Fahren Sie es jetzt weg! In seiner Stimme liegt die mafiöse Sicherheit eines Menschen, der weiß, dass ihm nichts passieren kann.
Wenn mich in Deutschland jemand in diesem Tonfall auffordern würde, mein Auto von einer öffentlichen Stellfläche wegzufahren, weil es für ihn gerade bequem ist, würde ich ihm wohl einen Vogel zeigen. Aber in Russland gelten andere Regeln und ein anderes Verhältnis von geschriebenen zu ungeschriebenen Gesetzen. Also schlucke ich meine Verärgerung.
Geben Sie mir eine Minute, bitte!

Abends putzen wir gemeinsam die Zähne. Für den Weg vom Wohnzimmer ins Bad wählt Maja den Vid transporta, die „Transportform“: auf meinen Schultern, ins Bettlaken eingehüllt oder schaukelähnlich auf dem Abschleppseil sitzend; das gleiche gilt für die anschließende Strecke vom Bad ins Schlafzimmer. Die ersten Zeilen des Abendmärchens liest sie inzwischen schon selbst, danach bin ich der Vorleser und sie die Betonungswächterin. Von mir falsch betonte Wörter bekommen einen Bleistiftstrich über die richtige Silbe. Nach dem Märchen ist neuerdings noch das „Gespräch mit Bjascha“ angesagt. Bjascha ist ein Stoffschaf und zeichnet sich dadurch aus, dass es nur Deutsch spricht. Auf diese Weise - im imaginären Dialog mit einer Stoff-Figur – lehre ich Maja die Zahlen, Wochentage und erste einfache Sätze auf Deutsch.

Der Winter in Ulan-Ude geht seinem Ende entgegen, die Temperaturen sinken nur noch selten unter minus zehn Grad. Mit ängstlicher Spannung sehen die Bewohner der niedriger gelegenen Stadtteile der Schneeschmelze entgegen. An vielen Stellen liegen zusammengeschobene Schneemassen oder vom Boden freigehackte, aufgestapelte Schnee-Schollen. In diesem Jahr gab es so viel Niederschlag wie in den letzten 59 Jahren davor nicht, und vielen Häusern drohen nun Schlammlawinen und Überschwemmungen.

Maja mit einem kleinen Plastikschlitten vor einem Schneeschollenberg (oben), in einer Ausstellung mit lebendigen Schmetterlingen (unten) und zuhause beim Seifenblasen produzieren (ganz unten)