Montag, 11. Juli 2016

Transsib, Taiga, tote Tiere



Mit einem Sprung auf den Gleisbett-Schotter begann unser Wochenende in Tanchoi, einer kleinen Siedlung an der Küste des Baikals, wohin wir vor der drückenden Hitze im staubigen, schwülen Ulan-Ude fliehen wollten. Da der Bahnsteig sehr viel kürzer war als der Zug, sprangen wir einfach ins Nirgendwo von dem hohen Wagen herunter, nachdem uns die Zugbegleiterin die Tür geöffnet und die Treppe ausgeklappt hatte. Uns empfing das satte Grün der Vegetation und Regen; Tanchoi, am Südostufer gelegen, gehört zu den niederschlagsreichsten Orten am See.

Ich habe insgesamt einige Wochen meines Lebens in russischen Zügen zugebracht und wollte, dass auch meine Mutter und Schwester Christiane einmal die Transsibirische Eisenbahn kennenlernen. Unser Zug kam aus dem Osten, von Tschita, und würde noch über drei Tage weiter fahren, nach Moskau; wir erlebten einen kleinen, vierstündigen Ausschnitt der Strecke: aus dem Fenster schauende Omas, lesende Enkelkinder, schlafende junge Kerle, zwischendurch der Gang zum Heißwasserkessel, um anschließend aus den – kostenlos für die Dauer der Fahrt erhaltenen – typischen russischen, in einer Metalleinfassung stehenden Eisenbahngläsern Tee zu schlürfen. An uns vorbeiziehend malerische Berge und Steppe, dann das Ufer, kleine Holzhäuser, die wohl auch zu Dostojewskijs Zeiten schon so aussahen. Neben mir saßen zwei bis Irkutsk fahrende Omis, die sich für die Stricknadeln meiner Mutter interessierten: nicht aus Holz (zerbricht leicht), und nicht aus Metall (tut an der Hand weh), sondern aus Bambus, erklärte diese. „Du hast eine schöne Mutter und Schwester“, rief mir die eine Omi hinterher, bevor wir ausstiegen.

Mit uns unterwegs war meine aus Tadschikistan stammende Freundin Niso, zwei Jahre jünger als ich, einen halben Kopf kleiner, mit langem kastanienbraunen Haar und zierlich geschnittenem Gesicht, die ich beim Tangotanzen kennengelernt habe und mit der ich vor etwa 4 Monaten zusammengekommen bin. Niso hat mit meinen Verwandten keine gemeinsame Sprache, was der guten Stimmung in unserer kleinen Gruppe keinen Abbruch tat. Wenn nötig, konnte ich dolmetschen, wobei es Christiane interessant fand festzustellen, was von ihren Worten ich für wichtig hielt und was für offensichtlich weniger bedeutsam, da ich es nicht übersetzte. „Eine hübsche Freundin hast du dir ausgesucht, die musst du unbedingt behalten“, meinte sie zu mir. Mutter betrachtete unterwegs interessiert Nisos rötlich-golden schimmernden Ohrschmuck: das Gold in Russland hat viel häufiger eine kupferne Farbnote als in Deutschland.

Nachdem wir unser Viererzimmer im Gästehaus bezogen hatten, begaben wir uns ins Verwaltungsgebäude des Baikalskij zapovjednik, des hinter Tanchoi beginnenden großen Naturschutzgebietes, dessen Betreten ohne Genehmigung und Führer nicht gestattet ist. Dort mussten wir uns für eine ziemlich unverschämte Verwaltungsgebühr von 500 Rubeln pro Person als Ausländer registrieren lassen und besuchten ein kleines Naturkundemuseum mit sorgfältig ausgestopften und ordentlich beschrifteten Tieren der Region: Wolf, Streifenhörnchen, Zobel, Vielfraß. „Vielen Dank für die interessante, anschauliche Ausstellung“, schrieb ich hinterher auf Deutsch ins Gästebuch, darunter das Gleiche nochmal auf Russisch. So einen positiven Standard-Spruch hätte ich doch im letzten Museum auch schon geschrieben, meinte Christiane und formulierte: „Tote Tiere – nein danke! Es sollte doch um ihren Schutz gehen und nicht um ihr Zurschaustellen.“ Da ich keine Anstalten machte, ihre Eintragung zu übersetzen, ergänzte sie noch auf Englisch „Dead animals – no thanks!“

