Samstag, 21. Januar 2017

Pjervomajskoje

Weit in eine unbekannte Region zu reisen und nach der Ankunft wie ein vertrauter Gast empfangen zu werden – dem wohnt ein ganz besonderer Zauber inne, jedes Mal wieder neu. 

In der Empfangshalle des Flughafens Simferopol wartet Firdavis auf mich, ein Freund meines Potsdamer Bekannten Johannes. Durch die abendliche Dunkelheit fahren wir eine Stunde nach Norden, in die Siedlung Pjervomajskoje. Rechts und links erahne ich die Steppe, die den nördlichen Teil der Krim bedeckt. Firdavis, Jahrgang 1958, ist Zahnarzt in einer Privatpraxis und spricht gut Deutsch; er hat ein Jahr in Deutschland studiert. Wie hat sich das Leben hier in den letzten drei Jahren verändert, frage ich ihn. Während mein Gastgeber seinen Volkswagen vorsichtig durch das Schneetreiben auf der kürzlich frisch asphaltierten Straße steuert, erläutert er mir seine Sicht der Dinge. „Es ist besser geworden!“, erfahre ich, „Löhne und Renten sind gestiegen. Und es ist ruhig hier. In der Ukraine ist es gefährlich, da sind jetzt Faschisten und Nazisten. Ein halbes Jahr lang hatten wir keinen richtigen Strom, immer nur stundenweise, weil sie die Kabel gesprengt hatten. Aber jetzt gibt es ein Seekabel vom russischen Festland.“

Firdavis wohnt allein in einem geräumigen Haus neben seinem Arbeitsplatz und weist mir eines der Zimmer zu, ein ehemaliges Kinderzimmer. Zum Abendessen gibt es neben Plov, in Fett gekochtem Reis, liebevoll selbst gebackenen Rührkuchen. In der Ukraine war der Zahnarzt seit den Maidan-Ereignissen nicht mehr; seine Informationen erhält er aus dem staatlichen russischen Fernsehen, das in der Küche und im Wohnzimmer fast ununterbrochen läuft. Seiner Abstammung nach ist er weder Russe noch Ukrainer, sondern Tatare aus Tatarstan, einer russischen Republik zwischen Ural und Moskau. Die verwandten Krim-Tataren bilden die drittgrößte Bevölkerungsgruppe hier. Am nächsten Morgen weckt mich neben Hundegebell und Hähne-Kikeriki der Muezzinruf einer Moschee irgendwo in der Nähe, und ich beginne zu begreifen: tatsächlich, ich bin auf der Krim, der Orient ist nicht weit.

Am nächsten Tag spazieren wir durch den 10000-Einwohner-Ort Pjervomajskoje. Die Häuser sind nicht wie in Sibirien aus Holz, sondern aus Stein, wie auch die Grundstücksmauern oftmals aus Muschelstein, einer interessanten Art Kalkstein mit Meerestier-Einschlüssen. Ein kräftiger, feuchter Wind weht, die Temperaturen sind um die null Grad, es liegt eine dünne Schneedecke. Im Zentrum zeigt mir Firdavis das Denkmal für die Gefallenen im Großen Vaterländischen Krieg, die obligatorische Leninstatue und ein kleines Denkmal für die Opfer des Genozids an den Krimtataren, die 1944 von Stalin der Kooperation mit den Deutschen beschuldigt und nach Osten verbannt wurden. Wir kommen an der Moschee vorbei, Firdavis erzählt mir, dass er Atheist sei. „In der atheistischen Sowjetunion haben alle Völker friedlich zusammengelebt. Und was passiert jetzt in der Welt? Sie rufen ‚Allah‘ und bringen sich gegenseitig um.“

Am Vormittag kommt ein Patient in die Praxis. Ich begleite meinen Gastgeber, er reicht mir einen weißen Kittel und bittet mich darum, sein Assistent zu sein.
Ich habe in der Nähe von Potsdam gedient, sagt der Mann auf dem Behandlungsstuhl, als er hört, wo ich herkomme, kurz vor dem Mauerfall!
Firdavis verabreicht ihm eine Betäubungsspritze.
Welche Erinnerungen haben Sie an Deutschland, frage ich.
Nur gute!
Der Zahnarzt bittet mich darum, den Kopf des Mannes von hinten festzuhalten.
Wie hat sich das Leben in den letzten drei Jahren hier verändert, will ich noch wissen.
Ach, für die einfachen Leute nicht viel, wer arbeiten will, der arbeitet, und wer trinken will, der trinkt eben!
Firdavis dreht mit seiner Zange im Mund des Mannes herum, nach einer Weile fördert er einen Zahn zutage und reicht dem Patienten ein Taschentuch. Draufbeißen bitte!
Mein erster Einsatz als Zahnarzthelfer ist zuende. Ich ziehe den weißen Kittel aus. Der Patient zahlt 700 Rubel und verabschiedet sich.
Im Moment arbeitet er noch mit seiner alten ukrainischen Lizenz, erklärt mir Firdavis, nächstes Jahr läuft sie aus, das kann noch heiter werden, wenn die neue Kontrollkommission kommt und jeden Zentimeter in der Praxis ausmisst, ob er mit der Norm übereinstimmt.

