Ein blonder Mann steigt aus dem Auto und schreitet
schwungvollen Schrittes durch den knirschenden Schnee. Vom blauen Himmel
strahlt die Sonne. In der einen Hand hält er seine schwarze Mütze, in der
anderen den Autoschlüssel. Seine dicke blaue Daunenjacke ist leicht
schmuddelig, die moosgrüne Fjellräven-Outdoorhose
abgewetzt und mit braunen Flicken bedeckt. Er überquert ein gefrorenes
Gebirgsbächlein, schiebt die Rundbalken eines einfachen Zaungatters zur Seite
und kommt zu einem Holzhaus mit aufgeklappten blauen Fensterläden und
rauchendem Schornstein. Der blonde Mann betritt den Vorraum, klopft an
die Stubentür und reißt sie auf.
Vom langen Tisch im Inneren erhebt sich etwas
unsicher ein Lockenkopf mit dichten grauschwarzen Bartstoppeln. Die beiden
umarmen sich herzlich, klopfen sich auf die Schultern. Der Lockenkopf nimmt
wieder Platz, vor ihm eine Kladde mit Stift und Papier, mehrere Bücherstapel,
ein Notebook und verschiedene Kräuterteepackungen.
„Wie geht es dir?“ Der Blonde schaut sich
ungeduldig um und wippt von einem Bein aufs andere.
„Gut. Ich schreibe nur noch schnell einen Satz zu
Ende.“
„Alles klar. Ich bringe dann schonmal was ins
Auto.“
Der Lockenkopf schaut ihn fragend an.
„Ich habe große Pläne mit dir, Simon“, sagt der
Blonde, „ich möchte aufs Eis hinaus und zu den Uschkani-Inseln fahren. Es wird
ganz fantastisch. Du hast eine Stunde zum Packen. Sonst kommt der ganze
Zeitplan durcheinander.“
Der Lockenkopf schaut mit ausdruckslosem Blick aus
dem Fenster.
„Thomas, ich habe seit sechs Tagen nichts
gegessen.“
Auf dem Boden mehrere gut gefüllte
Lebensmittelkartons. Am Nahrungsmangel kann es nicht gelegen haben.
„Mit meiner Verdauung war was nicht in Ordnung, da
muss ich nochmal radikal von vorn anfangen. Alles ist jetzt raus. Vielleicht
fange ich mit dem Essen in ein paar Tagen langsam wieder an.“
Sein Freund zieht seine schmuddelige Daunenjacke
aus und lässt sich auf einer der Holzpritschen nieder. Zehn Tage Einsamkeit.
Und als ob das nicht genug wäre, muss Simon natürlich noch einen draufsetzen:
seit sechs Tagen nichts gegessen. Eigentlich hatte er sich für die Reise zu den
Uschkani-Inseln einen gesunden, kräftigen Beifahrer gewünscht und keinen
hungernden Schatten.
„Schade. Tut mir leid, dass ich das Vorhaben ohne
dich geplant habe. Du darfst absagen.“
Einen Moment Schweigen. Hau-Ruck-Pläne zu machen,
ohne diejenigen, die es betrifft, mit einzubeziehen – ein ganz typisch
russisches Vorgehen. Aber hier sitzen sich zwei Deutsche gegenüber. Der eine
schon ein wenig russifiziert, wie sollte es anders sein nach fast fünf Jahren
in Sibirien. Der andere nur zu Gast.
„Ich fühle mich schon wieder besser. Das Gespräch
mit dir hat mich belebt. Dann lass uns mal aufbrechen!“
Wir lassen die Hütte vorschriftsmäßig zurück: alle
Wassergefäße ausleeren, damit sie nicht vom Eis gesprengt werden; Fensterläden
zu und von innen verschrauben, damit sie von außen nicht zu öffnen sind;
Sicherungen raus und die Türen von Haus und Banja mit Vorhängeschlössern
absichern. Dann fahren wir Richtung Süden.
