„Hier ist unser Verwaltungsgebäude, das haben sie zuerst besetzt. Lastwagenweise kamen russische Soldaten angefahren.“ Zusammen mit Sascha laufe ich durch das abendliche Simferopol und lasse mir die wichtigsten Sehenswürdigkeiten erklären. „Als nächstes das Parlamentsgebäude. Und hier ist das Denkmal an die Freundlichen Leute.“
Sascha, Anfang 30, ist
Programmierer und gerade von einer dreimonatigen Asienreise zurückgekommen. Der
junge Mann äußert sich bedacht und überlegt. „Stell dir vor, dich bittet jemand
um dein Handy, um zu telefonieren. Du gibst es ihm, er nimmt es höflich und
läuft weg. Und jetzt stell dir vor, jemand haut dir eins aufs Maul, nimmt dein
Telefon und verschwindet. Gibt es einen wesentlichen Unterschied? Nein, du bist
dein Telefon los. Und deshalb bin ich der Meinung, dass Russland die Krim annektiert hat. Ohne Gewalt, aber
annektiert.“
Man sagt, Geschichte wird von den
Siegern geschrieben. Auf der Krim ist Russland der Sieger und hat seine Sicht
der jüngsten Geschichte schon in einigen neuen Denkmälern verewigt. Ein bronzener
Mann in martialischer, waffenstrotzender Uniform, eine Katze umstreicht sein Bein,
ein kleines Mädchen überreicht ihm Blumen. „Den Freundlichen Leuten, von dankbaren Einwohnern“, ist zu lesen. Die Freundlichen Leute waren maskierte
Soldaten ohne Abzeichen, erklärt mir Sascha. Zuerst hieß es, es sei die
Bürgerwehr der Krim. Dann gab Putin öffentlich zu, dass es russische Soldaten
waren. Sie waren immer nett zu den Einwohnern, man konnte sich mit ihnen
fotografieren lassen. Aber sie haben die Krim besetzt. Russland habe schon vor
dem Referendum zusätzliche Streitkräfte hier eingeführt. Das sei ganz klar Annexion.
Sascha, obwohl Russe, hat im Referendum für die Ukraine gestimmt. Wenn Putin nicht so beherzt gehandelt hätte, dann gäbe es doch hier jetzt ein Blutvergießen wie im Donbass, wiederhole ich ein oft gehörtes Argument. Er schüttelt den Kopf. Man muss wissen, dass es doch Russland ist, das in der Ostukraine Krieg führt, höre ich. Wenn Russland keine Waffen dorthin liefern würde, gäbe es kein Blutvergießen. Natürlich war unter der Ukraine nicht alles optimal. Aber hier wäre auch ohne Annexion nichts weiter passiert.
Wir gehen weiter zum nächsten
Denkmal. „Den Opfern des sowjetischen Volkes, die durch die Hände der Helfer der Faschisten - die Kämpfer der Ukrainischen Befreiungsarmee und
andere Kollaborateure - gefallen sind“, steht unter den beiden steinernen sich umarmenden
Gestalten. Für Russland ist es natürlich passend, die Ukrainer alle als
Faschisten darzustellen, meint mein Stadtführer. Was auf dem Maidan passiert
ist, wird total verdreht. Am Anfang waren es Rentner, die für mehr Rente auf
die Straße gegangen sind, und junge Leute, die ihr Land in der EU sehen
wollten. Janukowitsch hat sie brutal auseinanderknüppeln lassen. Erst später
kamen die Nationalisten dazu, aber sie bildeten doch nie die Hauptmenge der
Demonstranten!
