Mit einem Sprung auf den
Gleisbett-Schotter begann unser Wochenende in Tanchoi, einer kleinen Siedlung
an der Küste des Baikals, wohin wir vor der drückenden Hitze im staubigen, schwülen
Ulan-Ude fliehen wollten. Da der Bahnsteig sehr viel kürzer war als der Zug,
sprangen wir einfach ins Nirgendwo von dem hohen Wagen herunter, nachdem uns
die Zugbegleiterin die Tür geöffnet und die Treppe ausgeklappt hatte. Uns
empfing das satte Grün der Vegetation und Regen; Tanchoi, am Südostufer
gelegen, gehört zu den niederschlagsreichsten Orten am See.
Ich habe insgesamt einige Wochen
meines Lebens in russischen Zügen zugebracht und wollte, dass auch meine Mutter
und Schwester Christiane einmal die Transsibirische Eisenbahn kennenlernen. Unser
Zug kam aus dem Osten, von Tschita, und würde noch über drei Tage weiter
fahren, nach Moskau; wir erlebten einen kleinen, vierstündigen Ausschnitt der
Strecke: aus dem Fenster schauende Omas, lesende Enkelkinder, schlafende junge
Kerle, zwischendurch der Gang zum Heißwasserkessel, um anschließend aus den –
kostenlos für die Dauer der Fahrt erhaltenen – typischen russischen, in einer
Metalleinfassung stehenden Eisenbahngläsern Tee zu schlürfen. An uns vorbeiziehend
malerische Berge und Steppe, dann das Ufer, kleine Holzhäuser, die wohl auch zu
Dostojewskijs Zeiten schon so aussahen. Neben mir saßen zwei bis Irkutsk
fahrende Omis, die sich für die Stricknadeln meiner Mutter interessierten:
nicht aus Holz (zerbricht leicht), und nicht aus Metall (tut an der Hand weh),
sondern aus Bambus, erklärte diese. „Du hast eine schöne Mutter und Schwester“, rief mir die eine Omi hinterher, bevor wir ausstiegen.
Mit uns unterwegs war meine aus
Tadschikistan stammende Freundin Niso, zwei Jahre jünger als ich, einen halben
Kopf kleiner, mit langem kastanienbraunen Haar und zierlich geschnittenem
Gesicht, die ich beim Tangotanzen kennengelernt habe und mit der ich vor etwa 4
Monaten zusammengekommen bin. Niso hat mit meinen Verwandten keine gemeinsame
Sprache, was der guten Stimmung in unserer kleinen Gruppe keinen Abbruch tat. Wenn
nötig, konnte ich dolmetschen, wobei es Christiane interessant fand
festzustellen, was von ihren Worten
ich für wichtig hielt und was für offensichtlich weniger bedeutsam, da ich es
nicht übersetzte. „Eine hübsche Freundin hast du dir ausgesucht, die musst du
unbedingt behalten“, meinte sie zu mir. Mutter betrachtete unterwegs
interessiert Nisos rötlich-golden schimmernden Ohrschmuck: das Gold in Russland
hat viel häufiger eine kupferne Farbnote als in Deutschland.
