Die Krim ist in Russland sehr
präsent. Das Reisen dorthin wird fleißig beworben, in den Medien ist oft von
sportlichen oder kulturellen Ereignissen auf der Halbinsel die Rede,
Schülergruppen werden zu Ferienlagern entsendet. Als ich mir in St. Petersburg
eine Landkarte der Krim besorgte, staunte ich nicht schlecht über anderthalb
Meter Regallänge mit Bildbänden, Reiseführern und Karten über die Region. Man
könnte den Eindruck haben, dass viel dafür getan wird, damit die Bürger
Russlands den neuen Landesteil in ihr Bewusstsein holen.
Als meine Großeltern im Jahre
1961 eine Schwarzmeer-Kreuzfahrt unternahmen (ursprünglich war das Mittelmeer
geplant, aber aus politischen Gründen – kurz nach dem Mauerbau – wurde das
Reiseziel in sicherere Gefilde verlegt) und in Jalta an Land gingen, war die
Krim ukrainisch. Staatschef Chruschtschov hatte sie 1954 der Ukraine
„geschenkt“. Eigentlich aber war es sowjetisches Gebiet, und im Rahmen der
großen Sowjetunion spielte die Republikzugehörigkeit kaum eine Rolle. Der Vater
meines Großvaters hatte seinen Fuß auch auf die Halbinsel gesetzt – als
Wehrmachtssoldat. Nach einer Verletzung gelangte er an Bord eines der letzten
Flugzeuge, die Verwundete evakuierten, kurz bevor die Sowjets sie
zurückeroberten.
Die aktuelle Russlandkrise und
die Verstimmungen zwischen Russland und dem Westen, von denen allerorten die
Rede ist, haben viel mit der Krim zu tun. Nachdem sich im Frühjahr 2014 ein
Machtwechsel in der ukrainischen Hauptstadt Kiew und ein pro-europäischer Kurswechsel
in der Politik vollzogen hatte, kam die Schwarzmeerhalbinsel zu Russland. Die
Bewertung der vorgefallenen Ereignisse ist denkbar unterschiedlich. Die
westlichen Staaten sprechen von einer Revolution
auf dem Kiewer Maidan-Platz und von
einer Annexion der Krim durch
Russland. Russland spricht von einem gewaltsamen Putsch und von einer daraufhin folgenden Angliederung der Krim. In der Ostukraine begann ein Bürgerkrieg.
Eine gemeinsame Sprache zu finden scheint unmöglich, der Westen verhängte
Sanktionen, Russland antwortete mit Gegensanktionen, beide sind bis heute in
Kraft.
Vor Beginn meiner Tätigkeit in
Ulan-Ude arbeitete ich in einem in Berlin ansässigen Verein, der
Austauschprogramme mit russischen und ukrainischen Partnern durchführt. Unter
meinen Kollegen im Büro herrschte weitgehende Einigkeit, dass Russland in dem
aktuellen Konflikt der Hauptaggressor ist. Da ich vor allem in Russland
unterwegs war und mich dem Land sehr viel stärker verbunden fühle als der
Ukraine, versuchte ich hin und wieder einmal vorsichtig, den russischen
Standpunkt zu verteidigen. Warum ist das gewaltsame Vertreiben des gewählten
ukrainischen Präsidenten statthaft, nicht aber der Einsatz russischer
Streitkräfte, um einen Staatenwechsel der Krim zu ermöglichen? Mag ersteres dem
Kiewer Volkswillen entsprechen – das zweite ist wohl der Wunsch der
Krimbewohner. Ich merkte schnell, dass ich mir mit dieser Argumentation unter
meinen Kollegen keine Freunde mache und ließ das Thema dann lieber außen vor.
Wenn man bei Youtube den Suchbegriff „Krim“ eingibt, erscheint als einer der
ersten Treffer ein über zweistündiger Film des russischen Fernsehens: „Krim –
der Weg in die Heimat“ (russisch, mit deutschen Untertiteln).
„Rekonstruktionen“ der wichtigsten Ereignisse des Polit-Krimis um die Krim sind
zu sehen im Wechsel mit einem ausführlichen Interview mit Wladimir Putin. „Die
Krim wird im Bewusstsein des russischen Menschen mit den heroischen Kapitel in
unserer Geschichte assoziiert“, erfährt man. „Nach dem Staatsstreich von Kiew
verwandelten sich alle Einwohner von Sewastopol in eine Volkswehr.“ Dem sich
überall auf der Krim konstituierenden „Volksheer“ kamen die ohnehin auf dort
stationierten russischen Streitkräfte zu Hilfe. „Wir mussten um jeden Preis ein
Blutvergießen verhindern und den Menschen die Möglichkeit geben, ihre Meinung
zu äußern.“ Ein Referendum wurde anberaumt, in dem nach offiziellen Angaben
über 95% aller Teilnehmer für eine Loslösung von der Ukraine stimmten.
Ziemlich unglaubwürdig finde ich
den nun folgenden Teil des Filmes. „Das Referendum endete mit einem großen Fest
auf der ganzen Krim. Eines aber blieb unklar: Ist Russland bereit, die Krim
aufzunehmen?“ Berichtet wird nun über eine Umfrage in Russland, bei der 91% dem
Beitritt der Krim zu Russland befürworteten. Ja, dann blieb Putin ja keine
Wahl… wenn es denn der Volkswille ist! - Ein nach allen Regeln der Kunst
gemachter russischer Propagandafilm, der vorgaukelt, die Aufnahme der Krim sei
mit dem Einsatz russischer Streitkräfte zuvor nicht schon beabsichtigt gewesen.
„Von Reisen auf die Halbinsel Krim wird dringend abgeraten“, liest man auf
der Internetseite des deutschen Auswärtigen Amtes. „Die Krim gehört
völkerrechtlich weiterhin zur Ukraine, wird aber derzeit faktisch von Russland
kontrolliert.“ Über das Völkerrecht gehen die Meinungen zwischen Russland und
dem Westen in diesem Punkt auseinander, und das derzeit kann man sicher streichen: mit gigantischem Aufwand ist der
Bau einer 19 Kilometer langen Brücke über die Meerenge von Kertsch im Gange, die
die Krim „für immer“ mit dem russischen Festland verbinden soll, da die Ukraine
die Versorgungswege über Land blockiert. Die deutsche Reisewarnung hat nichts mit der
Sicherheitslage zu tun, sondern ist rein politisch motiviert.
Fast drei Jahre lang ist die Krim
nun Teil Russlands. In Couchsurfing
und in der deutschen Wikipedia wird die
neue Realität nicht akzeptiert, Jalta, Sewastopol und Simferopol werden als
„Stadt in der Ukraine“ gelistet. Stöhnen die Menschen unter den russischen
Besatzern? Jubeln sie über Putin als ihren Befreier? Oder ist ihnen egal, unter
welcher Flagge sie leben, solange Strom und Gas erschwinglich bleiben und das
Einkommen noch für das Essen reicht? Wer sind die Übeltäter, ukrainische
Nationalisten oder russische Okkupanten? Übermorgen fliege ich mit Aeroflot von
Moskau nach Simferopol und werde mich ein wenig umhören. Vorhang auf für den
Krim-Krimi!