Die kleinen Unterschiede zu
Deutschland im Alltagsleben verwundern meine Gäste. „Es ist schon ungewöhnlich,
nicht zu grüßen“, meinte meine Mutter, als wir an einer Gruppe von vor meinem
Hauseingang herumstehenden Menschen vorbeigingen und ich keine Anstalten zu
einem Zdravstvuitje machte. „Was ist das eigentlich für ein Familienauto?“,
fragte meine Schwester Christiane beim Anblick einer Marshrutka an einer Haltestelle, eines jener Kleinbusse, die den
größten Teil des öffentlichen Nahverkehres in der Stadt ausmachen.
Langsam gewöhnt sich mein Besuch
an die hiesige Zeitzone. Am Sonntag schaffte es Christiane, vormittags
aufzustehen und mit mir den Gottesdienst der orthodoxen Kirche zu besuchen, die
fünf Fußminuten entfernt neben einem kärglichen Park liegt, ein schönes,
großes, weiß getünchtes Gebäude mit dem üblichen Zwiebelturm. „Ist schon
irgendwie befremdlich“, meinte sie, nachdem wir die Veranstaltung kurz vor Ende
verlassen hatten – was kein Problem ist, da die Leute später kommen und auch
eher gehen können, wenn sie wollen. Russische Orthodoxie war nicht ganz nach
dem Geschmack meiner aufgeklärten Schwester. „Demütiges Herumstehen und diese
Bilder küssen – das ist ja wie im Mittelalter. Da hat es mir bei den Buddhisten
besser gefallen!“
Am Tag zuvor hatten wir einen
Ausflug auf den Kahlen Berg
unternommen, einen Aussichtshügel am Stadtrand mit einem buddhistischen Tempel
darauf, einem Dazan. Zufällig
gerieten wir gerade in eine Art Gottesdienst: in der Mitte des Raumes saßen
Mönche in orangenen und roten Gewändern einander gegenüber, wiegten sich hin-
und her und sangen ihre Mantras mit tiefen, kehligen Stimmen. Die
Gemeindemitglieder saßen mit gefalteten Händen auf Holzbänken, einige machten
im Uhrzeigersinn ihre Runde durch den Dazan, wobei sie dem großen vergoldeten
Buddha an der Stirnseite des Raumes möglichst nicht den Rücken zudrehten. Auf
verschiedenen Ablagen konnten Lebensmittel und Münzen dargebracht werden, wobei
überall Schilder dazu aufforderten, bitte keine Reiskörner zu opfern. – Um das
Gelände herum, am Waldrand entlang führt ein Umgang, vorbei an zwölf Lauben,
die jeweils einem der 12 Tiere zugeordnet sind, die im östlichen Kalender für
bestimmte Jahre stehen. Nachdem wir diesen entlang gegangen und unsere Jahre
gefunden hatten – Mutter: Jahr des Hundes, Christiane: Jahr des Tigers, ich:
Jahr des Schafes – besuchten wir den Shop mit allerlei Gläubigen-Bedarf. Da ich
nicht wusste, was Adlerholz-Räucherstäbchen
auf Russisch heißt, nahm Mutter von diesem Kaufwunsch Abstand und entschied
sich für ein großes Gummi-Ohr mit eingezeichneten Akkupunktur-Feldern
entsprechend der chinesischen Medizin.
„Ich möchte gern auch mal
trampen!“, verkündete meine Schwester, als wir eines heißen Nachmittags kalten
Kwass schlürfend zusammensaßen. Gestern fuhr ich mit ihr im Kleinbus nach
Gremjatschinsk, dem ersten Ort am Baikalsee, wenn man von Ulan-Ude aus nach
Norden fährt. Eine 1000-Einwohner-Siedlung, schicke Häuschen mit schönen
geschnitzten Fensterläden, Ziegen und Kühe auf der Straße und kaum ein Mensch,
nichts für Christiane. „Hier möchte ich nicht leben, das wäre mir entschieden
zu einsam. Warum grüßt du eigentlich schon wieder nicht?“ Zwei angetrunkene Gestalten
waren Guten-Tag-sagend an uns vorbeigewankt, zu denen ich keinen Kontakt
aufbauen wollte.
Wenig später – auf das Baden
hatten wir wegen dem Wind und der regenschwangeren Wolken verzichtet – standen wir
schon wieder an der Straße und hielten die Daumen heraus, um Schwesters Traum
vom Trampen zu erfüllen. „Ein wenig komme ich mir vor wie Betteln“, meinte sie.
Ich wies sie an, den Arm einzuziehen, wenn ein Linienbus kommt, schließlich
wollten wir ja kostenlos mitgenommen werden, ein Bus würde uns als normale
Passagiere aufnehmen und Geld verlangen. Wir standen gerade mal drei Minuten,
da hielt ein großer leerer Reisebus, ohne dass wir ein Signal gegeben hätten. „Auch
in die Stadt? Los, steigt ein!“ Die Sonne kam wieder heraus und hüllte die
taigabedeckten Hügel nach dem gerade vergangenen Regen in dichte Nebelschwaden.
Langsam zuckelten wir nach Ulan-Ude zurück. Christianes Gesicht spiegelte ihre
Enttäuschung wieder. „Das wars schon? Irgendwie hatte ich mir Trampen
spannender vorgestellt: verrückte Fahrer, langes Warten, umsteigen und so!“
In unserer Abwesenheit unternahm
Mutter ihren ersten eigenen Spaziergang in der Umgebung. Als Liebhaberin von
Gärten und schönen Farben kam sie nicht ganz auf ihre Kosten, der armselige
Sandboden der burjatischen Steppe gibt wenig her, ein paar angepflanzte
Blümchen hier und da, ansonsten überwiegt ein gelblich-grauer Ton. „Ist schon
etwas trostlos hier. Irgendwie fehlt auch der Sinn für Schönheit, wenn es über
die eigene Person hinausgeht. Die Frauen – perfekt gekleidet und selbstbewusst im
Auftreten, aber die Straßen - alles so halb heruntergekommen…“
Christiane ist fleißig mit dem
Postkartenschreiben beschäftigt. In etwa drei Wochen sollten diese in
Deutschland sein. Sie bedankte sich bei mir für das vor einiger Zeit geschickte
Geburtstagspäckchen, wies mich aber auf die alten, längst abgelaufenen
Pinienkerne hin, die ich ihr geschickt hatte, nicht wissend, dass auf russischen
Lebensmitteln nicht das Mindesthaltbarkeits-, sondern das Produktionsdatum aufgedruckt ist.
Gebetsfahnen auf dem Kahlen Berg und ein Blick ins Innere des Tempels (oben), der Rundgang mit den Tierjahres-Lauben (unten) |
Meine Schwester am Baikalsee |