„Hast du tatsächlich zehn Tage lang mit keinem
Menschen gesprochen?“, will ich wissen.
„Doch, ich war zweimal im Dorf auf der Suche nach
einer Mausefalle. Aber es gab keine. Stattdessen hat man mir ein Beutelchen mit
Gift geschenkt. Die Maus hat es gefressen und einfach weitergelebt.“
Das burjatische Dorf Uljun liegt in der Steppe, die
Berghänge sind überwiegend kahl, auch ein Ergebnis von Menscheneinwirkung. Kurz
vor Bargusin kommen wir durch dichten Wald. Wir wollen meinen Bekannten Sergej
und Mascha einen kurzen Besuch abstatten. Sergej hatte ich versprochen, ihn mit
meinem wunderlichen deutschen Freund bekannt zu machen. Mascha bekommt eine
Kiste mit leeren Konservengläsern und Flaschen von mir, woran hier richtiger
Mangel herrscht: die Einheimischen wecken in großer Menge Marmelade, Gurken und
Tomaten ein und haben dafür nie genug Gefäße.
Mascha tischt auf: Kartoffeln, Fleisch, Brot, saure
Gurken, Konfekt.
Simon wirkt etwas abwesend und rührt nichts an.
„Er fastet“, erkläre ich.
Bei meinem letzten Besuch hatte ich den beiden die
kleine Kaffeemaschine geschenkt, die Niso und ich seit einigen Jahren benutzen.
Nun, da wir langsam unseren Haushalt auflösen, soll sie neue Besitzer haben.
Sergej habe ich gezeigt, wie man Kaffee kultiviert auf die europäische Art
trinkt: wo man das Wasser einfüllt und wo das Pulver hineinschüttet. Echten
Kaffee, keinen löslichen. Simon akzeptiert nach einigem Zögern einen dünnen
Grüntee, da Kräuter gerade nicht verfügbar sind.
„Der russische Pragmatismus ist schrecklich“, sagt
Simon. „In den Siedlungen gibt es keine Kultur im Umgang mit Bäumen. Sieht
nicht gut aus, wie sie beschnitten werden. Auch die Rodungen sind katastrophal.
In den höheren Lagen wird sich der Wald nie regenerieren.“
Ein Gespräch zum Thema Land- und Forstwirtschaft
kommt in Gang. Mein Begleiter, der immer und überall zuerst die Bäume und
Sträucher wahrnimmt, erkundigt sich, ob die Pflaume hinter Sergejs Haus
wirklich minus vierzig Grad aushält und wo die frostharte Himbeere herkommt.
„Ich hätte sie gleich am ersten Tag gefangen!“,
ruft Sergej, als er von der Maus erfährt, und demonstriert mit Teller und
Löffel, wie man eine Mausefalle selbst baut.
„Typen wie Sergej bewundere ich unglaublich, Leute,
die es in den Händen und hier oben haben“, sagt Simon und tippt sich an die
Stirn, als wir wieder im Auto sind, „solche Mitarbeiter in Deutschland zu
finden ist ganz schwer. Die Leute haben alle einen riesen Kopf. Aber mit den
Händen bringen sie nichts zustande.“
Wir fahren ins Territorium des Nationalparks. Das
Fischerdorf Kurbulik ist im Winter nur über das Eis zu erreichen, da die fast
einen Meter hohe Schneeschicht auf der durch die Taiga führenden Straße nicht
geräumt wird. Alexander Iwanowitsch, mein Gastgeber vom letzten Wochenende, hat
leider trotz meiner telefonischer Ankündigung unseres Besuches vergessen, den
Platz in seiner Stube freizuhalten. Wir können uns beim Nachbarn ein paar
Grundstücke weiter einquartieren. Allerdings ist das Gästehaus noch nicht
geheizt. In Jacke, Schal und Mütze sitzen wir vor dem Ofen und schieben eine
Kiefernschwarte nach der anderen hinein. Ich halte meine erfrorenen Füße an die
geöffnete Klappe, durch welche wohlige Wärme hinausdringt, und kaue abwechselnd
Brot und Käse, dazu Grüntee aus der Thermoskanne schlürfend.
