Dienstag, 5. Juli 2016

Gästeprogramm



Die kleinen Unterschiede zu Deutschland im Alltagsleben verwundern meine Gäste. „Es ist schon ungewöhnlich, nicht zu grüßen“, meinte meine Mutter, als wir an einer Gruppe von vor meinem Hauseingang herumstehenden Menschen vorbeigingen und ich keine Anstalten zu einem  Zdravstvuitje machte. „Was ist das eigentlich für ein Familienauto?“, fragte meine Schwester Christiane beim Anblick einer Marshrutka an einer Haltestelle, eines jener Kleinbusse, die den größten Teil des öffentlichen Nahverkehres in der Stadt ausmachen.

Langsam gewöhnt sich mein Besuch an die hiesige Zeitzone. Am Sonntag schaffte es Christiane, vormittags aufzustehen und mit mir den Gottesdienst der orthodoxen Kirche zu besuchen, die fünf Fußminuten entfernt neben einem kärglichen Park liegt, ein schönes, großes, weiß getünchtes Gebäude mit dem üblichen Zwiebelturm. „Ist schon irgendwie befremdlich“, meinte sie, nachdem wir die Veranstaltung kurz vor Ende verlassen hatten – was kein Problem ist, da die Leute später kommen und auch eher gehen können, wenn sie wollen. Russische Orthodoxie war nicht ganz nach dem Geschmack meiner aufgeklärten Schwester. „Demütiges Herumstehen und diese Bilder küssen – das ist ja wie im Mittelalter. Da hat es mir bei den Buddhisten besser gefallen!“

Am Tag zuvor hatten wir einen Ausflug auf den Kahlen Berg unternommen, einen Aussichtshügel am Stadtrand mit einem buddhistischen Tempel darauf, einem Dazan. Zufällig gerieten wir gerade in eine Art Gottesdienst: in der Mitte des Raumes saßen Mönche in orangenen und roten Gewändern einander gegenüber, wiegten sich hin- und her und sangen ihre Mantras mit tiefen, kehligen Stimmen. Die Gemeindemitglieder saßen mit gefalteten Händen auf Holzbänken, einige machten im Uhrzeigersinn ihre Runde durch den Dazan, wobei sie dem großen vergoldeten Buddha an der Stirnseite des Raumes möglichst nicht den Rücken zudrehten. Auf verschiedenen Ablagen konnten Lebensmittel und Münzen dargebracht werden, wobei überall Schilder dazu aufforderten, bitte keine Reiskörner zu opfern. – Um das Gelände herum, am Waldrand entlang führt ein Umgang, vorbei an zwölf Lauben, die jeweils einem der 12 Tiere zugeordnet sind, die im östlichen Kalender für bestimmte Jahre stehen. Nachdem wir diesen entlang gegangen und unsere Jahre gefunden hatten – Mutter: Jahr des Hundes, Christiane: Jahr des Tigers, ich: Jahr des Schafes – besuchten wir den Shop mit allerlei Gläubigen-Bedarf. Da ich nicht wusste, was Adlerholz-Räucherstäbchen auf Russisch heißt, nahm Mutter von diesem Kaufwunsch Abstand und entschied sich für ein großes Gummi-Ohr mit eingezeichneten Akkupunktur-Feldern entsprechend der chinesischen Medizin.

„Ich möchte gern auch mal trampen!“, verkündete meine Schwester, als wir eines heißen Nachmittags kalten Kwass schlürfend zusammensaßen. Gestern fuhr ich mit ihr im Kleinbus nach Gremjatschinsk, dem ersten Ort am Baikalsee, wenn man von Ulan-Ude aus nach Norden fährt. Eine 1000-Einwohner-Siedlung, schicke Häuschen mit schönen geschnitzten Fensterläden, Ziegen und Kühe auf der Straße und kaum ein Mensch, nichts für Christiane. „Hier möchte ich nicht leben, das wäre mir entschieden zu einsam. Warum grüßt du eigentlich schon wieder nicht?“ Zwei angetrunkene Gestalten waren Guten-Tag-sagend an uns vorbeigewankt, zu denen ich keinen Kontakt aufbauen wollte. 

Wenig später – auf das Baden hatten wir wegen dem Wind und der regenschwangeren Wolken verzichtet – standen wir schon wieder an der Straße und hielten die Daumen heraus, um Schwesters Traum vom Trampen zu erfüllen. „Ein wenig komme ich mir vor wie Betteln“, meinte sie. Ich wies sie an, den Arm einzuziehen, wenn ein Linienbus kommt, schließlich wollten wir ja kostenlos mitgenommen werden, ein Bus würde uns als normale Passagiere aufnehmen und Geld verlangen. Wir standen gerade mal drei Minuten, da hielt ein großer leerer Reisebus, ohne dass wir ein Signal gegeben hätten. „Auch in die Stadt? Los, steigt ein!“ Die Sonne kam wieder heraus und hüllte die taigabedeckten Hügel nach dem gerade vergangenen Regen in dichte Nebelschwaden. Langsam zuckelten wir nach Ulan-Ude zurück. Christianes Gesicht spiegelte ihre Enttäuschung wieder. „Das wars schon? Irgendwie hatte ich mir Trampen spannender vorgestellt: verrückte Fahrer, langes Warten, umsteigen und so!“

In unserer Abwesenheit unternahm Mutter ihren ersten eigenen Spaziergang in der Umgebung. Als Liebhaberin von Gärten und schönen Farben kam sie nicht ganz auf ihre Kosten, der armselige Sandboden der burjatischen Steppe gibt wenig her, ein paar angepflanzte Blümchen hier und da, ansonsten überwiegt ein gelblich-grauer Ton. „Ist schon etwas trostlos hier. Irgendwie fehlt auch der Sinn für Schönheit, wenn es über die eigene Person hinausgeht. Die Frauen – perfekt gekleidet und selbstbewusst im Auftreten, aber die Straßen - alles so halb heruntergekommen…“

Christiane ist fleißig mit dem Postkartenschreiben beschäftigt. In etwa drei Wochen sollten diese in Deutschland sein. Sie bedankte sich bei mir für das vor einiger Zeit geschickte Geburtstagspäckchen, wies mich aber auf die alten, längst abgelaufenen Pinienkerne hin, die ich ihr geschickt hatte, nicht wissend, dass auf russischen Lebensmitteln nicht das Mindesthaltbarkeits-, sondern das Produktionsdatum aufgedruckt ist.

Gebetsfahnen auf dem Kahlen Berg und ein Blick ins Innere des Tempels (oben), der Rundgang mit den Tierjahres-Lauben (unten)
Meine Schwester am Baikalsee