Dienstag, 17. März 2020

Quarantäne und Knochen. Ein Besuch bei den Russlanddeutschen in Sakamensk




Obwohl das Corona-Virus in Sibirien noch nicht angekommen ist, sind in unserer Apotheke die Masken und Desinfektionsmittel schon ausverkauft. Flüge zwischen Russland und Deutschland sind nur noch über den Moskauer Flughafen Scheremetievo möglich. Wer aus besonders betroffenen Ländern wie Deutschland in die russische Hauptstadt einreist, muss sich für zwei Wochen in seiner eigenen Wohnung in Quarantäne begeben und darf nicht zur Arbeit oder zum Studium gehen, ein Erlass, der im Moment (morgen kann alles anders sein) nur Moskau betrifft und nicht für diejenigen gilt, die in eine andere Stadt weiterreisen. Meine Entsendeorganisation rät allen in Russland tätigen Kollegen, auf Auslandsreisen zu verzichten und sich in die Krisenvorsorgeliste des Auswärtigen Amtes eintragen zu lassen.
An zwei Abenden der Woche bin ich im Haus der Völkerfreundschaft, um mit einer sehr kleinen Gruppe von Russlanddeutschen zu singen und Deutschunterricht zu veranstalten. Als Stalin nach Kriegsausbruch die Wolgadeutschen nach Sibirien und Kasachstan verbannte, kamen einige Tausend von ihnen auch nach Burjatien und hier vor allem ins Dschidlag nach Sakamensk, um dort als Zwangsarbeiter der Trudarmija Wolfram und Molybdän abzubauen. Viele ihrer Nachfahren sind in den neunziger Jahren in die historische Heimat nach Deutschland zurückgekehrt, aber nicht alle. Mit etwas Mühe kann man in Burjatien noch alte Menschen aufspüren, die selbst deutschsprachig in der Wolgaregion aufgewachsen sind.
Zusammen mit Vitalij bin ich unterwegs nach Sakamensk, einer 11000-Einwohner-Siedlung am Ende eines entlegenen Tales südlich des Chamar-Daban-Gebirges, etwa 400 Kilometer von Ulan-Ude entfernt. Der Vierzigjährige (genau mein Jahrgang), der auch meinen Deutschunterricht und den Chor besucht, arbeitet im Komitee für interethnische Beziehungen und die Entwicklung bürgerlicher Initiativen in der Verwaltung des Präsidenten der Republik Burjatien und hat das Thema Russlanddeutsche für sich entdeckt, da seine Frau von ihnen abstammt. „Ich verehre die Deutschen“, sagt er, „so ein tolles Volk!“ Acht Jahre lang hat er selbst in Sakamensk gelebt und freut sich darauf, mit mir auf den Spuren zu wandeln, die sie dort hinterlassen haben.
Auf der Hinfahrt im fast zwanzig Jahre alten Toyota Kluger mit Rechtslenkung kommen wir an in dichten Rauch gehüllten Feldern vorbei, auf denen sich hunderte Meter lange Flammenfronten durch den ausgetrockneten Bewuchs vorwärtszüngeln. „Die Bauern brennen die Flächen ab, damit das neue Gras schneller durchkommt. Eigentlich sollte jemand daneben stehen und das Feuer kontrollieren, aber wen kümmerts?“ Dann spricht Vitalij über seine Arbeit. „Bürgerliche Initiativen? So etwas gibt es eigentlich gar nicht. Eigene Initiative ist unerwünscht. Wer etwas Ernsthaftes machen will, kriegt Knüppel zwischen die Beine geworfen. Korrupte Bürokraten steuern alles von oben und zahlen den Leuten lächerliche Kopeken. Ich bin Leitender Spezialist, und was verdiene ich? Siebenundzwanzigtausend. In diesem Jahr haben sie zweihundert aufgeschlagen. Ob ich denn immer noch unzufrieden wäre, fragen sie. Ja, unzufrieden! Durdóm!“ Das letzte Wort, zu deutsch Irrenhaus, kann man hier des Öfteren hören.
An den Lada Niva gewöhnt, komme ich mir im Toyota-Geländewagen vor wie in einem Flugzeug und gestehe Vitalij, dass ich noch nie am Steuer eines Fahrzeugs mit Rechtslenkung und Automatikgetriebe gesessen habe. „Das können wir ändern“, ruft mein Freund, und flugs tauschen wir die Plätze. An einer Ansammlung von in die Steppe gestreuten Erdhügeln machen wir halt. „Ein ehemaliger Truppenübungsplatz“, sagt Vitalij, und schon streunen wir durch Gräben und verfallene Baracken und fotografieren ein nicht mehr vorhandenes Gebäude, von welchem lediglich das Pissoir übrig geblieben ist. Mir kommt die Ahnung, dass wir ein interessantes Wochenende verbringen werden. Zumindest verbindet uns das Interesse am Herumstrolchen in Ruinen.