„Stört es dich beim Fasten nicht, wenn ich dir was
vorkaue?“
„Geordnete Verhältnisse würden mir jetzt helfen.
Die Unsicherheit, unter welchen Bedingungen wir übernachten, und die Kälte
strengen mich an“, sagt Simon.
„Im Herumreisen und sich immer wieder neu
Einstellen auf andere Menschen und Situationen bin ich eben besser als du“,
prahle ich.
„Deine geografische Sammlerleidenschaft teile ich
nicht. Aus der Komfortzone gehe ich heraus, wenn es die Arbeit verlangt. Zum
Beispiel um sechs Uhr morgens Apfelbäume aussäen oder ein Feld ausmessen.“
„Wie verschwindend klein ist doch der gemütliche
Teil des Kosmos gegenüber dem riesigen Raum, den der ungemütliche, tödlich
kalte Teil einnimmt“, philosophiere ich. Praktische Themen sind nicht so meine
Sache.
Das Ofenfeuer knistert, draußen schwarze Nacht. Um
zweiundzwanzig Uhr ist es warm, dafür geht das Licht aus: um diese Zeit wird
der Generator abgeschaltet. Wir kriechen in die Schlafsäcke, bevor es am
nächsten Morgen über die Tschivyrkui-Bucht nach Norden weitergeht: zunächst auf
einer von Schnee geräumten und mit Verkehrszeichen versehenen Straße von
geradezu Autobahnqualität, dann in schmalen Reifenspuren einiger Fahrzeuge, die
wohl an den Vortagen unterwegs waren.
„Der russische Pragmatismus ist genial“, sagt
Simon. „Es gibt dickes Eis, also fährt man drüber, ganz einfach!“
Vor der Nordspitze der Halbinsel türmen sich hoch
aufgeworfene Eisschollen. Unsere Fahrspur geht an ihnen vorbei durch den
glatten Schnee, dabei sanfte Bögen beschreibend, um hier und da Schnee- und
Eisaufwerfungen zu umfahren. Immer wieder überqueren wir längst wieder
zugefrorene, hunderte Meter lange Spalten, viele nur wenige Zentimeter, einige
bis zu einem halben Meter breit. Und endlich nun tauchen sie vor uns auf, die
Uschkani-Inseln, Heimat der Baikalrobben, sagenumwobene Eilande inmitten des
zauberhaften Baikal, weit weg von Zivilisation, Lärm und Hektik. Am
deutlichsten erhebt sich der Buckel der Großen Ushkani-Insel vor uns, rechts
daneben und nicht scharf voneinander abgegrenzt die drei kleineren Inselchen.
Seit hundertzwanzig Jahren schon gibt es eine Wetterstation dort, auf der
bestimmt ein bärtiger Ureinwohner seinen treuen Dienst versieht, nur einmal pro
Jahrzehnt per Helikopter mit Lebensmitteln versorgt. Sicherlich werden wir die
einzigen menschlichen Geschöpfe sein, die er seit langem zu Gesicht bekommen
hat; teeschlürfend würden wir an seinem Tisch sitzen, uns Geschichten aus der
Vorzeit anhören, als die Bäume noch sprechen und die Vögel noch mit
menschlicher Stimme singen konnten, dann wird uns der Bärtige einen Platz auf
seinem vorgeheizten russischen Ofen anbieten und wir selig einschlafen, freudig
beköstigt in besten Traditionen ursprünglicher sibirischer Gastfreundschaft. Um
uns das Heulen der Baikalwinde, über uns der denkbar klarste Sternenhimmel.
Die Reifenspuren, denen wir folgen, führen wider
Erwarten gar nicht in einigen Kilometern Entfernung an den Inseln vorbei und
weiter nach Olchon. Sie steuern direkt auf die Bucht mit der Wetterstation zu.
