Unseren ersten gemeinsamen
Ausflug an den Baikalsee unternahmen wir nach Gorjátschinsk, den berühmten
Kurort mit dem Sanatorium, dessen Herzstück eine heiße Schwefelquelle bildet,
die ich bereits im Herbst Gelegenheit hatte zu besuchen. Meine Bedenken, dass
die dreistündige Busfahrt dorthin für meine Mutter anstrengend und unbequem
sein könnte, erwiesen sich als unbegründet. Vor dem Aussteigen meinte sie, dass
sie eigentlich noch eine ganze Weile so weiterfahren könne. An einem Imbiss am
Fluss Chaim legte der Fahrer eine
Pause ein, wie üblich ohne jede Ansage bezüglich ihrer Dauer; es versteht sich
von selbst, dass die Fahrt dann fortgesetzt wird, wenn es alle geschafft haben,
etwas zu essen. Meine Schwester ist Vegetarierin und die russische Küche eher
fleischhaltig, aber da die warmen Mahlzeiten aus verschiedenen Komponenten
bestehen, ist es nicht schwer, das Fleisch einfach wegzulassen. Ich bestellte
Möhrensalat mit Knoblauch, Bliný (Eierkuchen,
außerhalb Sachsens Pfannkuchen genannt), für mich Borschtsch mit Brot und für Mutter
Posy, das burjatische Nationalgericht, eine Art große, fleischgefüllte
Teigtaschen. In einer neuen Gegend müsse sie die Landschaft unbedingt auch schmecken, meinte sie genüsslich.
Bei meinem Besuch im Herbst war
es im Sanatorium ziemlich leer gewesen. Jetzt, in der Hochsaison, wohnen dort,
auf verschiedene in dem Waldgrundstück stehende Holzhäuser verteilt, 400
Kurgäste. Dort, wo die heiße Schwefel-Kiesel-Quelle aus der Erde tritt, setzten
wir uns auf ein Brett ans Wasser und benetzten unsere Füße mit dem heilenden
Nass. Der schlammige Grund dort ist so heiß, dass man sich ernsthaft verbrühen
würde, wenn man aus Versehen hineinrutscht. Der deutsche TÜV würde so ein Sitz-Provisorium
wohl niemals genehmigen; aber die heißen Quellen sind nicht in seiner
Reichweite. Maximal 15 Minuten soll man sich dem Schwefelwasser aussetzen und
danach keinesfalls sofort im kühlen Baikalsee baden, so will es die Regel.
Zum Baikal gelangt man durch einen
Kiefernwald, vorbei an ätherisch-harzig riechendem, weiß blühendem Sumpfporst
und viel Heidelbeergestrüpp, allerdings ohne dass wir eine einzige Beere
gefunden hätten. Nach dem Passieren eines Verpackungsmüllberges und dem
Erklimmen einer hohen Sanddüne erfreute der friedliche, sonnenbeschienene See
unsere Augen, mit den im Dunst verschwimmenden Bergen der Insel Olchon am
anderen Ufer.
Wir übernachteten in einem ganz
ruhigen Gästehaus und frühstückten auch dort: Brot und Käse, Gersten-Milchbrei,
wieder Bliny, Schwarztee mit Zitrone. Mutters Blick fiel auf den streng
geflochtenen Zopf eines kleinen Mädchens am Nachbartisch, und sie bemerkte,
dass ihr die Kinder hier allgemein ruhiger und besser erzogen vorkommen als in
Deutschland, wo sie sich doch mitunter sehr frei benehmen und ihren Eltern auf
der Nase herumtanzen würden.
Vor der Rückfahrt besuchten wir
noch das sanatoriumseigene kleine Museum, was von der Geschichte des Ortes erzählte.
Vom nördlich gelegenen Bargusin aus kommende Jäger hatten einen verletzten Hund
bei sich, der im Schwefelsee badete. Die Jäger zogen ohne ihn weiter. Als sie
auf dem Rückweg wieder vorbeikamen, war der Hund gesund. So wurde die
Gorjatschinsker Heilquelle entdeckt. Die sich neben dem Museum befindliche
Bibliothek wird fleißig genutzt von Schülern, die ihr Ferien-Lesepensum
absolvieren müssen, das sie vor Ende des Schuljahres von den Lehrern
aufbekommen. Die diensthabende Dame gab uns eine kleine Privatführung und
meinte, wir wären die ersten Deutschen in diesem Sommer; zwei Franzosen hätte
sie schon gesehen, die sich einer Heilfastenkur unterzogen hätten, was es bei
ihnen in Europa so nicht gäbe. Ziemlich alt und staubig sei alles hier, befand
meine junge Schwester und war froh, als wir das Holzhäuschen wieder verließen.
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In dieser Woche habe ich einen
Vormittag in meinem Institut verbracht und dort das Aufräumen der großen
deutschen Bibliothek fortgesetzt, die eher unfreiwillig auch einem Museum
ähnelte. Unser Lehrstuhl ist stolz auf sie: Die größte deutsche Bibliothek in
ganz Sibirien, heißt es, zwei bis zur Decke reichende, jeweils eine komplette
Wand bedeckende Schränke, angefüllt mit Fachbüchern und Belletristik. Leider
gibt und gab es niemanden, der hier Ordnung hält. Die Bücher standen in drei
Reihen hintereinandergestopft, noch unausgepackte Buch- und Zeitschriftenpakete
lagen dazwischen, ungefähr die Hälfte der Fachliteratur konnte man als
hoffnungslos veraltet und entsorgungswürdig einordnen. So trat ich denn auch
mit einer gefüllten Bananenkiste wieder und wieder den Gang zum Müllcontainer
hinter dem Gebäude an. Ich hatte mir vorher von der Lehrstuhlleiterin die
Genehmigung geholt, in der Bibliothek Ordnung zu schaffen, ihr aber nichts
davon erzählt, dass das mit etwa 20 Kisten Entmüllung verbunden sein würde. Ich
bin mir sicher, dass keiner etwas merkt, weil niemand einen Überblick hatte,
was eigentlich an Beständen da war und die Schränke jetzt hinterher noch
genauso voll aussehen wie vorher. Manche Literatur ist so alt, dass ich sie aus
antiquarischen Gründen aufhob: „Sibirien – die Perle der UdSSR“, „Reiseführer Berlin
– die Hauptstadt unserer DDR“ und so weiter.
Ansonsten versuche ich, weniger
zu arbeiten und nehme mir Zeit für die Gäste: einer Einladung ins
Einfamilienhaus meiner burjatischen Institutsdirektorin Polina sind wir
gefolgt, und die junge Deutschlehrerin Nastja gab uns eine Stadtführung durch
Ulan-Ude, bei der ich lernte, dass man früher an der Fenstergröße den Reichtum
der Hausbesitzer ablesen konnte: große Fenster bedeuten im Winter viel heizen,
und das konnten sich nur wenige leisten.
Bei Polina im Garten |
Stadtführung mit Nastja: in der Fußgängerzone |
Gorjátschinsk: Fußbad in der Thermalquelle |
Am Baikal |
Frühstück im Gästehaus: Gerstenbrei, Käsebrot und Bliný |
Bibliothek und Museum im Sanatorium |