Donnerstag, 12. März 2020

Diplomatie und Kultur


Vor einer Weile stattete der deutsche Generalkonsul aus Novosibirsk unserer Universität einen offiziellen Besuch ab. Der Herr Generalkonsul, noch nicht allzu lange im Amt, wollte sich ein Bild machen von den Regionen seines Zuständigkeitsbereiches, zu denen ganz Sibirien und der russische Ferne Osten gehören und sich dazu mit wichtigen Persönlichkeiten und Vertretern bedeutender Einrichtungen treffen, zu denen auch die Burjatische Staatliche Universität gehört. Auf der einen Seite des Tisches saßen der einundsechzigjährige Diplomat neben seiner Übersetzerin und einem jungen Vertreter des russischen Außenministeriums, der die beiden zu allen Terminen in Ulan-Ude begleitete; ihnen gegenüber der Rektor mit einige Lehrkräften und Mitarbeitern, die gerne die Kontakte nach Deutschland intensivieren möchten und hofften, dass ihnen der Konsul dabei behilflich sein könnte.
Der hohe Gast aus Novosibirsk erkundigte sich nach dem konkreten Stellenwert von Umweltschutzfragen für die Universität, dem die deutsche Seite eine hohe Priorität einräume, da beispielsweise die Brände in der Taiga, das Abschmelzen des Dauerfrostbodens und die Verschmutzung des Baikalsees indirekt das ökologische Gleichgewicht des gesamten Planeten beträfen. Nachdem er die sehr ungefähre Antwort angehört hatte, interessierte ihn die Lage der deutschen Sprache in Burjatien, wozu der Rektor berichtete, dass es insgesamt vierhundertneunzig Schulen gäbe, von denen allerdings nur noch an zwanzig Deutsch als erste oder zweite Fremdsprache angeboten würde. Auch nach den Studierendenzahlen erkundigte der Herr Generalkonsul sich ausdrücklich, woraufhin nach einigem Zögern die Lehrstuhlleiterin meinte, dass sie die Zahlen nur ungern nenne, aber es nun doch wohl tun müsse, wenn sie schon gefragt werde: nämlich gäbe es insgesamt nur etwa fünfzig Studenten der deutschen Sprache, weit weniger als etwa in den Fächern Englisch oder Chinesisch. Zum Schluss wollte der deutsche Diplomat wissen, wie es denn sein könne, dass die Burjaten als Titularnation der Republik Burjatien nur ein knappes Drittel der Bevölkerung stellen, weit weniger als Russen also, und wie es um ihr nationales Selbstverständnis bestellt sei, schließlich gehörten sie doch zum mongolischen Kulturkreis. Zu diesem Moment dauerte das Gespräch bereits länger als die vorgesehene halbe Stunde, und da es bereits mit einer ganzen Stunde Verspätung begonnen hatte, sagte der Rektor, selbst russischer Abstammung, nur kurz, dass man sich über diese große Frage sicher noch einen ganzen Tag unterhalten könne, was aber jetzt leider die Zeit nicht erlaube. In diesem Moment nun wollte er sich erheben und das Treffen beenden, was aber nicht gelang, da der Generalkonsul insistierend darauf bestand, dass er hier an einer Universität sei, wo man ihm doch eine solche Frage beantworten können müsse. Der Rektor meinte, dass natürlich viel für die Förderung der burjatischen Sprache und Kultur getan werde, und wiederholte ansonsten seine bereits geäußerte Antwort. Dann wurden die Hände geschüttelt, kleine Geschenke ausgetauscht und ein gemeinsames Foto gemacht.