Das ist praktisch, da wir uns nicht den Weg durch den jungfräulichen Schnee
selbst bahnen müssen. Es zeigt aber auch, dass wir nicht ganz die Einzigen
sind.
„Ich möchte heute noch nach Ulan-Ude zurück“, sagt
Simon plötzlich, kaum dass unser Fahrzeug steht. Vor uns am Ufer in einer Reihe
vier Holzhäuser, links hoch aufragende Antennen und meteorologische
Apparaturen.
„Ich brauche
geordnete Verhältnisse. Es ist kalt draußen.“
„Wir sind hier, um zu übernachten“, sage ich böse.
Ein Blick auf die Uhr: zwölf. Bis nach Ulan-Ude
wären es sechs Stunden. Für mich ein
Unding.
„Dann gehe ich ans Steuer“, sagt Simon.
Mit einem seit sechs Tagen leeren Magen?
„Kein Problem. Fahren geht immer.“
Schön für dich, denke ich verärgert, sind wir
hierhergekommen, um gleich wieder zu verschwinden?
Ich lasse ihn im Auto sitzen und steige die Uferböschung
hinauf, um mich mit dem bärtigen Ureinwohner bekannt zu machen.
Ein Uniformierter steht vor einem der Hauseingänge
und raucht.
„Wir wollten mal zu Besuch kommen“, sage ich.
„Deutsch? Hitler
kaputt!“, sagt der Uniformierte und geht mit mir in eines der Gebäude
hinein.
„Na, Gott sei dank kaputt“, sage ich.
Ein großer Raum mit vielen Betten, auf denen
Kleidung und Rucksäcke herumliegen. Ein jüngerer Mann mit glattrasiertem
Gesicht versucht gerade, mit einigen Spänen den ungeheizten großen Ofen in Gang
zu bringen.
„Die Deutschen sind da!“, ruft der Uniformierte und
verschwindet.
Ob es eine Übernachtungsmöglichkeit für zwei
Personen gäbe?
„Alles ist belegt. Man muss sich lange vorher
anmelden. Schon jetzt laufen die Reservierungen für zweitausendeinundzwanzig!“
Mein
Gegenüber heißt Anton und ist der Sohn von Tatjana, der Meteorologin, die seit
fünfunddreißig Jahren auf der Wetterstation lebt. Als er erfährt, wie ich
hierhergekommen bin, holt er zu einer längeren Rede aus. Auf eigene Faust mit
dem Auto über den See, das sollten nur die Einheimischen machen, das Eis sei
eine tückische Sache, der Schnee könne gefährliche Stellen überdecken: warme
unterirdische Strömungen gäbe es und von unten aufsteigende Methanblasen, die
die Eisschicht aushöhlten. Dann erzählt er, wie vor einigen Jahren ein vor ihm
fahrendes Auto einbrach und die Passagiere sich gerade so retten konnten.
Obwohl der Fahrer von hier gewesen sei.
„Nur wer seit Jahren am See wohnt, kennt die
gefährlichen Stellen. Wenn ein Fremder aus Dummheit oder Leichtsinn draufgeht,
hat er eben Pech. Aber für unsere Region ist es ein riesiger Imageschaden. Wenn
ein Tourist im Baikal ertrinkt, und noch dazu ein Deutscher, ist das
Tourismusgeschäft auf Jahre hinaus ruiniert und die Polizei wird das Fahren auf
dem Eis im Winter für alle verbieten. Auch für die Einheimischen.“
„Ich bin immer in der Spur anderer Fahrzeuge
geblieben“, sage ich kleinlaut.
„Miete dir das nächste Mal einen lokalen Fahrer!“
Also keine Übernachtung?
Der Mann mit dem glattrasierten Gesicht gibt mir
seine Whatsapp-Nummer. Mein Eindruck
von Zivilisationsferne verflüchtigt sich endgültig.