In Sakamensk sind wir zu Gast im Haus von Lena Iwanowna und Vladimir Alexandrowitsch, Vitalijs Schwierereltern. Vladimir ist ein lebensfroher alter Mann, dem man innere Heiterkeit und Ausgeglichenheit anmerkt, welche die Musik der Seele schenkt: er unterrichtet an der Musikschule Bajan (das russische Knopfakkordeon) und Balalaika. Sein Vater war russischer Kosake und seine Mutter Deutsche. Ihre Sprache wurde allerdings in der Familie mit den Kindern nie gesprochen. Nach dem Krieg war nicht die Zeit dafür. Die korpulente Lena war Kindergärtnerin. Lebenslang an den Lärm großer Gruppen gewöhnt, hält sie keine Stille aus und hat den Fernseher im Dauerbetrieb. An beiden Abenden heizt Wladimir für uns die Banja. Ich peitsche Vitalij mit einem Eichenlaub-Besen den Rücken aus und höre nach drei Minuten entkräftet auf. „Dem Deutschen wird eher die Hand müde, als dass der Russe was merkt“, sage ich. „Könnte man glatt einen Witz draus machen.“
Vitalij zeigt mir die Stelle, wo früher in Baracken zweitausend Wolgadeutsche gelebt haben und die im Volksmund nur Berlin genannt wurde. Heute sind dort von Müll umwehte Ruinen. Ich setze mich in das Wrack eines Moskwitsch-400 von Ende der vierziger Jahre, erster PKW für den Massenbedarf in der UdSSR der Moskauer Nachbau eines Opel Kadett K-38, nachdem Teile des Rüsselsheimer Opel-Werkes als Reparationsleistung an die Russen gingen. Wir fahren vorbei am visionär in die Ferne blickenden Lenin mit roter Digitalanzeige „noch 59 Tage bis zum Sieg“ und einem wuchtigen Panzerdenkmal. Sakamensk war einst der wichtigste Lieferant von Wolfram im Land, kriegswichtig für die Legierung von Panzerstahl. Das Wolfram-Molybdän-Kombinat wurde in den 90er Jahren geschlossen und überragt heute als gigantische Ruine die Stadt. Mein Freund packt seinen Fotoapparat aus und veranstaltet ein Fotoshooting: Thomas mit Apokalypse-Flair, zu seinen Füßen ein sowjetischer Schutzhelm.
Unweit des ehemaligen Eingangs in einen unterirdischen Schacht ein an die Felsen gemaltes rundes Emblem mit Lenin und Stalin, daneben die UdSSR-Sichel. „Mit diesem Werk hat sich wohl ein als Zwangsarbeiter schuftender Künstler die Freiheit erarbeitet“, erklärt Vitalij.
„Hier muss ja unglaublich schwere Technik im Einsatz gewesen sein“, sage ich und weise auf die riesigen Betonwände und Aufschüttungen am Schachteingang.
„Welche Technik?“ Vitalij senkt die Stimme. „Handarbeit, mein Lieber, alles Handarbeit.“
Ich wühle im Schutt und hebe ein paar interessant glänzende kleine Kristalle auf.
„Pass auf, was du da zutage förderst. Sakamensk ist auf Knochen erbaut!“
Das Lenin-Stalin-Emblem glänzt, als ob jemand ganz kürzlich die Farbe erneuert hat. „Alte Kommunisten gibt es viele hier, und sie mögen mich nicht, weil ich offen über das spreche, was hier los war. Kommunismus ist wie Faschismus, nur in anderem Gewand!“
Ob er denn nicht auch die guten Seiten der Sowjetunion sähe?
„Die gab es auf alle Fälle. Verglichen mit dem, was die heutigen Machthaber anstellen. Krugom worowstwó!“ Eine verbreitete Phrase, etwa zu übersetzen mit „ringsum Diebstahl“.
Bis 1953 schufteten im Sakamensker Dschidlag tausende Zwangsarbeiter: russische Strafgefangene und Wolgadeutsche. Eine von ihnen, die 93jährige Mechthilde Hoppe, war 1943 siebzehn Jahre alt und hat nicht direkt im Bergwerk, sondern im Holzeinschlag gearbeitet. Bei unserem Besuch spreche ich mit ihr nur Deutsch. Sie versteht fast alles, was ich sage, antwortet aber meistens auf Russisch, in einem ungewöhnlichen gesanglichen Tonfall, der die Ausländerin verrät. Bereitwillig zeigt sie ihr Trudowaja Knizhka, das Arbeitsbuch, bis heute in Russland ein wichtiges Dokument, in welchem die Arbeitsjahre im Dschidlag verzeichnet sind, und eine spätere, eng mit Schreibmaschine beschriebene Liste über Vergünstigungen im öffentlichen Leben, festgelegt nach dem „Gesetz über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen“: kostenloser Nahverkehr, fünfzig Prozent Rabatt auf den Strompreis, kostenlose Zahnprothesen.
