Vor einer Weile stattete der deutsche Generalkonsul
aus Novosibirsk unserer Universität einen offiziellen Besuch ab. Der Herr
Generalkonsul, noch nicht allzu lange im Amt, wollte sich ein Bild machen von
den Regionen seines Zuständigkeitsbereiches, zu denen ganz Sibirien und der
russische Ferne Osten gehören und sich dazu mit wichtigen Persönlichkeiten und
Vertretern bedeutender Einrichtungen treffen, zu denen auch die Burjatische
Staatliche Universität gehört. Auf der einen Seite des Tisches saßen der
einundsechzigjährige Diplomat neben seiner Übersetzerin und einem jungen Vertreter
des russischen Außenministeriums, der die beiden zu allen Terminen in Ulan-Ude
begleitete; ihnen gegenüber der Rektor mit einige Lehrkräften und Mitarbeitern,
die gerne die Kontakte nach Deutschland intensivieren möchten und hofften, dass
ihnen der Konsul dabei behilflich sein könnte.
Der hohe Gast aus Novosibirsk erkundigte sich nach
dem konkreten Stellenwert von Umweltschutzfragen für die Universität, dem die
deutsche Seite eine hohe Priorität einräume, da beispielsweise die Brände in
der Taiga, das Abschmelzen des Dauerfrostbodens und die Verschmutzung des
Baikalsees indirekt das ökologische Gleichgewicht des gesamten Planeten
beträfen. Nachdem er die sehr ungefähre Antwort angehört hatte, interessierte
ihn die Lage der deutschen Sprache in Burjatien, wozu der Rektor berichtete,
dass es insgesamt vierhundertneunzig Schulen gäbe, von denen allerdings nur
noch an zwanzig Deutsch als erste oder zweite Fremdsprache angeboten würde.
Auch nach den Studierendenzahlen erkundigte der Herr Generalkonsul sich
ausdrücklich, woraufhin nach einigem Zögern die Lehrstuhlleiterin meinte, dass
sie die Zahlen nur ungern nenne, aber es nun doch wohl tun müsse, wenn sie
schon gefragt werde: nämlich gäbe es insgesamt nur etwa fünfzig Studenten der
deutschen Sprache, weit weniger als etwa in den Fächern Englisch oder
Chinesisch. Zum Schluss wollte der deutsche Diplomat wissen, wie es denn sein
könne, dass die Burjaten als Titularnation der Republik Burjatien nur ein
knappes Drittel der Bevölkerung stellen, weit weniger als Russen also, und wie
es um ihr nationales Selbstverständnis bestellt sei, schließlich gehörten sie
doch zum mongolischen Kulturkreis. Zu diesem Moment dauerte das Gespräch
bereits länger als die vorgesehene halbe Stunde, und da es bereits mit einer
ganzen Stunde Verspätung begonnen hatte, sagte der Rektor, selbst russischer
Abstammung, nur kurz, dass man sich über diese große Frage sicher noch einen
ganzen Tag unterhalten könne, was aber jetzt leider die Zeit nicht erlaube. In
diesem Moment nun wollte er sich erheben und das Treffen beenden, was aber
nicht gelang, da der Generalkonsul insistierend darauf bestand, dass er hier an
einer Universität sei, wo man ihm doch eine solche Frage beantworten können
müsse. Der Rektor meinte, dass natürlich viel für die Förderung der
burjatischen Sprache und Kultur getan werde, und wiederholte ansonsten seine bereits
geäußerte Antwort. Dann wurden die Hände geschüttelt, kleine Geschenke
ausgetauscht und ein gemeinsames Foto gemacht.
