Freitag, 8. Juli 2016

Baikal, Bliný, Bibliotheken



Unseren ersten gemeinsamen Ausflug an den Baikalsee unternahmen wir nach Gorjátschinsk, den berühmten Kurort mit dem Sanatorium, dessen Herzstück eine heiße Schwefelquelle bildet, die ich bereits im Herbst Gelegenheit hatte zu besuchen. Meine Bedenken, dass die dreistündige Busfahrt dorthin für meine Mutter anstrengend und unbequem sein könnte, erwiesen sich als unbegründet. Vor dem Aussteigen meinte sie, dass sie eigentlich noch eine ganze Weile so weiterfahren könne. An einem Imbiss am Fluss Chaim legte der Fahrer eine Pause ein, wie üblich ohne jede Ansage bezüglich ihrer Dauer; es versteht sich von selbst, dass die Fahrt dann fortgesetzt wird, wenn es alle geschafft haben, etwas zu essen. Meine Schwester ist Vegetarierin und die russische Küche eher fleischhaltig, aber da die warmen Mahlzeiten aus verschiedenen Komponenten bestehen, ist es nicht schwer, das Fleisch einfach wegzulassen. Ich bestellte Möhrensalat mit Knoblauch, Bliný (Eierkuchen, außerhalb Sachsens Pfannkuchen genannt), für mich Borschtsch mit Brot und für Mutter Posy, das burjatische Nationalgericht, eine Art große, fleischgefüllte Teigtaschen. In einer neuen Gegend müsse sie die Landschaft unbedingt auch schmecken, meinte sie genüsslich.

Bei meinem Besuch im Herbst war es im Sanatorium ziemlich leer gewesen. Jetzt, in der Hochsaison, wohnen dort, auf verschiedene in dem Waldgrundstück stehende Holzhäuser verteilt, 400 Kurgäste. Dort, wo die heiße Schwefel-Kiesel-Quelle aus der Erde tritt, setzten wir uns auf ein Brett ans Wasser und benetzten unsere Füße mit dem heilenden Nass. Der schlammige Grund dort ist so heiß, dass man sich ernsthaft verbrühen würde, wenn man aus Versehen hineinrutscht. Der deutsche TÜV würde so ein Sitz-Provisorium wohl niemals genehmigen; aber die heißen Quellen sind nicht in seiner Reichweite. Maximal 15 Minuten soll man sich dem Schwefelwasser aussetzen und danach keinesfalls sofort im kühlen Baikalsee baden, so will es die Regel.

Zum Baikal gelangt man durch einen Kiefernwald, vorbei an ätherisch-harzig riechendem, weiß blühendem Sumpfporst und viel Heidelbeergestrüpp, allerdings ohne dass wir eine einzige Beere gefunden hätten. Nach dem Passieren eines Verpackungsmüllberges und dem Erklimmen einer hohen Sanddüne erfreute der friedliche, sonnenbeschienene See unsere Augen, mit den im Dunst verschwimmenden Bergen der Insel Olchon am anderen Ufer.

Wir übernachteten in einem ganz ruhigen Gästehaus und frühstückten auch dort: Brot und Käse, Gersten-Milchbrei, wieder Bliny, Schwarztee mit Zitrone. Mutters Blick fiel auf den streng geflochtenen Zopf eines kleinen Mädchens am Nachbartisch, und sie bemerkte, dass ihr die Kinder hier allgemein ruhiger und besser erzogen vorkommen als in Deutschland, wo sie sich doch mitunter sehr frei benehmen und ihren Eltern auf der Nase herumtanzen würden.

Vor der Rückfahrt besuchten wir noch das sanatoriumseigene kleine Museum, was von der Geschichte des Ortes erzählte. Vom nördlich gelegenen Bargusin aus kommende Jäger hatten einen verletzten Hund bei sich, der im Schwefelsee badete. Die Jäger zogen ohne ihn weiter. Als sie auf dem Rückweg wieder vorbeikamen, war der Hund gesund. So wurde die Gorjatschinsker Heilquelle entdeckt. Die sich neben dem Museum befindliche Bibliothek wird fleißig genutzt von Schülern, die ihr Ferien-Lesepensum absolvieren müssen, das sie vor Ende des Schuljahres von den Lehrern aufbekommen. Die diensthabende Dame gab uns eine kleine Privatführung und meinte, wir wären die ersten Deutschen in diesem Sommer; zwei Franzosen hätte sie schon gesehen, die sich einer Heilfastenkur unterzogen hätten, was es bei ihnen in Europa so nicht gäbe. Ziemlich alt und staubig sei alles hier, befand meine junge Schwester und war froh, als wir das Holzhäuschen wieder verließen. -

In dieser Woche habe ich einen Vormittag in meinem Institut verbracht und dort das Aufräumen der großen deutschen Bibliothek fortgesetzt, die eher unfreiwillig auch einem Museum ähnelte. Unser Lehrstuhl ist stolz auf sie: Die größte deutsche Bibliothek in ganz Sibirien, heißt es, zwei bis zur Decke reichende, jeweils eine komplette Wand bedeckende Schränke, angefüllt mit Fachbüchern und Belletristik. Leider gibt und gab es niemanden, der hier Ordnung hält. Die Bücher standen in drei Reihen hintereinandergestopft, noch unausgepackte Buch- und Zeitschriftenpakete lagen dazwischen, ungefähr die Hälfte der Fachliteratur konnte man als hoffnungslos veraltet und entsorgungswürdig einordnen. So trat ich denn auch mit einer gefüllten Bananenkiste wieder und wieder den Gang zum Müllcontainer hinter dem Gebäude an. Ich hatte mir vorher von der Lehrstuhlleiterin die Genehmigung geholt, in der Bibliothek Ordnung zu schaffen, ihr aber nichts davon erzählt, dass das mit etwa 20 Kisten Entmüllung verbunden sein würde. Ich bin mir sicher, dass keiner etwas merkt, weil niemand einen Überblick hatte, was eigentlich an Beständen da war und die Schränke jetzt hinterher noch genauso voll aussehen wie vorher. Manche Literatur ist so alt, dass ich sie aus antiquarischen Gründen aufhob: „Sibirien – die Perle der UdSSR“, „Reiseführer Berlin – die Hauptstadt unserer DDR“ und so weiter.

Ansonsten versuche ich, weniger zu arbeiten und nehme mir Zeit für die Gäste: einer Einladung ins Einfamilienhaus meiner burjatischen Institutsdirektorin Polina sind wir gefolgt, und die junge Deutschlehrerin Nastja gab uns eine Stadtführung durch Ulan-Ude, bei der ich lernte, dass man früher an der Fenstergröße den Reichtum der Hausbesitzer ablesen konnte: große Fenster bedeuten im Winter viel heizen, und das konnten sich nur wenige leisten.

Bei Polina im Garten
Stadtführung mit Nastja: in der Fußgängerzone
Gorjátschinsk: Fußbad in der Thermalquelle
Am Baikal
Frühstück im Gästehaus: Gerstenbrei, Käsebrot und Bliný
Bibliothek und Museum im Sanatorium