Drittes Denkmal: „den
Selbstverteidigern der Heimat“. Wir lesen: „Schlacht auf dem Peipussee – Zeit der
Wirren – Vaterländischer Krieg 1812 – Verteidigung der Krim und Sevastopols –
Erster Weltkrieg – Großer Vaterländischer Krieg – Krimfrühling 2014.“ Gerade mal drei Jahre ist es her, und schon hat der Anschluss der Krim seinen würdigen Platz in der Reihe der großen historischen Ereignisse des russischen Volkes gefunden. Ist es
nicht historische Gerechtigkeit, dass die Krim wieder russisch ist, hat nicht
Chruschtschov die damalige Verfassung verletzt, indem er die Krim der Ukraine
schenkte, ohne das Volk zu befragen? Sascha lacht. Historische Gerechtigkeit
kann es gar nicht geben! Vor den Russen war die Krim türkisch, davor
griechisch. Vielleicht sollten wir sie an die Türkei rückübereignen, oder an
Griechenland? Und was ist mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, die
meisten unterstützen doch hier Russland, will ich wissen.
Selbstbestimmungsrecht, das wäre ja ganz etwas Neues, entgegnet der junge Mann.
Es versuche nur mal jemand, in Russland aufzumucken, so wie in Tschetschenien
geschehen! Was war denn da mit der Selbstbestimmung? Gilt die nur für Russen im
Ausland, nicht aber für die im eigenen Land lebenden Völker?
Vorbei an Katharina der Großen, unter der 1783 die Halbinsel ins Zarenreich aufgenommen wurde
– „errichtet anlässlich des Anschlusses der Krim an Russland 2014 – für immer“ –
machen wir uns auf den Heimweg. Seit dem Staatenwechsel sei es hier nicht besser, sondern
schlechter geworden. Sascha bekommt wegen der Sanktionen nirgendwo ein Visum
für Westeuropa, für seine Firma ist die Zusammenarbeit mit Geschäftspartnern in
den USA sehr erschwert. „Die Preise sind stärker gestiegen als die Löhne. Unser
Obst und Gemüse kam früher aus der Ukraine, das war viel leckerer. Der Asphalt,
den die Ukrainer verlegt haben, musste früher nach zwei Jahren ausgebessert
werden; heute hält er ein halbes Jahr.“ Kann er seine Meinung frei äußern, gibt
es im Alltag Repressionen? „Nein, das Leben für die meisten hat sich nicht groß
geändert. In der entscheidenden Phase hat man die lautesten
Pro-Ukraine-Aktivisten unauffällig verschwinden lassen, jetzt kann jeder
erzählen, was er will.“
Meine Nacht in Simferopol, der
Hauptstadt der Respublika Krim, ist
die letzte vor dem Rückflug nach Ulan-Ude. Am Flughafen gibt es einen
Souvenirshop der russischen Armee und einen T-Shirt-Verkaufsstand namens Welikaja Rossia - Great Russia, „Russland
– der letzte Hort der Unabhängigkeit“ und ähnlich lauten die Aufdrucke. In der
Maschine sitze ich am Fenster und genieße den fantastischen Ausblick über die
sonnenbeschienene Steppenlandschaft. Wir fliegen nicht über die Ostukraine,
sondern beschreiben einen großen Bogen über das Asowsche Meer und die Mündung des Don – der ukrainische
Luftraum ist für russische Flugzeuge gesperrt. In meinem Gepäck sind einige Palmenkeimlinge, die Lena in Jalta für mich ausgegraben hat, damit ich sie im Zimmer kultiviere. Für mich geht nicht nur der Krim-Krimi, sondern auch eine
einmonatige Reisezeit durch 13 Orte in Russland und Deutschland zuende – höchste Zeit wieder für das Leben am Baikalsee!
Asowsches Meer (oben) und Donmündung (unten) |
Gewalt und Zärtlichkeit Denkmal an die "Freundlichen Leute" in Simferopol |
"Dieses Haus haben sie zuerst besetzt" Das Verwaltungsgebäude mit der Leninstatue davor |
"Krim-Frühling" Ein weiteres Ereignis in der Geschichte der russischen Befreiungskämpfe |
Und Obama weint "Krim abgegeben - Krim aufgenommen", ein Souvenir-Kühschrankmagnet |