Seit ein chinesischer Sänger vor etwa drei Jahren ein Lied
über die Liebe am Baikal herausbrachte, ist Sibiriens berühmtester See zu einem
beliebten Ziel für Touristen aus dem Reich der Mitte geworden. An der
Wasserenge, die die Insel Olchon vom Festland trennt, bietet sich am frühen Nachmittag
ein erstaunliches Bild: eine Schlange von über hundert in dicke Daunenjacken
gehüllte Chinesen mit großen Rollkoffern, die die etwa zwei Kilometer lange
Strecke über das vom Wind fast blankgefegte Eis zurücklegen. Da das
ununterbrochen hin- und herfahrende Luftkissenboot nur eine geringe Kapazität
hat, haben sie entschieden, nicht zu warten, und lassen sich von ihrem Fußmarsch auch durch
Sturm und Kälte nicht abschrecken. Sie kommen, geben Geld aus und fahren nach
ein paar Tagen wieder, den Einheimischen auf diese Weise zu einem guten
Wintereinkommen verhelfend. Was wäre, wenn sie blieben? Zum ersten Mal wird für mich
anschaulich, was gemeint ist, wenn Russen die Sorge äußern, Sibirien und
den Fernen Osten aufgrund der sehr ungleichen Bevölkerungsverteilung allmählich
an China zu verlieren. Vielleicht wird es ja hier bald eine Brücke geben, frage ich einen der herumstehenden Busfahrer. "Dann bin ich der erste, der sie sprengt!", lautet seine Antwort. "Wir brauchen hier nicht noch mehr Massenansturm. Die Ökologie der Insel ist empfindlich genug."
Zwei Tage später: in einem alten UASik-Minibus, wegen seines
Äußeren Bulka (Semmel) genannt,
fahren wir vor der Küste von Olchon entlang zum Nordende der Insel. Da das Eis
bereits über einen halben Meter dick ist, gilt es als sicher befahrbar, auch
wenn das Katastrophenschutzministerium die Eiswege offiziell noch nicht
eröffnet hat. „Wenn die Verkehrskontrolle kommt, erfahren wir das vorher und
machen die Tour über das Festland“, meint Fahrer Sergej zu mir. Warum es sich aber
lohnt, vor der Küste zu fahren, wird schon beim ersten Foto-Stopp deutlich:
jeden Winter entsteht hier eine fantastisch-bizarre, wunderschöne und geradezu
surreale Welt aus Eisschollen, Eiszapfen und gar nicht mit Worten zu
benennenden Eisgebilden. Außer Niso und mir ist noch eine Gruppe chinesischer
Touristen dabei. Da diese kein Russisch können und der Fahrer kein Englisch,
fällt mir die Rolle des Übersetzers zu.
„Wie lange dauert die Pause?“, gebe ich die Frage der
Chinesen an den Fahrer weiter.
„Solange, bis alle erfroren sind und wieder hier drin
sitzen!“, meint Sergej humorvoll.
Meine Mitreisenden sind mit riesigen Kameras und
10-Zentimeter-Objektiven ausgestattet, an der Rückseite ihrer Smartphones
kleben kleine Säckchen mit einem Eisenpulver, das durch Reaktion mit Sauerstoff Wärme erzeugt und so den Akku
warmhält. Begeistert strömen alle aus, um das Eismärchen festzuhalten.
Schneidender Wind, minus fünfundzwanzig Grad. Ein Meer aus aufgebrochenen Schollen
liegt vor uns, einige davon leuchten in blauer Farbe, ein Effekt, der wohl entsteht,
wenn Schnee gefriert. An der Steilküste gähnen
metertiefe, mit riesigen Eissäulen zugehangene Grotten. Das Eis, auf dem wir
laufen, ist teilweise spiegelblank, Risse und Luftbläschen lassen seine
Tiefe erahnen. Gelegentlich stößt man auf bis zu einer Fußlänge breite Risse,
die aber wenige Zentimeter tiefer als die übrige Fläche wieder zugefroren sind.
In meine Daunenjacke und den ein halbes Kilo schweren, von
Mutter gestrickten Wollschal gehüllt, bewege ich mich durch die surreale
Landschaft und komme mir vor wie auf einem anderen Planeten. Zum Fotografieren
muss ich einen Handschuh ausziehen. Nach zwei Fotos beißt die Kälte in meine
Hand, und mit schmerzverzerrtem Gesicht stecke ich sie zurück in den Handschuh.
Nach zehn Minuten ist die Gruppe komplett im warmen Bus versammelt.
45 Kilometer lang ist die Strecke übers Eis vom Dorf Chuzhir
entlang der Küste an die Nordspitze der Insel, genannt Miss Choboj, die ihren burjatischen Namen Reißzahn von einer gigantischen, fast senkrecht aufgestellten Felsplatte
bekommen hat. Links von uns erstreckt sich das Maloje Morje, das Kleine Meer, das die Insel Olchon (ch wird wie in
„ach“ ausgesprochen) vom Festland und von den Bergen des Primorskij-Bergrückens
trennt. „Bei denen ist alles im Smog versunken“, meint Sergej und deutet auf
meine Mitreisenden, „die sind gekommen, um sich mit frischem Sauerstoff zu
bevorraten!“ Auf dem Rückweg fahren wir vorbei an weidenden Yaks ein Stück übers
Festland. Der Westen Olchons ist fast baumfrei und ich habe das Gefühl, mich
irgendwo hoch oben im Gebirge zu befinden.
In Khuzhir, dem mit 1350 Einwohnern größten Ort Olchons,
gibt es eine kleine Musikschule. Deren Leiterin Oksana hat mich eingeladen, vorbeizukommen
und mit meinem Cello für die Kinder eine Masterklass
– der russische Terminus für Workshop –
durchzuführen, im Gegenzug bekommen meine Freundin und ich kostenlose Unterkunft und Verpflegung. Bis 2005 hatte Khuzhir keine dauerhafte Stromversorgung und keinen Handyempfang. An zwei Abenden nehmen wir unser Abendessen wegen eines Stromausfalls bei Kerzenschein zu uns.
„Wissen Sie, wir sind hier ein bisschen abgeschnitten von der
Zivilisation. Bach und die europäische Klassik, das ist für die Schüler alles
graue Theorie. Aber wenn Sie als lebendiger Vertreter dieser Kultur hier
vorbeikommen – das wird ein besonderes Ereignis!“ Ich erzähle etwas über
Leipzig und seine Komponisten, spiele ein paar Stücke aus den Bachsuiten und
lasse dann die Kinder selbst probieren, Töne auf dem Cello zu erzeugen. Das Interesse
ist groß - erwartungsgemäß kommt dabei allerdings nur quietschiges Gekratze heraus. Die
meisten der Kinder lernen Klavier. „In den ersten Jahren klingt ein Streichinstrument
meistens schrecklich“, beruhige ich die Schüler, „es ging bei mir nur mit viel
Geduld und weil meine Eltern auf regelmäßiges Üben bestanden haben. Das gilt
eigentlich für jedes Instrument.“
Von Ulan-Ude nach Olchon gelangt man in weniger als einem
Tag; eine nächtliche Zugfahrt nach Irkutsk, dann weiter mit dem Kleinbus, mit
einem Umstieg vor der Insel, da Linienbussen die Fahrt über das Eis nicht
gestattet ist. Man legt die Strecke entweder zu Fuß zurück oder besteigt das
kleine Luftkissenboot, das einen ans andere Ufer bringt – fünf Minuten Fahrt
für saftige 5 Euro, wobei der Preis offensichtlich nur für Feriengäste gilt. „Ich
bin kein Tourist, ich arbeite“, sage ich möglichst akzentfrei, dabei auf mein
Cello weisend, und wurde an Bord gewunken, ohne zahlen zu müssen. Im Bus zahle
ich für das Cello einen dritten Sitzplatz, da ich nicht möchte, dass es als
Gepäckstück aufs Dach geschnallt wird.
Niso und ich übernachten in Nikitas Homestead in einem gemütlichen Blockhaus mit zwischen die
Balken genageltem Seil, damit die Isoliermasse nicht herausquillt. Ein riesiger
weißgekalkter Ofen spendet Wärme. Als sich im Zimmer unangenehmer Ofengeruch
breitmacht, kommt ein tadschikischer Arbeiter zu uns und verschmiert ein paar
Risse mit Lehm; Niso hat nebenbei die Gelegenheit, sich mit jemandem in ihrer
ersten Muttersprache zu unterhalten.
Die Rückfahrt entwickelt sich für mich zu einer Nervenprobe, da
es zu endlosen Verzögerungen beim Umstieg aufs Festland kommt – ein paar
Chinesen scheinen bei der Eisüberquerung verloren gegangen zu sein – und ich die
ganze Zeit befürchte, dass wir den Nachtzug von Irkutsk nach Ulan-Ude verpassen. Nach
fast schlafloser Nacht im Platskartnyi
wagon wieder hier angekommen, werde ich erstmal krank und lege mich mit
kaltem Schweiß und völliger Entkräftung anderthalb Tage ins Bett – wohl der Preis für
den eisigen Winterzauber und das stundenlange Durchgeschütteltwerden im Bus.
Niso legt frisch aufgeschnittene Zwiebeln in der Wohnung aus (ein Hausmittel
gegen Bakterien in der Luft, sagt sie) und tränkt mich mit vitaminreichem heißem
Johannesbeersaft.
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Das Luftkissenboot befördert die Touristenströme nach Olchon - viele gehen die zwei Kilometer auch zu Fuß übers Eis |
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Die Steilküste vor dem Dorf Khuzhir im Westen der Insel |
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Eingefrorene Fischkutter im Hafen von Khuzhir |
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Das Kleine Meer (Maloje Morje) trennt die Insel von der Westküste des Baikalsees |
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Das Eis ist über einen halben Meter dick und problemlos befahrbar. Manchmal tun sich Risse auf, die sofort wieder zufrieren |
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In Felshöhlen an der Steilküste hängt das Eis in bizarren Formen von oben herab |
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Ihrer Form nach Löwe (oben) und Krokodil (unten) genannte Inselchen |
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Die Fahrer warten geduldig, bis die Touristen in den warmen Bus zurückkehren - lange dauert es nicht |
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Torósy genannte Halden von riesigen Eisbruchstücken |
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Blaues Eis |
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Miss Choboj - das nördliche Ende der Insel Olchon |
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Risse im Eis geben einen Eindruck von seiner Dicke |
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Wind und minus fünfundzwanzig Grad muss ertragen, wer das Eismärchen erleben will |
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Das berühmteste Fotomotiv vom Baikalsee überhaupt: das Schamanenkap |