Anderthalb Fahrtstunden südlich von Ulan-Ude liegt der
Gänsesee, 25 Kilometer lang, 5 Kilometer breit, 25 Meter tief, eine flache Pfütze
im Vergleich zum Baikal und trotzdem von beeindruckender Schönheit, wenn man an
einem Wintertag von einem Hügel über die schneebedeckte Eisfläche blickt, die
Ausläufer des Chamar-Daban-Gebirges im Hintergrund, am nördlichen Ende die zwei
Schlote eines Kohlekraftwerkes, die einen friedlichen grauen Rauchfladen in den
windstillen Himmel hinein ausstoßen. Am Südende liegt ein Ort, der genauso
heißt wie auf Russisch der See: Gusinoje Osero. Zum Glück gibt es zu fast jeder
kleineren russischen Siedlung einen Wikipedia-Artikel. Wir erfahren: 5300 Einwohner (1959), 2900
Einwohner (2010); seit 1939 eine Bahnstation; ein wieder
aufgebauter buddhistischer Tempel, der Tamtschinskij
Dazan, bis zu seiner Zerstörung 1938 Hauptsitz des burjatischen Oberlamas,
als es das Kloster in Ivolginsk noch nicht gab.
Die radikale Negativentwicklung der Einwohnerzahl klingt
interessant, und so beschließen Valentin, Aurelia, Maik und ich, den Ort
aufzusuchen, nachdem wir uns an der Ästhetik des Sees sattgesehen haben. Zwei
Franzosen, ein Schweizer und ein Deutscher, wahrscheinlich hat es seit der
Perestroika keine solche Dichte an westlichen Ausländern mehr hier gegeben.
„Glückwunsch zum Großen Sieg“, steht in überdimensionalen Lettern an einer
Betonwand. In der Tat sieht es so aus, als haben nicht die Russen, sondern ihre
Gegner in Gusinoje Osero einen gewaltigen Triumph errungen. Halbverfallene
Häuser, Trümmer und Trostlosigkeit, jedes zweite Gebäude eine Ruine. Auf dem
großen zentralen Platz – wahrscheinlich Leninplatz genannt, ich habe vergessen
zu fragen – eine weiß getünchtes Lenindenkmal und zwei ältere Burjaten, einsam
auf der einzigen Bank sitzend. Einer davon torkelt uns entgegen, überschwänglich
grüßend, und möchte vor Lenin fotografiert werden. Wo er denn arbeite,
interessiere ich mich. Früher bei der Eisenbahn, sagt er fröhlich und weist in
Richtung des Bahnhofes, wo täglich ein von Ulan-Ude in die Mongolei fahrender
Zug und einer in die Gegenrichtung halten; aber jetzt trinke er Wodka! Amüsiert
klappt der Burjate seine Jacke auf und zeigt mit schelmischem Grinsen die in
der Innentasche steckende Flasche.
Ich halte Ausschau nach einer nüchternen Person und erblicke
eine Frau, die ich frage, ob es möglich wäre, am anderen Ufer des Gänsesees zurückzufahren.
Lieber nicht, ist die Antwort, besser auf der gut asphaltierten Straße, auf der
wir auch gekommen sind. Putin hat vor drei Jahren persönlich die Mittel
bewilligt, damit sie gebaut wird, damit der Tamtschinskij Dazan eine Anbindung
an die Richtung Ulan-Bator führende Föderale Trasse hat. Und deshalb stimmen
Sie nächste Woche bei den Wahlen auch für ihn, stimmts? Bestätigendes Nicken.
In der russischen Provinz lockt die Faszination, sich am
Ende der Welt zu befinden, die morbide Schönheit des Unvollendeten und Maroden,
das Gefühl unendlicher Versprechen und unrealisierter Möglichkeiten, vermischt
mit einer Ahnung von aus den Abgründen des zwanzigsten Jahrhunderts
aufsteigendem Grauen. Wir machen Halt an einem Ensemble von auf einigen Hügeln
verstreuten Barackenruinen, ganz klar keine normalen Wohnbauten, aber auch
keine Landwirtschaftsgebäude. Vielleicht das Gusinoosjor-LAG, ein GULAG, in dem
zu Kriegszeiten zweitausend Gefangene untergebracht
waren? Eine Verkehrskontrolle hält unseren Lada Samara an; nachdem ich meine
Dokumente gezeigt und die Frage beantwortet habe, warum ich mich nicht für
einen Toyota entschieden habe, erkundige ich mich nach den Baracken.
Naja, Datschen wahrscheinlich! Der junge Polizist wirkt
etwas ahnungslos.
Quaderförmige Datschen aus dreißig Zentimeter dicken
Betonwänden?
Richtig tolle, stabile Datschen eben!
Und der Stacheldraht, der so herumliegt?
Damit niemand was klaut. Das ist Russland! Gute Weiterreise!
Vor der Rückkehr nach Ulan-Ude fahren wir eine kleine Runde
auf den Gänsesee hinaus. Zum ersten Mal traue ich mich mit dem Auto aufs Eis;
Angler, die mit ihren viel schwereren Geländewagen einen halben Kilometer weiter
draußen stehen, und frische Fahrspuren geben mir Sicherheit, dass wir nicht
einbrechen. Zwei Meter Dicke reichen auch für einen Panzer. Dann lade ich meine
drei Reisegefährten noch zu einem Lagerfeuer in einer Flussniederung ein, im
Sommer aufgrund der allgegenwärtigen Waldbrandgefahr streng verboten, jetzt im
Winter eine für uns westliche Städter sehr romantische Sache. Mit auch unter
Wasser brennenden Outdoor-Streichhölzern, die eigentlich mehr Sternchenfeuern
als Streichhölzern ähneln, ist das trockene Weidenholz schnell entzündet. Vier
Westeuropäer schlürfen gedankenversunken Tee aus der Thermoskanne unter der
sibirischen Nachmittagssonne am blauen Himmel. Zwei Jungs flitzen auf
Schlittschuhen auf dem Fluss an uns vorbei. Stille, nur das Holz prasselt.
Wollte jemand eine Promotion über die Erscheinungsformen des
Alkoholismus im Alltag schreiben, geht es mir durch den Kopf, fände er in
Russland ein ideales Forschungsfeld. Alkoholiker gibt es freundlich-harmlose
(der Burjate in Gusinoje Osero), fröhlich-kreative (der lautstark singender,
inzwischen ausgezogene Sergej Iwanowitsch aus der Wohnung neben uns) und
laut-aggressive (der Nachbar von einer Etage weiter unten, der nachts um halb
Drei eine halbe Stunde lang wie ein wild gewordener Teufel an die Tür hämmert,
weil ihn keiner hereinlässt). Außerdem gibt es die gefährlich-unberechenbaren
wie der Anwohner bei Maxims Datsche, der ungebeten auf das Grundstück spazieren
gekommen war, um uns mit seiner Motorsäge zu helfen und sich den Amerikaner, also mich, einmal näher anzuschauen. Da ich eine
Motorsäge in der Hand eines Betrunkenen nicht begrüßen kann, bedeutete ich ihm,
wieder zu gehen. Offensichtlich beleidigt, kam er wenig später mit einem
großen, knurrenden Hund zurück. Maxim konnte ihn gerade so beruhigen und
abwehren – mich allerdings nicht dazu bewegen, seine Datsche ein weiteres Mal
aufzusuchen.