Samstag, 2. Juli 2016

Besuch aus Deutschland



Nach insgesamt fast drei Jahren meines Lebens, die ich in Russland zugebracht habe, bin ich schon ein wenig russifiziert. Viele Merkwürdigkeiten fallen mir nicht mehr auf, für so manche aus deutscher Sicht besondere Eigenheiten ist mein Blick blind geworden, ich habe mich an alles Mögliche gewöhnt und betrachte es als selbstverständlich. Umso wertvoller sind für mich die Erfahrungen frisch angereister Landsleute, vor allem solcher, die noch nie vorher in Russland waren. Vorgestern bekam ich Besuch, Gäste der ganz besonderen Art: meine Mutter und meine 18jährige Schwester Christiane haben sich auf den Weg hierher gemacht! Nach zwei Zugstunden von Leipzig nach Berlin, zweieinhalb Stunden Flug nach Moskau, einigen Stunden Herumsitzen am Flughafen Domodedovo und sechs nächtlichen Flugstunden nach Ulan-Ude in die aufgehende Sonne hinein war es endlich soweit: ich nahm sie frühmorgens um 7 Uhr an dem kleinen Flughafen in der burjatischen Hauptstadt in Empfang.

Busse vom und zum Flughafen fahren selten, für etwas mehr als den Preis einer Busfahrkarte in Deutschland aber kann man ein Taxi nehmen. Neugierig schauten meine von der langen Reise erschöpften Gäste aus dem Fenster auf die Steppe und die kleinen Häuschen, die sich an den Flughafen anschlossen. „Ist schon irgendwie anders hier!“, stellte meine Schwester fest. „Es riecht wie in der DDR!“, meinte meine Mutter zu mir. „In Leipzig, als du klein warst, roch es genauso, genau die gleichen ungefilterten Abgase! Wahrscheinlich gefällt es dir deshalb hier so gut, weil du dich unbewusst erinnerst.“ Die Stadt lag unter einer großen Dunstglocke, auch durch die Waldbrände bedingt, was mir schon gar nicht mehr auffällt; aber zum Glück gibt es auch frische, klare Tage.

Als wir an meinem Haus in der Frunse-Straße ausstiegen, schweift Mutters Blick ungläubig an der Ziegelwand nach oben. „Und wo ist hier der Putz?“ Ich erklärte und zeigte ihr, dass es die Häuser aus der Chruschtschov-Zeit in drei Varianten gibt, alle auch hier an den Hof angrenzend zu bewundern: Platten, Putz und eben rohe Ziegel. „Warum gehen wir eigentlich durch den Hintereingang?“, fragte sie, als wir die schwere Metalltür durchschritten und in das dunkle Treppenhaus eingetreten waren. „Und das ist jetzt der Keller, oder?“ Ich konnte ein Auflachen nicht unterdrücken und bemerkte, dass wir durch die ganz normale Haustüre gegangen seien und uns natürlich im Hausflur befänden. Russische Eingänge und Treppenhäuser sind nun einmal weniger schick als in Deutschland! Die Gemütlichkeit beginnt, wenn man diese hinter sich gebracht hat, wenn man aus der Anonymität des öffentlichen Raumes in den Privatbereich übergetreten ist – in meinem Falle eine lichte, freundlich renovierte 2-Zimmer-Wohnung mit großer Wohnstube, offener Küchenecke und einem Schlafzimmer, dass ich für meine erschöpften Gäste freigeräumt hatte. „Sogar fließendes Wasser und Klospülung!“, erlaubte sich Christiane zu scherzen. „Gibt es auch noch richtiges Klopapier?“, fragte sie und hielt mir eine Rolle des grauen, einlagigen russischen Toilettenpapiers ohne Loch in der Mitte unter die Nase, das ich bereitgestellt hatte. 

Die Zeitumstellung von sechs Stunden und das lange Unterwegssein machten den beiden Frauen mächtig zu schaffen – am Tag der Ankunft waren sie kaum zu etwas zu gebrauchen, am nächsten Tag unternahmen wir erste Schritte zur Erkundung der Umgebung, spazierten durch die sonnige, heiße Stadt, tranken Kvass vom Fass und besichtigten mein Büro im Institut. Christiane kann inzwischen die meisten Buchstaben des kyrillischen Alphabetes und versuchte, die Aufschriften an Geschäften und auf Plakaten zu entziffern. Meine Mutter hatte jahrelang Russisch in der Schule gelernt, wie in der DDR üblich, und nach und nach fallen ihr immer mehr Worte ein. „Wenn ich eine Weile hier leben würde, könnte ich mich bestimmt bald unterhalten! Was heißt ‚Ich möchte Brot kaufen?‘“ Sie erinnerte sich: ‚Ja chatschú kupítch chleb‘, machte sich mit Schwesters Unterstützung auf den Weg zum ersten selbständigen Einkauf im kleinen Lebensmittelgeschäft – ‚produktóvyj magasin‘ – unten in meinem Haus und kam freudig mit einem Brot in der Hand zurück – und gleich noch mit einer Seife aus der benachbarten Drogerie dazu.