Nachdem wir unser Viererzimmer im
Gästehaus bezogen hatten, begaben wir uns ins Verwaltungsgebäude des Baikalskij zapovjednik, des hinter
Tanchoi beginnenden großen Naturschutzgebietes, dessen Betreten ohne
Genehmigung und Führer nicht gestattet ist. Dort mussten wir uns für eine
ziemlich unverschämte Verwaltungsgebühr von 500 Rubeln pro Person als Ausländer
registrieren lassen und besuchten ein kleines Naturkundemuseum mit sorgfältig
ausgestopften und ordentlich beschrifteten Tieren der Region: Wolf,
Streifenhörnchen, Zobel, Vielfraß. „Vielen Dank für die interessante,
anschauliche Ausstellung“, schrieb ich hinterher auf Deutsch ins Gästebuch,
darunter das Gleiche nochmal auf Russisch. So einen positiven Standard-Spruch
hätte ich doch im letzten Museum auch schon geschrieben, meinte Christiane und
formulierte: „Tote Tiere – nein danke! Es sollte doch um ihren Schutz gehen und
nicht um ihr Zurschaustellen.“ Da ich keine Anstalten machte, ihre Eintragung
zu übersetzen, ergänzte sie noch auf Englisch „Dead animals – no thanks!“
Im strömenden Regen liefen wir
anschließend noch eine Runde entlang eines rollstuhlgerecht ausgebauten Wanderweges
durch die Taiga, vorbei an Heidelbeergestrüpp und Sibirischen Zirbelkiefern
sowie an einem Sumpfgebiet mit Knabenkraut und Wollgras. Der nächste Tag war
trocken und wir konnten dann endlich im Baikalsee baden an einem Strand ohne
Muscheln und Bernsteine, dafür mit wunderschönen rundgeschliffenen, kleinen
farbigen Kieseln. Christiane versuchte Niso das Schwimmen beizubringen, die es
nie gelernt hat, da es an tadschikischen und russischen Schulen nicht zum
Lehrplan gehört. Ich zeigte meinen Mitreisenden die sich schwach im Dunst am
anderen Ufer abzeichnende Stelle, wo die breite Angara den Baikal verlässt,
sein einziger Abfluss.
Zurück fuhren wir im Coupé,
hatten also ein geschlossenes Viererabteil für uns. Ausgesprochen gemütlich und
komfortabel sei es, befand Mutter und wäre gern noch viel länger
weitergefahren. An einem der Zwei-Minuten-Haltepunkte kaufte ich, ohne
Auszusteigen durch die Tür, einer Frau ein Glas sauer schmeckende Zhimolost‘- Beeren ab. Die Gattung ist
in Deutschland als Heckenkirsche oder Jelängerjelieber bekannt, der Verzehr der
Früchte aber nicht üblich. Ich vertiefte mich unterwegs in die Lektüre des
Buches einer Hamburger Programmiererin, die ihr Stadtleben gegen das Dasein in
einem sibirischen Dorf an der Seite eines ewenkischen Jägers eingetauscht hat
(Karin Haß: Fremde Heimat Sibirien), eine großartige Beschreibung von Natur und
Menschen. Zwei Drittel der Dorfbewohner sind Alkoholiker, erzählt die Autorin;
in Russland ist es verbreitet, sich eine Injektion verpassen zu lassen („zakodirovat‘ ot alkogolisma“ – „gegen
Alkohol codieren“), nach welcher der Körper extrem abweisend auf
Hochprozentiges reagiert, die aber auch den Tod zur Folge haben kann, wenn man
trotzdem weitertrinkt.
Übermorgen geht es für uns drei über
Moskau zurück nach Deutschland. Zuvor war noch ein Besuch im sich unten im Haus
befindlichen Schönheits-Salon angesagt, wo sich meine Gäste die Haare schneiden
ließen und dabei meine Übersetzer-Dienste in Anspruch nahmen: „Stufenschnitt“
und „Splissige Enden entfernen“ erklärte ich den beiden zierlichen, hübschen
Burjatinnen, die schnell und sicher ihre Arbeit taten zu umgerechnet einem
Fünftel des in Deutschland üblichen Preises. Christiane wurde für ihre hier
sehr unübliche, leuchtend rote Haarfarbe bewundert.
Heute Abend möchte meine
Schwester mit mir ein Bier trinken gehen. Dazu isst man in Russland
üblicherweise getrockneten Fisch. Da ich keinen Alkohol trinke und meine
Schwester keinen Fisch isst, werden wir uns entsprechend aufteilen. Ich stelle
mir uns bereits lebhaft vor, in der spartanisch eingerichteten Bierbar einander gegenüber sitzend, Christiane russisches Bier
schlürfend und ich am Trockenfisch nagend.
Transsibirische Eisenbahn: im Offenen Großraumwagen |
Nach dem Sprung auf den Gleisbett-Schotter: Angekommen in Tanchoi |
In der Taiga im Regen |
Niso und ich |
Kiesel am Baikal-Strand |
Hütten in Tanchoi |
Meine Schwester auf der Rückfahrt im Coupé |
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