Nach dem Verlassen des Gebäudes nahm mich der
Generalkonsul für einen kurzen Moment zur Seite und fragte, ob
es in dieser Stadt vielleicht auch irgendjemandem gäbe, der offene Antworten
gibt statt ausweichender Phrasen. Erst gestern habe er ein Treffen mit einer
Journalistin gehabt, die ihm auf seine Frage nach den Problemen in der Region
zunächst nichts geantwortet und dann nur gesagt habe, sie wolle nicht schlecht
über ihre Heimat sprechen. Ich meinte, dass in Burjatien eben keine aufgeklärte
öffentliche Diskussionskultur existiere und schlug ihm ein Treffen mit meinem
burjatischen Bekannten Zhargal vor, einem jungen Absolventen der
Geschichtswissenschaften. Ein paar Tage später saßen wir ganz informell zu
dritt in einem Restaurant, der Generalkonsul spendierte uns ein Mittagessen,
welches zu genießen Zhargal allerdings kaum Gelegenheit hatte, da er auf die
Fragen des Diplomaten zur Geschichte und Politik Burjatiens Antworten zu geben
sich bemühte, die dieser in seinem Notizbuch festhielt. Wie beliebt das
Oberhaupt der Republik und der Bürgermeister im Volke seien, wollte er wissen,
und was die Burjaten über den Anschluss ihres Landes an die Russische
Föderation denken würden. Zhargal erzählte von den Protesten nach den letzten
Wahlen, davon, dass die meisten Menschen sehr unpolitisch seien und es keine
Separatistenbewegung im eigentlichen Sinne gäbe, wohl aber eine schmale,
durchaus antirussisch eingestellte burjatische Elite. Die Jahreszahl 1661 als offizielles
Datum des freiwilligen Anschlusses Burjatiens an Russland wäre wohl eher eine
Erfindung zur Beruhigung des Volkes; tatsächlich hätten die expandierenden
Großmächte Russland und China zwischen sich eine Grenze festgelegt und die
Burjaten seien eben diejenigen der mongolischen Stämme, die sich auf dem
Territorium des russischen Imperiums wiedergefunden hatten, während die heutige
Mongolei ein Teil Chinas wurde. Da Zhargal sich mit dem Generalkonsul auf
Englisch unterhielt und meine Übersetzerdienste sich als überflüssig erwiesen,
konnte ich im Gegensatz zu ersterem in Ruhe meine Teller leeressen, den Latte
macchiato ausschlürfen und dabei einer Kurzzusammenfassung von dreihundertfünfzig
Jahren burjatischer Geschichte lauschen. Dass der deutsche Diplomat sich
tatsächlich für Hintergründe zu interessieren schien, machte ihn mir durchaus
sympathisch, abgesehen von der Einladung zum Mittagessen natürlich.
Gemeinsam mit dem Gast aus Novosibirsk weilte der
deutsche Boogie-Woogie-Pianist Axel Zwingenberger in Ulan-Ude und gab ein
Solokonzert. Einen Tag davor bekam ich einen Anruf einer Dame von der
Philharmonie mit der Bitte um Bereitstellung eines Deutsch-Studenten als
Übersetzer während der Probe, worauf ich erklärte, dass ich diese Aufgabe auch
gern selbst übernähme. Axel Zwingenberger hat ein fleischiges Genießergesicht
mit roter Haut und dicken Lippen, halblange, fast die Augen bedeckende graue
Haare, einen schwarzen Anzug und zitronenfarbene Schuhe, mit denen er beim
Spielen auf den Boden trommelt. Mir erschien das, was der Pianist im
anderthalbstündigen Konzert am Steinway-Flügel veranstaltete, von schwer zu
überbietender Genialität. Sein Freund, der Konsul, sei auch ein fantastischer
Jazz-Pianist, sagte der Künstler am Ende und bat den Diplomaten auf die Bühne,
der zur großen Verwunderung aller einige Minuten lang nicht minder virtuos über
die Tasten fegte.
Leider, sagte Axel Zwingenberger, als er sich nach
dem Konzert von mir und meiner Frau verabschiedete, leider müsse er morgen
schon weiter nach Irkutsk zum nächsten Konzert fahren und könne unmöglich viel
Gepäck mit in den Zug nehmen, ob er der Dame nicht die ihm überreichten Blumen
verehren dürfe? Auf diese Weise bekam Niso von einem berühmten deutschen
Boogie-Woogie-Pianisten einen Strauß gelber Chrysanthemen geschenkt.
Sie könne sich nicht vorstellen, dass sich der
Rektor für die Intensivierung der Kontakte zu Deutschland einsetze, meinte die
Lehrstuhlleiterin ein paar Tage später zu mir. Jedenfalls habe der
Generalkonsul mit seiner nachdrücklichen Art des Fragenstellens bei ihm eher
einen negativen Eindruck hinterlassen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen