Sonntag, 15. Januar 2017

Der Krim-Krimi

Die Krim ist in Russland sehr präsent. Das Reisen dorthin wird fleißig beworben, in den Medien ist oft von sportlichen oder kulturellen Ereignissen auf der Halbinsel die Rede, Schülergruppen werden zu Ferienlagern entsendet. Als ich mir in St. Petersburg eine Landkarte der Krim besorgte, staunte ich nicht schlecht über anderthalb Meter Regallänge mit Bildbänden, Reiseführern und Karten über die Region. Man könnte den Eindruck haben, dass viel dafür getan wird, damit die Bürger Russlands den neuen Landesteil in ihr Bewusstsein holen.
Als meine Großeltern im Jahre 1961 eine Schwarzmeer-Kreuzfahrt unternahmen (ursprünglich war das Mittelmeer geplant, aber aus politischen Gründen – kurz nach dem Mauerbau – wurde das Reiseziel in sicherere Gefilde verlegt) und in Jalta an Land gingen, war die Krim ukrainisch. Staatschef Chruschtschov hatte sie 1954 der Ukraine „geschenkt“. Eigentlich aber war es sowjetisches Gebiet, und im Rahmen der großen Sowjetunion spielte die Republikzugehörigkeit kaum eine Rolle. Der Vater meines Großvaters hatte seinen Fuß auch auf die Halbinsel gesetzt – als Wehrmachtssoldat. Nach einer Verletzung gelangte er an Bord eines der letzten Flugzeuge, die Verwundete evakuierten, kurz bevor die Sowjets sie zurückeroberten.
Die aktuelle Russlandkrise und die Verstimmungen zwischen Russland und dem Westen, von denen allerorten die Rede ist, haben viel mit der Krim zu tun. Nachdem sich im Frühjahr 2014 ein Machtwechsel in der ukrainischen Hauptstadt Kiew und ein pro-europäischer Kurswechsel in der Politik vollzogen hatte, kam die Schwarzmeerhalbinsel zu Russland. Die Bewertung der vorgefallenen Ereignisse ist denkbar unterschiedlich. Die westlichen Staaten sprechen von einer Revolution auf dem Kiewer Maidan-Platz und von einer Annexion der Krim durch Russland. Russland spricht von einem gewaltsamen Putsch und von einer daraufhin folgenden Angliederung der Krim. In der Ostukraine begann ein Bürgerkrieg. Eine gemeinsame Sprache zu finden scheint unmöglich, der Westen verhängte Sanktionen, Russland antwortete mit Gegensanktionen, beide sind bis heute in Kraft.
Vor Beginn meiner Tätigkeit in Ulan-Ude arbeitete ich in einem in Berlin ansässigen Verein, der Austauschprogramme mit russischen und ukrainischen Partnern durchführt. Unter meinen Kollegen im Büro herrschte weitgehende Einigkeit, dass Russland in dem aktuellen Konflikt der Hauptaggressor ist. Da ich vor allem in Russland unterwegs war und mich dem Land sehr viel stärker verbunden fühle als der Ukraine, versuchte ich hin und wieder einmal vorsichtig, den russischen Standpunkt zu verteidigen. Warum ist das gewaltsame Vertreiben des gewählten ukrainischen Präsidenten statthaft, nicht aber der Einsatz russischer Streitkräfte, um einen Staatenwechsel der Krim zu ermöglichen? Mag ersteres dem Kiewer Volkswillen entsprechen – das zweite ist wohl der Wunsch der Krimbewohner. Ich merkte schnell, dass ich mir mit dieser Argumentation unter meinen Kollegen keine Freunde mache und ließ das Thema dann lieber außen vor.
Wenn man bei Youtube den Suchbegriff „Krim“ eingibt, erscheint als einer der ersten Treffer ein über zweistündiger Film des russischen Fernsehens: „Krim – der Weg in die Heimat“ (russisch, mit deutschen Untertiteln). „Rekonstruktionen“ der wichtigsten Ereignisse des Polit-Krimis um die Krim sind zu sehen im Wechsel mit einem ausführlichen Interview mit Wladimir Putin. „Die Krim wird im Bewusstsein des russischen Menschen mit den heroischen Kapitel in unserer Geschichte assoziiert“, erfährt man. „Nach dem Staatsstreich von Kiew verwandelten sich alle Einwohner von Sewastopol in eine Volkswehr.“ Dem sich überall auf der Krim konstituierenden „Volksheer“ kamen die ohnehin auf dort stationierten russischen Streitkräfte zu Hilfe. „Wir mussten um jeden Preis ein Blutvergießen verhindern und den Menschen die Möglichkeit geben, ihre Meinung zu äußern.“ Ein Referendum wurde anberaumt, in dem nach offiziellen Angaben über 95% aller Teilnehmer für eine Loslösung von der Ukraine stimmten.
Ziemlich unglaubwürdig finde ich den nun folgenden Teil des Filmes. „Das Referendum endete mit einem großen Fest auf der ganzen Krim. Eines aber blieb unklar: Ist Russland bereit, die Krim aufzunehmen?“ Berichtet wird nun über eine Umfrage in Russland, bei der 91% dem Beitritt der Krim zu Russland befürworteten. Ja, dann blieb Putin ja keine Wahl… wenn es denn der Volkswille ist! - Ein nach allen Regeln der Kunst gemachter russischer Propagandafilm, der vorgaukelt, die Aufnahme der Krim sei mit dem Einsatz russischer Streitkräfte zuvor nicht schon beabsichtigt gewesen.
Von Reisen auf die Halbinsel Krim wird dringend abgeraten“, liest man auf der Internetseite des deutschen Auswärtigen Amtes. „Die Krim gehört völkerrechtlich weiterhin zur Ukraine, wird aber derzeit faktisch von Russland kontrolliert.“ Über das Völkerrecht gehen die Meinungen zwischen Russland und dem Westen in diesem Punkt auseinander, und das derzeit kann man sicher streichen: mit gigantischem Aufwand ist der Bau einer 19 Kilometer langen Brücke über die Meerenge von Kertsch im Gange, die die Krim „für immer“ mit dem russischen Festland verbinden soll, da die Ukraine die Versorgungswege über Land blockiert. Die deutsche Reisewarnung hat nichts mit der Sicherheitslage zu tun, sondern ist rein politisch motiviert.
Fast drei Jahre lang ist die Krim nun Teil Russlands. In Couchsurfing und in der deutschen Wikipedia wird die neue Realität nicht akzeptiert, Jalta, Sewastopol und Simferopol werden als „Stadt in der Ukraine“ gelistet. Stöhnen die Menschen unter den russischen Besatzern? Jubeln sie über Putin als ihren Befreier? Oder ist ihnen egal, unter welcher Flagge sie leben, solange Strom und Gas erschwinglich bleiben und das Einkommen noch für das Essen reicht? Wer sind die Übeltäter, ukrainische Nationalisten oder russische Okkupanten? Übermorgen fliege ich mit Aeroflot von Moskau nach Simferopol und werde mich ein wenig umhören. Vorhang auf für den Krim-Krimi!