Beim Mittagessen ist Waldemar zu Gast, wie der Name verrät, Deutscher: nicht Krimdeutscher (von denen es noch über 2000 hier gibt), sondern Wolgadeutscher, ein kerniger, gesunder Alter, 1938 geboren, in der Kindheit von Stalin nach Tadschikistan verschickt und in den 90er Jahren auf die Krim umgezogen. Deutsch kann er nur ein paar Brocken, das Sprechen der Feindessprache wurde ihm in jungen Jahren gründlich ausgetrieben.
Wie hat sich das Leben in den letzten drei Jahren hier verändert?
Zum Besseren! Jetzt können wir frei Russisch sprechen, die Chochlý wollten uns ihr Ukrainisch aufzwingen.
Ob er am Referendum über die Unabhängigkeit der Krim im März 2014 teilgenommen habe?
Natürlich! Eigentlich sollte es im Mai stattfinden, aber dann hätten die Bandérovtsy es verhindert, also wurde es schon im März abgehalten.
Aber es gibt Leute, die gegen Russland sind, zum Beispiel die Krimtataren?
Die haben doch keine Ahnung, sie sollten Russland dankbar sein! Zarin Ekaterina II. hat sie 1783 von den Türken befreit.
Und die Massendeportationen unter Stalin?
Man sagt, die Tataren haben die Faschisten auf der Krim mit Brot und Salz empfangen. Außerdem, Stalin war ja gar kein Russe, sondern Georgier, also ist es nicht die Schuld Russlands.

Abends gehe ich mit Firdavis und Sergej in die Banja. Zwischen den einzelnen Aufenthalten im Dampfraum kühle ich mich in dem kleinen Pool ab und höre mir Sergejs Argumente an. Der 43jährige Matrose, ein muskulöser Typ mit kahlgeschorenem Schädel, hat Ende 2013 in Kiew an Pro-Janukowitsch-Demonstrationen teilgenommen. „Wir haben den gesetzlichen Präsidenten unterstützt. Was würde Angela Merkel sagen, wenn man sie gewaltsam aus dem Amt jagen und irgendeinen Typen von der Straße für sie einsetzen würde?“
Wie hat sich das Leben in den letzten drei Jahren hier verändert?
Zum Besseren. Ohne den Anschluss an Russland hätten wir jetzt auf der Krim ein Blutvergießen wie in der Ostukraine.
War die Vereinigung der Krim mit Russland in Moskau schon länger geplant?
Natürlich, erläutert mir der Matrose, die Strategie war schon längst ausgearbeitet, für den Fall, dass es so einen Umsturz in Kiew gibt, wie es dann tatsächlich auch passierte. Im Unterschied zur Ostukraine ist die Krim strategisch bedeutsam für die Kontrolle des Schwarzen Meeres. Die Krim war zuerst türkisch und dann russisch, aber nie ukrainisch, Chruschtschov hatte überhaupt nicht das Recht, sie der Ukraine zu überlassen.

Ich habe ein wenig Kopfschmerzen, ob von der Reise – schließlich bin ich aus Deutschland unterwegs, seit 7 Uhr morgens – oder von den Argumenten meiner Gesprächspartner, weiß ich nicht genau. Fünfzig Kilometer weiter nördlich, hinter der Landenge von Perikop, beginnt die Ukraine - einen Abstecher dorthin, um mir die Meinung der Gegenseite anzuhören, kann ich leider von der Krim aus nicht machen. Vielleicht würde man mich festnehmen. In den Augen der ukrainischen Behörden befinde ich mich auf "vorläufig besetztem Gebiet", das ich ohne ihre Sondererlaubnis gar nicht betreten hätte dürfen.
Die Moschee in Pervomajskoje
Mauern aus Muschelstein
Denkmal an die Gefallenen des 2. Weltkrieges (oben) und  an die Deportation der Krim-Tataren unter Stalin (unten)
Politisches Statement: die Krim in den Farben der russischen Flagge an einer Hauswand (oben), Firdavis und Waldemar (unten)

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