Nach dem Verlassen des Gebäudes nahm mich der Generalkonsul für einen kurzen Moment zur Seite und fragte, ob es in dieser Stadt vielleicht auch irgendjemandem gäbe, der offene Antworten gibt statt ausweichender Phrasen. Erst gestern habe er ein Treffen mit einer Journalistin gehabt, die ihm auf seine Frage nach den Problemen in der Region zunächst nichts geantwortet und dann nur gesagt habe, sie wolle nicht schlecht über ihre Heimat sprechen. Ich meinte, dass in Burjatien eben keine aufgeklärte öffentliche Diskussionskultur existiere und schlug ihm ein Treffen mit meinem burjatischen Bekannten Zhargal vor, einem jungen Absolventen der Geschichtswissenschaften. Ein paar Tage später saßen wir ganz informell zu dritt in einem Restaurant, der Generalkonsul spendierte uns ein Mittagessen, welches zu genießen Zhargal allerdings kaum Gelegenheit hatte, da er auf die Fragen des Diplomaten zur Geschichte und Politik Burjatiens Antworten zu geben sich bemühte, die dieser in seinem Notizbuch festhielt. Wie beliebt das Oberhaupt der Republik und der Bürgermeister im Volke seien, wollte er wissen, und was die Burjaten über den Anschluss ihres Landes an die Russische Föderation denken würden. Zhargal erzählte von den Protesten nach den letzten Wahlen, davon, dass die meisten Menschen sehr unpolitisch seien und es keine Separatistenbewegung im eigentlichen Sinne gäbe, wohl aber eine schmale, durchaus antirussisch eingestellte burjatische Elite. Die Jahreszahl 1661 als offizielles Datum des freiwilligen Anschlusses Burjatiens an Russland wäre wohl eher eine Erfindung zur Beruhigung des Volkes; tatsächlich hätten die expandierenden Großmächte Russland und China zwischen sich eine Grenze festgelegt und die Burjaten seien eben diejenigen der mongolischen Stämme, die sich auf dem Territorium des russischen Imperiums wiedergefunden hatten, während die heutige Mongolei ein Teil Chinas wurde. Da Zhargal sich mit dem Generalkonsul auf Englisch unterhielt und meine Übersetzerdienste sich als überflüssig erwiesen, konnte ich im Gegensatz zu ersterem in Ruhe meine Teller leeressen, den Latte macchiato ausschlürfen und dabei einer Kurzzusammenfassung von dreihundertfünfzig Jahren burjatischer Geschichte lauschen. Dass der deutsche Diplomat sich tatsächlich für Hintergründe zu interessieren schien, machte ihn mir durchaus sympathisch, abgesehen von der Einladung zum Mittagessen natürlich.
Gemeinsam mit dem Gast aus Novosibirsk weilte der deutsche Boogie-Woogie-Pianist Axel Zwingenberger in Ulan-Ude und gab ein Solokonzert. Einen Tag davor bekam ich einen Anruf einer Dame von der Philharmonie mit der Bitte um Bereitstellung eines Deutsch-Studenten als Übersetzer während der Probe, worauf ich erklärte, dass ich diese Aufgabe auch gern selbst übernähme. Axel Zwingenberger hat ein fleischiges Genießergesicht mit roter Haut und dicken Lippen, halblange, fast die Augen bedeckende graue Haare, einen schwarzen Anzug und zitronenfarbene Schuhe, mit denen er beim Spielen auf den Boden trommelt. Mir erschien das, was der Pianist im anderthalbstündigen Konzert am Steinway-Flügel veranstaltete, von schwer zu überbietender Genialität. Sein Freund, der Konsul, sei auch ein fantastischer Jazz-Pianist, sagte der Künstler am Ende und bat den Diplomaten auf die Bühne, der zur großen Verwunderung aller einige Minuten lang nicht minder virtuos über die Tasten fegte.
Leider, sagte Axel Zwingenberger, als er sich nach dem Konzert von mir und meiner Frau verabschiedete, leider müsse er morgen schon weiter nach Irkutsk zum nächsten Konzert fahren und könne unmöglich viel Gepäck mit in den Zug nehmen, ob er der Dame nicht die ihm überreichten Blumen verehren dürfe? Auf diese Weise bekam Niso von einem berühmten deutschen Boogie-Woogie-Pianisten einen Strauß gelber Chrysanthemen geschenkt.
Sie könne sich nicht vorstellen, dass sich der Rektor für die Intensivierung der Kontakte zu Deutschland einsetze, meinte die Lehrstuhlleiterin ein paar Tage später zu mir. Jedenfalls habe der Generalkonsul mit seiner nachdrücklichen Art des Fragenstellens bei ihm eher einen negativen Eindruck hinterlassen.

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