„Melde dich vorher an, dann klappt es.“
Ich überrede Simon, mit mir noch ein wenig
herumzulaufen, dann verlassen wir die Große Uschkani-Insel auf dem gleichen
Weg, auf dem wir gekommen sind. Fünfzehn Minuten Gespräch, fünfzehn Minuten
Spaziergang. Meinen Besuch in der Heimat der Baikalrobben hatte ich mir anders
vorgestellt.
Wir nähern uns wieder der Nordspitze der Heiligen
Nase. Mein traktorerfahrener Freund hat sich schnell an den Lada Niva gewöhnt
und beginnt, in den Kurven auszutesten, ab welchem Tempo das Heck ausbricht, da
ja wohl hier nichts passieren könne, egal wie weit es uns in die Schneewüste
hinaus schleudert. Ich denke an die Worte des Mannes mit dem glattrasierten
Gesicht und verbiete es ihm.
Er habe ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, meint
Simon nach einer Weile, wahrscheinlich werde er bereits am Abend des heutigen
siebten Tages sein Fasten brechen und etwas zu sich nehmen: einige in Tee
zerdrückte Sanddorn-Beeren. Insgesamt fände er es gerade ganz spannend, was mit
seinem Körper passiert.
„Du findest auch noch deinen eigenen Tod
interessant“, sage ich.
„Natürlich. Das ist doch das Interessanteste
überhaupt“, sagt Simon.
Wir fahren zurück durch die Tschivyrkuj-Bucht,
zwischen den Inseln Die Zerzauste und
Die Nackte hindurch, an der tief in
einer Bucht versteckten und sich vom Hintergrund kaum abhebenden Helenen-Insel
und der Schlangenbucht mit der heißen Quelle vorbei. Vielleicht bin ich das
letzte Mal hier. In anderthalb Monaten wird das Eis durch die Sonne von oben so
weit angetaut sein, dass sich die Straße in eine unbefahrbare Pfütze
verwandelt. Wir passieren die auf dem Eis stehenden Anglerjurten und
dreieckigen Klohäuschen, links von uns, am Festlandsufer, die wie eine
graugrüne Gurke langgestreckte Baklani-Insel und der kaum sichtbare weiße
Tupfer des Inselchens Belyj Kamen
daneben. Das kleine Fischerdorf Kurbulik und die noch winzigere, nur aus einer
einzigen Häuserreihe bestehende Siedlung Katun ziehen an uns vorbei, dazwischen
auf dem Eis der Inselfelsen Pokojnizkij
Kamen, vor dem sich einige Angler unter freiem Himmel positioniert haben.
Bei Monachovo, früher ein Dorf, jetzt nur noch ein Stützpunkt des Nationalparks
mit einigen Gästehäusern, verlassen wir das Eis und streben auf dem Festland der
Ausfahrt des Schutzgebietes entgegen.
„Wahrscheinlich muss ich heute doch etwas mehr
essen nehmen als nur Sanddorn“, sagt Simon mit schwacher Stimme. Ich nehme mir
vor, ihn am Steuer baldmöglichst abzulösen und deute auf meinen prall mit
Lebensmitteln gefüllten Rucksack.
„Etwas Fermentiertes,
damit meine Verdauung durch die Bakterien vorsichtig wieder in Gang kommt.“
Ich reiche ihm ein Glas saurer Gurken, vorsorglich
aus Ulan-Ude mitgebracht.
„Etwas hausgemachtes
Fermentiertes, das nicht pasteurisiert wurde. Sonst sind die Bakterien ja alle
tot.“
In Ust-Bargusin steuern wir eine Bekannte meines
Freundes Mischa an, die wir am letzten Wochenende kurz aufgesucht hatten. Tamara
(in der Verkleinerungsform Toma, wohl
der russische Name, der am stärksten an meinen eigenen erinnert) gibt uns ohne
Zögern eingelegte Gurken und schickt ihren Mann in den Gemüsekeller nach
Sauerkraut.
Kurzer Halt in Turka, ein letzter Blick auf den
winterlichen Baikalsee. Während ich mir am Buffet eines Cafés gezuckerten
Schwarztee mit Zitrone besorge, verschwindet Simon mit einem Becher auf die
Toilette, um einen Schluck seines Urins zu trinken. Mein leicht spöttisches
Stirnrunzeln irritiert ihn nicht im Mindesten.