Wie sie es geschafft habe, so alt zu werden?
„Ich habe nie geraucht, keinen Wodka getrunken und wenig Fleisch gegessen. Und musste immer schwer arbeiten“, sagt Mechthilde.
Was sie über Stalin denke? Von Vitalij weiß ich ihre Antwort schon. Aber ich möchte sie nochmal hören, um der Authentizität willen.
„Wissen Sie, ich hege keinen Groll. Ein guter Führer. Es herrschte Disziplin und Ordnung. Nicht so wie heute!“
Sagt eine Frau, die viertausend Kilometer zwangsumgesiedelt wurde.
„Stalin konnte ja nicht überall sein. Vielleicht wusste er von den Zuständen hier gar nichts.“
Mechthilde holt eine Jacke mit einem halben Dutzend Orden hervor, Held der Arbeit, Veteran des Großen Vaterländischen Krieges und so weiter. An der Parade am neunten Mai wird sie mit Stolz teilnehmen, hat sie doch damals im Hinterland kriegswichtige Arbeit geleistet. Noch 59 Tage bis zum Sieg!
Sakamensk liegt nur wenige Kilometer von der Mongolei entfernt.  Vor der Reise musste ich mir deshalb eine Genehmigung zum Betreten der Pogranitschnaja sona, des Grenzgebietes, besorgen. Fast ein wenig schade, dass der Kontrollposten unbesetzt war und ich sie niemandem vorzeigen konnte. Vielleicht sollte ich ja gleich hierbleiben, bis die Coronavirus-Welle vorbei ist, scherze ich am letzten Abend.
„Wir könnten zusammen auf die Jagd gehen“, meint Vladimir und holt eine Waffe aus dem in die Wand geschraubten Safe. Jedes Jahr kommt jemand von der Polizei vorbei und prüft ihre ordnungsgemäße Aufbewahrung.
„Du kannst schonmal üben“, sagt Vitalij, greift nach seinem – genehmigungsfrei benutzbaren und deshalb frei herumliegenden – Luftgewehr und geht mit mir nach draußen. Gemeinsam schießen wir abwechselnd in die in der Dämmerung weiß schimmernde Tür des Klohäuschens. Hundegebell und Sternenhimmel über der Taiga. Hier kommt so schnell kein Virus hin. Vielleicht aber auch doch.
„So etwas gab es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht“, wird mir mein Vater am nächsten Tag am Telefon erzählen und von den Zuständen in Deutschland berichten, wo das öffentliche Leben mehr und mehr lahmgelegt wird.
Vladimir öffnet eine Bodenklappe in der Küche, steigt in den podpólje genannten Kellerraum und gibt mir saure Gurken und einen großen Sack Kartoffeln mit auf die Rückreise. Wenn die Globalisierung zusammenbricht, werden vielleicht die Selbstversorger diejenigen sein, denen es plötzlich am besten geht.

Reste eines ehemaligen Truppenübungsplatzes auf dem Weg nach Sakamensk (oben). Bauern brennen Felder ab, damit das neue Gras schneller durchkommt (unten)
Vitalij, dessen Frau wolgadeutsche Vorfahren hat, die nach Sakamensk zwangsumgesiedelt wurden (oben). Ein Flugzeug der Sanaviazia bringt einen Kranken in die Stadt (unten)
Ein Kunstwerk am Felsen in der Nähe des Stolleneinganges (oben). Im Bergwerk wurde kriegswichtiges Wolfram abgebaut, heute ist der Schachteingang verschüttet (unten)




Eine Digitalanzeige zählt die bis zur Siegesfeier am 9. Mai verbleibenden Tage (oben). Vitalij und Vladimir mit Balalaika und Bajan in der Musikschule (unten)
Im Gespräch mit der 93jährigen Wolgadeutschen Mechthilde Hoppe, die mit 17 Jahren nach Sakamensk zwangsumgesiedelt wurde und im Dzhidlag gearbeitet hat. Sie wollte sich ausdrücklich mit mir fotografieren lassen. Selbst war sie nie in Deutschland.
Das Trudovaja Knizhka, das Arbeitsbuch, zeugt von ihren Zeiten im Lager (oben). Zu jedem russischen Dorfhaus gehört ein Kellerraum zum Lagern von Lebensmitteln (unten).
Der Safe mit der Jagdwaffe ist fest in die Wand geschraubt und wird regelmäßig von der Polizei kontrolliert (oben). Vitalij fotografierte mich gern an verschiedenen skurrilen und interessanten Orten (unten)