Sonntag, 22. Januar 2017

Jalta

Obwohl eigentlich ein Liebhaber des Nordens, bin ich von Jalta auf den ersten Blick begeistert. Eine Uferpromenade mit Fächerpalmen, das majestätische Wellen schlagende Schwarze Meer, hinter den Häusern steil ansteigender Wald, oben die schneebedeckten Gipfelplateaus des Krimgebirges. Schon Tschechovs „Dame mit dem Hündchen“ ging hier spazieren. Während in Ulan-Ude mit minus 35 der sibirische Winter gerade voll zuschlägt, weht mir hier ein laues Lüftchen mit fünf Plusgraden um die Nase. Als ich gerade auf einer langen weißen Bank sitze und meine Beobachtungen im Tagebuch notiere, schreitet ein bärtiger älterer Mann mit langem schwarzem, etwas schmuddeligem Gewand vorüber, in der einen Hand einen langen Hirtenstab, in der anderen einen Plastikbecher mit klimpernden Münzen. Ich betrachte ihn interessiert, er lächelt mich gütig an und setzt sich neben mich. Eine Art Pilger oder Mönch ist er, erfahre ich, der Gottes Wort unter die Menschen bringt, im Sommer allein durch die Berge streift und dort übernachtet… Ob er zu einem orthodoxen Kloster gehört? Nein, er zähle sich zu keiner Kirche, die Spaltung in verschiedene Glaubensrichtungen müsse man überwinden. Der Mann ist mir sehr sympathisch, aus seinem Gesicht sprechen Weisheit und Menschenliebe. Sie erinnern mich ein wenig an Tolstoj, antworte ich, der ist ja auch aus der Kirche ausgetreten…
Wie hat sich Ihr Leben in den letzten drei Jahren hier… Noch während ich meine Standardfrage ausspreche, spüre ich, dass sie bei ihm nicht ganz angebracht ist. Mein Reich ist höher als euer Reich, antwortet er mit einem Bibelzitat. Schau mir in die Augen! Sein leuchtender Blick durchdringt mich. Ich – das ist in Wirklichkeit Er! Besudle deinen Körper nicht, denn dieser ist Gottes Tempel! Nur Gottes Wort soll Deine Speise sein! Der Pilger bemerkt meinen ungläubigen Blick. Ich esse fast nichts, hier und da eine Frucht, erklärt er, sich erhebend und mir zum Abschied zuwinkend. Ob das wohl einer ist, der den Weg zur legendären Lichtnahrung gefunden hat, frage ich mich und schaue seiner auf der Uferpromenade entschwindenden Gestalt hinterher, während das Tock-Tock seines Holzstabes und das Klimpern seines Münzbechers mit dem Wellenrauschen verschmelzen.

Zuerst bin ich zu Gast bei Tanja, die in einem gemütlichen kleinen Häuschen mit kleinem schmalem Gärtchen inmitten fünfgeschossiger Neubauten wohnt. In die Beete hat sie Plastikgabeln mit den Zinken nach oben gesteckt, um die Katzen abzuwehren. Tanja, eine lebhafte, rothaarige Frau etwa meinen Alters, bewirtet mich mit Suppe und Tee und erzählt mir in Kurzfassung ihre Lebensgeschichte: im letzten Jahr sind ihre Eltern gestorben, mit denen sie hier wohnte, einen Mann hat sie nicht gefunden, denn daran herrscht hier im Lande Mangel. Von 15 ihrer männlichen Klassenkameraden, mit denen sie die Schule beendet hat, führen fünf ein mehr oder weniger normales Leben, der Rest ist entweder schon tot oder in Drogen und Alkohol versumpft. Eigentlich arbeitet sie als Fremdenführerin, aber jetzt gibt es kaum noch Touristen – unter der Ukraine war es fröhlicher hier. Kreuzfahrtschiffe legen wegen der Sanktionen keine mehr an, und nur noch wenige Ukrainer fahren zum Urlaub nach Jalta. Russland versucht ja mit allen Kräften, den Tourismus hierher zu fördern, meine ich zu ihr, die Aeroflot-Tickets von Moskau nach Simferopol sind bestimmt staatlich subventioniert, nur 80 Euro hin und zurück… Tanja lacht ein wenig bitter, 80 Euro, das sei im Moment fast ihr halbes Monatsgehalt. Bevor ich gehe, zeigt sie mir Fotos von ihrem männlichen Idol, dem Schauspieler Kaspar Capparone, und bittet mich darum, sie mit einem westeuropäischen Mann bekannt zu machen, der so ähnlich aussieht.

Über Couchsurfing habe ich Lena gefunden, deren Schlafsofa ich für zwei Nächte beziehe. Die ältere, unkomplizierte Frau ist ebenfalls Fremdenführerin und gerade von einem Bergausflug zurückgekommen, allerdings nicht mit – im Moment nicht vorhandenen – Touristen, sondern mit Freunden. Wir bereiten zusammen den typisch russischen Salat Vinaigrette mit Kartoffeln und Roter Beete zu, und beim Abendbrot kann ich alle meine Fragen loswerden.

Hast Du an dem Referendum im März 2014 teilgenommen?
Na klar, ich habe für Russland gestimmt, gleich um 8 Uhr morgens, noch vor der Arbeit. Eigentlich bin ich total unpolitisch, aber da war ich zum ersten Mal bei einer Abstimmung. Vorher habe ich sogar an einer Demo teilgenommen! Irgendwelche Leute aus der Ukraine wollten uns erzählen, man müsse jetzt das Lenindenkmal wegräumen. Da haben wir uns versammelt und davorgestellt.
Denkst du, das offizielle Ergebnis von 97% Ja-Stimmen für Russland ist realistisch?
Ja, absolut.
Und niemand stand mit dem Gewehr neben der Wahlkabine und hat dir über die Schulter geschaut?
So ein Blödsinn. Am Abend, nachdem das Ergebnis bekannt war, gab es ein großes Feuerwerk, alle haben gelacht und gefeiert. Dazu hätte die Leute doch auch niemand mit der Waffe zwingen können.
Wie hat sich das Leben seitdem geändert?
Die Touristen sind weggeblieben... ansonsten eigentlich kaum.

Zwei Freundinnen von Lena haben auch für Russland abgestimmt.
War das Leben hier denn für euch so schlecht unter der Ukraine?
Ach, eigentlich war alles ganz normal, man kann nicht sagen, sie hätten uns unterdrückt. Aber dann, als die schrecklichen Ereignisse auf dem Maidan begannen und die Ukraine in die Hände der Amerikaner fiel, sind die Leute hier auf die Straße gegangen und haben sogar eine Volksbefreiungsbewegung gegründet. Alle vernünftigen Leute, die wir kennen, haben im Referendum für Russland gestimmt.

Plastikgabeln zur Katzenabwehr im Garten (oben), das Haus meiner Gastgeberin Lena (unten)


Die Uferpromenade in Jalta (oben), Lenin neben Palmen (unten)