„Eklig oder nicht, das ist doch eine reine
Denkfrage.“
Wir tauschen die Plätze. Eine Stunde später, in
Turuntajewo, tanke ich Fünfundneunziger-Benzin nach; bei unbekümmerter
Fahrweise schluckt der Niva auf hundert Kilometer elf Liter, von denen einer
inzwischen etwa sechsundvierzig Rubel kostet. Es beginnt zu dämmern. Müde oder
nicht, vielleicht ist das auch eine reine Denkfrage? Trotzdem entscheide ich
mich für einen Kaffee.
Simon, der mich bisher für einen reinen Teetrinker
hielt, staunt. Ob ich wüsste, was Rudolf Steiner zu Kaffee und Tee gesagt hat?
„Schwarztee fördert Gedankensprünge und regt somit
eher die leichte Konversation an. Kaffee begünstigt das tiefe, geradlinige
Denken. Ist ja eigentlich nicht deine Stärke.“
Niso und Maja freuen sich, dass wir einen Tag
früher als geplant zurückkommen. Meine Frau stellt eine Gemüsesuppe mit
tadschikischen Erbsen auf den Tisch, dazu die hausgemachten fermentierten
Gurken und das Sauerkraut aus Ust-Bargusin. Ich erzähle und beobachte mit
Erleichterung, wie mein in kleinen Schlucken heiße Suppe in sich
hineinschlürfender Freund langsam zu sich kommt.
Ein ziemlich dünner Blonder und ein etwas
muskulöserer, aber in der letzten Woche auch ordentlich ausgemergelter Lockenkopf
betreten ein einstöckiges Gebäude mit der Aufschrift „Banja“. Im
Eingangsbereich riecht es nach Chlor, die alten hölzernen Garderobenschränke
sind nicht abschließbar, Putz bröckelt von den Wänden. Ein Haus aus der
Stalinzeit, seitdem bestimmt nicht renoviert. Die beiden Deutschen sind die
Einzigen. Normalerweise kommen Einheimische hierher, die zuhause kein fließendes
Wasser und somit keine Waschmöglichkeit haben.
„Eine Stimmung wie im Film Stalker“, sagt der Lockenkopf.
Ausziehen, kalt duschen, dann in den Schwitzraum,
das Herzstück der Banja. Der Blonde bittet den Lockenkopf, ihn mit einem wjenik aus gebundenen Birkenzweigen
auszupeitschen: es fördert die Durchblutung und macht unter anderem den
Unterschied zwischen Banja und Sauna aus.
„Bringt mir gar nichts, ich merke überhaupt nichts
auf der Haut“, meint der Lockenkopf nach dem Tauschen der Rollen.
Drei Schwitzgänge, vor dem Anziehen das Waschen.
„Brauchst du ein Stück Seife?“, fragt der Blonde.
„Benutze ich schon seit Jahren nicht mehr.
Hautverunreinigungen gehen alle mechanisch raus“, kommt die verächtliche
Antwort
Am nächsten Morgen legt der Lockenkopf am Flughafenschalter
drei Gepäckstücke auf das Band: sein eigener Rucksack und zwei mit Büchern
gefüllte Koffer, die er für seinen Freund mitnimmt. Gesamtgewicht
fünfundfünfzig Kilo. Auch nach sechs Tagen Fasten kein Problem.
Baden in der Heilquelle in der Schlangenbucht: vierzig Grad warmes Wasser bei minus zwanzig Grad Umgebungstemperatur |
Unser Gästehaus in Kurbulik (links) |
Das Inselchen "Die Nackte" in der Tschivyrkui-Bucht |
Anglerjurten auf dem Eis |
Das Inselchen "Die Zerzauste" |
An der Großen Uschkani-Insel |
Märchenhaft: die Küste der Kleinen Uschkani-Inseln |