Im strömenden Regen liefen wir anschließend noch eine Runde entlang eines rollstuhlgerecht ausgebauten Wanderweges durch die Taiga, vorbei an Heidelbeergestrüpp und Sibirischen Zirbelkiefern sowie an einem Sumpfgebiet mit Knabenkraut und Wollgras. Der nächste Tag war trocken und wir konnten dann endlich im Baikalsee baden an einem Strand ohne Muscheln und Bernsteine, dafür mit wunderschönen rundgeschliffenen, kleinen farbigen Kieseln. Christiane versuchte Niso das Schwimmen beizubringen, die es nie gelernt hat, da es an tadschikischen und russischen Schulen nicht zum Lehrplan gehört. Ich zeigte meinen Mitreisenden die sich schwach im Dunst am anderen Ufer abzeichnende Stelle, wo die breite Angara den Baikal verlässt, sein einziger Abfluss.

Zurück fuhren wir im Coupé, hatten also ein geschlossenes Viererabteil für uns. Ausgesprochen gemütlich und komfortabel sei es, befand Mutter und wäre gern noch viel länger weitergefahren. An einem der Zwei-Minuten-Haltepunkte kaufte ich, ohne Auszusteigen durch die Tür, einer Frau ein Glas sauer schmeckende Zhimolost‘- Beeren ab. Die Gattung ist in Deutschland als Heckenkirsche oder Jelängerjelieber bekannt, der Verzehr der Früchte aber nicht üblich. Ich vertiefte mich unterwegs in die Lektüre des Buches einer Hamburger Programmiererin, die ihr Stadtleben gegen das Dasein in einem sibirischen Dorf an der Seite eines ewenkischen Jägers eingetauscht hat (Karin Haß: Fremde Heimat Sibirien), eine großartige Beschreibung von Natur und Menschen. Zwei Drittel der Dorfbewohner sind Alkoholiker, erzählt die Autorin; in Russland ist es verbreitet, sich eine Injektion verpassen zu lassen („zakodirovat‘ ot alkogolisma“ – „gegen Alkohol codieren“), nach welcher der Körper extrem abweisend auf Hochprozentiges reagiert, die aber auch den Tod zur Folge haben kann, wenn man trotzdem weitertrinkt.

Übermorgen geht es für uns drei über Moskau zurück nach Deutschland. Zuvor war noch ein Besuch im sich unten im Haus befindlichen Schönheits-Salon angesagt, wo sich meine Gäste die Haare schneiden ließen und dabei meine Übersetzer-Dienste in Anspruch nahmen: „Stufenschnitt“ und „Splissige Enden entfernen“ erklärte ich den beiden zierlichen, hübschen Burjatinnen, die schnell und sicher ihre Arbeit taten zu umgerechnet einem Fünftel des in Deutschland üblichen Preises. Christiane wurde für ihre hier sehr unübliche, leuchtend rote Haarfarbe bewundert.

Heute Abend möchte meine Schwester mit mir ein Bier trinken gehen. Dazu isst man in Russland üblicherweise getrockneten Fisch. Da ich keinen Alkohol trinke und meine Schwester keinen Fisch isst, werden wir uns entsprechend aufteilen. Ich stelle mir uns bereits lebhaft vor, in der spartanisch eingerichteten Bierbar einander gegenüber sitzend, Christiane russisches Bier schlürfend und ich am Trockenfisch nagend.

Transsibirische Eisenbahn: im Offenen Großraumwagen
Nach dem Sprung auf den Gleisbett-Schotter: Angekommen in Tanchoi
In der Taiga im Regen
Niso und ich
Kiesel am Baikal-Strand
Hütten in Tanchoi
Meine Schwester auf der Rückfahrt im Coupé



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